«Am Schluss sterbe ich trotzdem», sagt Zack Logan. Bis es so weit sei, sollten wir ihn begleiten. Eine Reportage bis zum Tod
1 – Anfang und Ende
An einem Samstag im Oktober 2022 findet in einem Dorf im Zürcher Unterland eine Feier statt, für die es keinen Namen gibt.
Am Dorfrand dringen Stimmen durch die braunen Wände eines Häuschens, in dem einst Wein gekeltert wurde. Eine Wolke aus Gekreische und Gelächter, so wie es sich gehören würde für einen Ort, an dem normalerweise Vereine und Familien Partys feiern.
Am Strassenrand parkiert: Autos, die Fenster nicht hochgefahren. Eine sorglose Welt.
In der ehemaligen Kelterei sind Tische zusammengestellt, mit weissem Papier gedeckt, mit Schälchen voller Gummibärchen und Chips belegt, an der Wand stehen Papiersäcke mit Nachschub. Es hat Kuchen, einen Tisch mit Salatbuffet, und dann steht da eine Leinwand, auf der später Fotos erscheinen, nach denen die Gäste mal laut lachen, mal schweigen werden.
Es sind da: eine Mutter, sie lächelt, füllt Schälchen, begrüsst Leute, führt sie zum Getränkelager; ein Vater, gross, distanziert, mit ernstem Blick; ein weiterer Mann mittleren Alters mit Augen, die trauern; und ein junger Mann, 24 Jahre alt, ein Käppli tief in die Stirn gezogen, in der einen Hand einen Plastiksack, in einen Stuhl gekrümmt.
Das ist Zack.
Für ihn findet diese Feier statt. Er hat erst vor wenigen Wochen dazu eingeladen, so kurzfristig, dass in der Schweiz normalerweise niemand Zeit finden würde. Aber für Zack sind sie alle gekommen, zwei Freunde haben kurzerhand Flüge gebucht, sind aus den USA und Südafrika eingeflogen, noch an diesem Abend fliegen sie zurück.
Jetzt sitzen sie neben Zack, seine Hand krallt sich um den Plastiksack, die andere hält sein Handy, und er swipt durch Fotos von seiner letzten Reise.
Anfang Monat war er noch zwei Wochen weg gewesen, hatte einen Freund in Seoul besucht und war allein nach Vietnam gereist. Es war nicht sein erster Besuch, aber definitiv sein letzter.
«Siehst du, Bro, 125 cm3, da bin ich hintendrauf gesessen.»
«Krass, Bro, krass. Dort hocken sie ja fast auf dem Gleis!»
«Ja, voll! Das war mitten in Hanoi! Mitten in der Stadt. Und dann fährt ein Zug durch mit 50 km/h. Zehn Tage bevor ich da war, hat der Zug einen Mann voll getroffen, der wollte auch ein Foto von sich und dem Zug machen, war aber kein Tourist!»
«Alte, huere krass!»
Zack erzählt von Ho-Chi-Minh-Stadt und Reisfeldern, wie arm die Leute dort waren, wie glücklich ihn die Reise gemacht hat.
«Schau, hier, da fahren sie . . .» Er bricht den Satz ab, hält sich die Faust vor den Mund, bückt sich, streckt das Handy von sich weg. Er will den Satz noch beenden, aber er schafft es nicht. Seine Mutter eilt herbei, sie geht neben ihm in die Hocke, er hält sich den Plastiksack vor den Mund, neben ihm steht nun auch der Mann mit den trauernden Augen, es ist sein Arzt, Luc, der eigentlich nicht hier wäre, wäre das eine normale Arzt-Patienten-Beziehung. Aber Luc sagt: «Es gibt nur einen Zack in meiner Karriere. Und es wird nur einen Zack geben.»
Es ist das letzte Fest, das Zack feiern wird. Sein Abschiedsfest. Zack will keine Beerdigung, auch seine Eltern nicht, die Logans sind Atheisten, aber irgendetwas muss man ja trotzdem machen, und sei es nur für die Angehörigen, dann, wenn man stirbt.
Fünf Jahre lang hat Zack gegen den Krebs gekämpft. Vor einem Jahr wurde klar, dass er den Kampf verlieren würde. Seit ein paar Wochen hangelt er sich von Tag zu Tag.
Zack sagt, er finde die Situation ungerecht. Aber nicht für ihn, sondern für die anderen. «Ich habe immer das Gefühl, dass ich einen taktischen Vorteil habe, weil ich mich schon seit fünf Jahren mit dem Tod beschäftige. Tagein, tagaus. Und darum meinen Frieden gefunden habe. Aber für andere ist es einfach so: ‹Tschüss zäme, ich bin dann jetzt gleich weg.›»
Zack redet einfach so leise vor sich hin: «Ich wünschte vor allem, dass sie wissen, dass ich froh bin, gehen zu können.» Er macht eine Pause und sagt. «Also nein, ich bin nicht froh, zu gehen. Ich bin froh, befreit zu sein von dieser Situation.»
Wenn Zack spricht, macht er zwei Arten von Pausen. Solche aus Erschöpfung. Und solche, in denen er zu realisieren scheint, dass er eigentlich auch das genaue Gegenteil glaubt von dem, was er gerade gesagt hat.
Bin ich froh zu gehen? Oder gar nicht froh? Ist der Tod Erlösung – oder doch einfach eine Niederlage?
Zack will, dass es das eine ist. Eine eindeutige Antwort, eine klare Geschichte. Aber er ist so klug, und er hat sich so stark mit diesen Fragen auseinandergesetzt, dass er weiss: Im Leben ist alles immer beides.
Fünf Jahre Krebs. Den ersten Tumor hat die Mutter getauft. Zack ist politik- und geschichtsbesessen, das Böse habe daher nur einen Namen tragen können: «einen Nazi-Namen», sagt Zack. «Aber ja keinen Namen, der nach einem effizienten, pflichtbewussten Nazi klingt . . . wie . . . Heinrich! Der gewinnt noch. Wir nannten den Tumor Manfred, wie so ein fetter, fauler Nazi. Gegen Manfred kann ich gewinnen, gegen Himmler oder Rommel nicht.» Zack hat Manfred tatsächlich besiegt. Den zweiten Tumor tauften die Logans nicht mehr.
Die fünf Jahre Krebs waren aber mehr als ein Feldzug gegen einen fetten und faulen Feind. Für Zack war es eine Jagd nach dem Leben. Ein Versuch, so viel wie möglich in die Zeit hineinzupacken, die ihm bleibt. Ohne zu wissen, wie viel Zeit das überhaupt sein wird.
Jedes Leben endet. Die meisten von uns verdrängen dieses Wissen. Manchmal, etwa wenn ein uns naher Mensch stirbt, wird uns das bewusst, wie wenn ein Blitz den Horizont kurz erleuchtet. Aber es bleibt meist eine schwache Mahnung in einer Welt voller Verdrängungsoptionen. Wetterleuchten, aber kein Gewitter.
Zack hat fünf Jahre lang nicht verdrängt. Er wollte gehen können ohne Gram und Bedauern. Also hat er den Tod studiert, von allen Seiten. Manchmal schien es, als wollte er ihn besiegen, indem er sich mit ihm anfreundet.
2 – Die Mail und das Haus
Wer würde das tun, solch eine Mail schreiben? «Natürlich Zack», sagen seine Freunde. «Sooo Zack», sagt die Mutter, sie lacht dabei nervös und verdreht die Augen. «That’s Zack», sagt der Bruder trocken auf Englisch, der Verkehrssprache der Familie. Aber auch er lächelt, vielleicht ein wenig stolz.
Zack hatte die Mail im Dezember 2021 verfasst, in einer Nacht, «in der ich den Tod fühlte, spürte, es kommt nun auf mich zu». Er speicherte sie zunächst im Entwurfsordner. Erst als die Ärzte bestätigten, dass es bei weiteren Therapien nicht mehr um Heilung gehe, sondern um Aufschub, schickte er sie ab. Das war am 22. Februar 2022.
Die Mail hat er an die Leserbriefadresse der NZZ geschickt. Von dort gelangte sie zu mir.
In dieser Mail stellt sich Zack vor, 23 Jahre alt, Student der Wirtschaftschemie und Krebspatient. Er rekapituliert seine Krankheitsgeschichte und schreibt dann, dass er nun zum wiederholten Mal eine Chemotherapie begonnen habe, um das Wachstum neuer Tumore zu hemmen. Aber dieses Mal sei etwas anders.
«Die Prognosen sind nicht gut, und ich weiss nicht, wie viel Zeit ich noch haben werde. Trotz allem bin ich motiviert und zuversichtlich und versuche, so gut, wie es geht, Wirklichkeit zu gestalten. Ich gehe immer noch zur Uni und arbeite auch nebenbei 40 Prozent im Büro eines KMU.
Ich bin aber auch manchmal ein bisschen überfordert. Meine eigene Mortalität beschäftigt mich sehr, und ich setze mich auch seit Anfang damit auseinander. Ich weiss nicht, ob es mir helfen wird, aber ich wollte fragen, ob Sie vielleicht einen Artikel über mich und meine Situation machen und mich bis zu meinem Tod begleiten könnten. Ich fühle mich oft einsam, und es fällt mir schwer, mit meinen Freunden über den Tod zu reden. Ich wünsche mir, dass es vielleicht mehr Infos über den Prozess gäbe und Artikel, die zeigen, wie es ist, mit dem Tod im jungen Alter konfrontiert zu werden und ihn zu akzeptieren. Ich finde, wir leben in einer todscheuen Gesellschaft, wo der Tod verschwiegen wird, als ob es ihn nicht gäbe. Ich würde mich über eine Rückmeldung sehr freuen und bin auch offen für Fragen.»
Anfang März 2022 sitze ich in einem Dorf im Zürcher Unterland an einem Esstisch. Der Tisch steht in einem offenen Raum, Küche mit chromiger Sodastream und Siebträgermaschine auf der einen Seite, Stube mit Ecksofa und flachem Fernseher an der Wand auf der anderen. So ordentlich wie auf Fotos des Inserats einer Modellwohnung. Ein Garten, hohe Hecken, ein makelloses Zuhause für eine vollkommene Familie, seit dem Krebs aber auch eine Art Burg.
Die Logans wurden aus Zufall eine Familie. Der Vater ist Engländer, die Mutter das Kind einer Indonesierin und eines Schweizers, aufgewachsen ist sie in den USA. Die Eltern lernten sich auf einer Insel vor Singapur kennen. Sie waren 23.
Für beide war ihre Beziehung auch ein Versuch, etwas zu erschaffen, was sie selbst nie erlebt hatten: Glück in der Familie. Mit dem Schweizer Vater hatte die Mutter keinen Kontakt mehr. Als sie 24-jährig Zack zur Welt brachte, rief ihr Vater ins Spital an und sagte: «Was hesch gmacht.» Eine Frage war das nicht.
Umso mehr Liebe gaben Zacks Eltern sich und der Familie, die sie schufen. Zack wird oft von der Beziehung seiner Eltern reden. Eine reine, starke, unerschütterliche Liebe, sie ist ihm Vorbild und Schutz, aber sie wird auch zum Fluch, als er selbst irgendwann nach der Liebe sucht.
Wir sitzen allein da, die Eltern seien im oberen Stock, sagt Zack knapp. Ein weisses Gesicht, mit klaren Linien gezeichnet, Augen wie Knöpfe im Gesicht, ein Käppli, tief ins Gesicht gezogen, das ihn kindlicher, aber auch abstrakter, ja fast härter wirken lässt.
Erst viel später werde ich Fotos von Zack vor der Krebserkrankung sehen, ohne Käppli, mit Haaren, dunkel und dicht.
Er erzählt bei unserem ersten Treffen sein ganzes Leben, wie ein Drehbuch, erster, zweiter, dritter Akt. «Das, was jetzt kommt, ist eigentlich ein vierter Akt», sagt er. Er meint das Sterben. Dann lacht er.
Das ist typisch Zack. Er kommentiert sein Leben laufend mit Witzen, die im ersten Moment lustig sind und dann kurz brennen. Wie selbstgebrannter Schnaps, der denjenigen, der ihn auftischt, kaltlässt, aber den Gast kurz betäubt.
Als wir später einmal in einem Restaurant die Speisekarte studieren, zögert er, ob er sich den Burger oder doch das riesige T-Bone-Steak gönnen soll, und entscheidet sich dann kurzerhand für den Fleischbrocken, worauf er sagt: «You only live once, enjoy it while it lasts.»
Er lacht dann jeweils, nicht entschuldigend, sondern wie jemand, der den Witz wirklich lustig findet. Er weiss, dass das viele irritiert. Ihm fehle der Filter, er spüre nicht mehr, was für andere zu viel sei, weil für ihn selbst vieles, was eigentlich abnormal sei, Haarausfall, eitrige Wunden, Atemnot beim Spazieren, normal geworden sei. «Ich sehe es dann an den Reaktionen. Wow, krass, was du sagst.»
Manchmal wird sein Humor ätzend, seine Stimmung schwankt, wie bei vielen jungen Menschen, die einen Platz in der Welt und einen Weg in die Zukunft suchen. Nur dass Zack keine Zukunft mehr sucht, sondern die Gegenwart dehnen will.
Das geht nur mit System. Er hat seine Geschichte nicht nur wie ein Theaterstück in Akte strukturiert, sondern auch vermessen und überprüft. Seit seiner Krebsdiagnose hält er in einer App auf seinem Handy fest, wie gut jeder einzelne Tag war. Die meisten Tage waren gut. Sehr gut sogar. Tagebuch schreibt Zack auch. Gelegentlich. Schon seit er 16 ist. Empfehlen würde er es trotzdem niemandem. Er schreibe nur, wenn es ihm schlechtgehe. «Wer das liest, würde denken, ich hätte ein himmeltrauriges Leben gehabt. Aber das stimmt überhaupt nicht.»
Aber wenn ich wolle, dürfe ich es lesen.
Zack erzählt seine Geschichte wie ein Bildhauer, der nicht aufhören kann, an seiner Statue herumzumeisseln, immer eine weitere Stelle findet, die er noch etwas präziser herausarbeiten will. Und so wird er mir jedes Geheimnis, jeden beschämenden Gedanken und jede vermeintlich peinliche Episode in seinem Leben beichten. Die Skulptur soll perfekt sein. Aber Perfektion bedeutet für Zack nicht Makellosigkeit, sondern Ehrlichkeit. Vielleicht auch, weil das bedingt, dass er sich komplett von der Reaktion der Zuschauer löst. Es ist sein Leben, seine Geschichte, egal, was andere denken. Ein Versuch, ein letztes Mal die Kontrolle zu behalten.
Das Leben hingegen ist unkontrollierbar. Vor der Diagnose war Zack als Grenadier ausgehoben worden, weil er einen totalen Umbruch gesucht hatte. «Den habe ich eigentlich auch erhalten. Einfach anders als geplant.» Wieder lacht er.
Das Treffen hatte mir Angst gemacht. Wie viel Tod, auch wenn es der eines Fremden war, würde ich in meinem Leben wollen? Und wie viel Trauer würde das in mir auslösen? Aber dann sass ich da und hörte Zack zu, und nach ein paar Stunden sagte ich, dass ich ihn begleiten würde, bis er sterbe.
Am Ende dieses ersten Treffens beichtet mir Zack etwas. «Meine Eltern sind nicht an Bord.» Sie möchten anonym bleiben und wollen nicht, dass Zack als «der Krebsjunge» in der Zeitung erscheint. Alle Namen in dieser Geschichte wurden deshalb geändert.
Es ist ein unangenehmer Moment. Ich sitze am Esstisch der Familie Logan und erfahre, dass Hausherr und Hausherrin mich gar nicht hier haben wollen. Die Eltern seien im oberen Stock, sie wüssten aber, dass ich hier sei, sagt Zack.
Ob ich mich zumindest vorstellen dürfe, frage ich ihn. «Glaube nicht, dass sie das wollen», murmelt er, aber dann verschwindet er. Nach ein paar Minuten kehrt er mit seiner Mutter zurück. «Schwierig mit dem Vater», sagt er knapp. Es wird schwierig bleiben. Aber der Vater wird trotzdem immer anwesend sein. In den Erzählungen von Zack und bei meinen Besuchen meist oben im Büro. Zu sehen bekomme ich ihn erst ganz am Ende.
Amélie, die Mutter, entschuldigt sich, sie wolle mich nicht vor den Kopf stossen, ich sei sicher ein guter Journalist, aber die Situation überfordere sie. Sie möchte nicht von Fremden auf den Krebs angesprochen werden. Und Zacks Bruder Charlie solle in der Schule nicht einfach der Bruder des Krebsjungen sein. «Nur meine engsten Freunde und mein Chef bei der Arbeit wissen, dass er nun terminal Krebs hat, ich habe es sonst niemandem gesagt. Ich brauche das nicht, diese mitleidigen Blicke.»
Der nahende Tod hat den Freundeskreis der Logans umgewälzt. Amélie sagt, als Eltern eines Krebspatienten verliere man Freunde. Viele könnten nicht damit umgehen, sie verstehe das. «Wenn mir früher jemand vom Tod eines Angehörigen erzählt hat, wusste ich auch nie, was ich antworten sollte.»
Weiss sie es jetzt?
«Nein. Keine Ahnung.»
Dafür gewannen sie neue Freunde, und manche Freundschaften wurden umso stärker. Amélie ist seit 16 Jahren mit ihrer Nachbarin befreundet, nun wird ihre Wohnung auch eine Art Zufluchtsort. Als ich Amélie ein paar Monate später interviewe, treffen wir uns in der Stube im Haus nebenan. Amélie will nicht mit mir bei sich zu Hause über den Krebs reden. Deswegen kommt sie oft hierher. Hierhin will sie auch flüchten, falls sich Zack entscheidet, zu Hause mit Medikamenten von Exit das Leben zu beenden. Natürlich will sie bei seinem Tod dabei sein. «Aber ich will nicht zuschauen müssen, wie sie ihn in einem Sarg aus meinem Haus tragen.»
Bei der Nachbarin wartet auch die Urne. Amélie hat sie bereits gekauft. Sie wollte sie nicht überstürzt im Chaos nach dem Tod auswählen müssen. Ein Akt der Kontrolle in einem Leben, das unkontrollierbar geworden ist.
Zack hat die Urne für gut befunden. Wo sie später stehen wird, weiss Amélie noch nicht. Sie würde sie gerne in den Garten stellen, zwischen die Blumen. Der Vater will darüber noch nicht einmal nachdenken. Dass sie überhaupt schon gekauft wurde, erscheint ihm, als ob man den Tod vorwegnehmen würde und die Ordnung der Dinge störte.
Bevor ich das Haus der Logans zum ersten Mal verlasse, sagt Amélie etwas, das mich nicht mehr loslassen wird: «Weisst du, was ich das Schlimmste finde, wenn man im Alter von 19 Jahren eine solche Diagnose erhält? Du begreifst, was im Leben noch kommen könnte, was es bieten würde – aber du hast davon noch fast gar nichts gehabt.» Dann sehe ich sie zum ersten Mal weinen.
Aber Zack wird nicht sterben, ohne gelebt zu haben. Er wird mehr vom Leben erhalten, sich mehr vom Leben nehmen als ein normaler 24-Jähriger, vielleicht auch mehr als viele deutlich ältere Menschen. So hat er sich das vorgenommen.
Auf einer Reise habe er gelernt, dass Zeit «absolut relativ» sei. Zwei Monate sei er weg gewesen, und er könne jeden Tag davon nacherzählen. Zwei Monate, die sich anfühlten wie ein ganzes Jahr. «Es geht nicht darum, wie viele Jahre du lebst, sondern darum, wie viele einzigartige Erinnerungen du sammelst. Je mehr du hineinquetscht, desto länger fühlt sich die Zeit an.»
Das klingt viel zu abgeklärt für einen 24-Jährigen, der stirbt, denke ich in solchen Momenten. Aber auch ich werde irgendwann sagen: That’s Zack. So ist er halt.
3 – Alter und neuer Zack
Im Februar 2022 sagen die Ärzte noch 5 bis 15 Monate – auf Zacks Nachfrage, und etwas widerwillig, eigentlich finden sie selbst eine solch vage Prognose unseriös. Was kommt nun noch?
Seit vier Jahren stellt sich Zack diese Frage jeden Tag. Vier Jahre lang, solange er noch auf eine Heilung hoffte, lebte er mit Mindesthaltbarkeitsdatum und unklarem Ablaufdatum. Krebs sei selten endgültig besiegt, erklärt Zack, der Chemiestudent. «Krebs ist ein Rennen gegen die Evolution, gegen die natürliche Selektion. Ein sehr starkes Konzept, finde ich.» Eine Chemotherapie töte zwar die meisten Zellen, aber möglicherweise überlebten ein paar starke Krebszellen trotzdem. «Man züchtet eigentlich immer den nächststärkeren Krebs. Irgendwann gibt es halt keine Chemotherapie mehr, die wirkt. Und . . . nun . . . dieser Punkt ist jetzt. Jetzt geht es nur mehr darum, mir etwas Zeit zu geben.»
Das war einmal anders.
Als Zack im September 2017 zum ersten Mal seinen Tumor ertastet, denkt er nicht an Krebs. Er steht unter der Dusche, die Verhärtung im Gesäss? Vielleicht vom Krafttraining. Auch der Hausarzt glaubt an einen Abszess, drei Monate lang, und so wächst der vermeintliche Abszess und wächst, bis die Ärzte ihn am 6. Dezember rausschneiden. Operieren erst am Nachmittag, bitte, entscheidet Zack, am Morgen hat er noch eine Prüfung im Schwerpunktfach Biologie, Thema: Krebs.
Nach der Operation sagen die Ärzte im Spital: «Das Ding war fest, nicht flüssig. Merkwürdig. Wir biopsieren.»
Zack sagt, in dem Moment hätte er es wissen müssen. Die Biologieprüfung zuvor, der Blick der Ärztin, das MRI am Tag darauf – wieso liege ich hier? War doch nur ein Abszess, oder ist es etwa . . .? Aber nein, ich bin 19. Unmöglich. Doch nicht ich.
«Der Chefarzt hatte einen Todesblick in den Augen», sagt Zack heute. «Es war den Ärzten unangenehm», sagt seine Mutter.
Fünf mal acht mal dreizehn Zentimeter gross war der Tumor. «Scho en Chlompe», sagt Zack; «Stadium III», sagen die Ärzte. Auch weil Krebszellen bereits in die Lymphknoten gestreut haben. Ergibt eine Überlebenschance von 30 bis 40 Prozent. Ihn habe das damals gar nicht interessiert, eher seine Eltern. «Für mich war klar, scheissegal, wie viel Gift ich nehmen muss, ich werde alles machen, bis ich wieder gesund bin, ich gehöre zu den 30 bis 40 Prozent, keine Frage.»
An Weihnachten 2017 beginnt Zack die erste Chemotherapie. Eine Woche Chemo im Spital, zwei Wochen Erholung, das Ganze neun Mal. Dann Bestrahlung, sechs Wochen lang brennt es «wie ein deftiger Sonnenbrand». Der Tumor wächst gleich hinter dem After, irgendwann braucht Zack einen Sitzring.
Der Vater sagt, er werde ihn wecken, jeden Tag, damit er zur Schule gehe, solange er könne. Zack mault: «Ich habe Krebs, lass mich in Ruhe.» Aber im Sommer 2018 macht Zack die Matura.
Zack vor dem Krebs und Zack mit dem Krebs müssen zwei verschiedene Menschen gewesen sein. So erzählen das alle, die ihn kennen. Der Zack vor dem Krebs war nicht unbedingt die bessere Version.
Der alte Zack war schwierig. «Ein anstrengendes Kind, das viel log», sagt seine Mutter. «Keine Lebensfreude, sehr düster», sagt ein Freund. Ein anderer: «Zack war sehr unglücklich.» Sein jüngerer Bruder sagt: «I now can see the dark holes he was in.» Zack selbst sagt: «Ich war verloren, völlig verloren.»
Zack sagt, er sei ins Fitness gegangen, weil er unsicher gewesen sei. Mit Frauen. Mit Kollegen. «Ich wollte breiter sein und noch breiter.» Dabei sei das gegen seine Natur. Er sei gebaut wie sein Vater. «Velofahrer, mein Körper ist für Ausdauer gemacht.»
Wenn Zack von dieser Zeit vor dem Krebs erzählt, wirkt das zwar reflektiert und ehrlich, aber er ist so hart mit seinem jüngeren Ich, dass ich ihn manchmal schütteln und schelten möchte. Du warst jung, wir waren alle unsicher und naiv und dumm. Aber jedes Mal, wenn ich Partei ergreifen und Zack korrigieren will, zögere ich. Wieso steht es mir zu, die Geschichte, die er von sich erzählt, zu korrigieren, wenn sie doch womöglich einen Zweck erfüllt, den ich nur erahnen kann: ihn zu schützen und seiner Krankheit einen Sinn zu geben, der ihn vielleicht am Ende in Frieden gehen lässt.
Im Sommer 2018 ist der alte, mit dem Leben hadernde Zack noch dominant. Er quält sich mit der Frage: Wieso ausgerechnet ich? Und die erste mögliche Antwort schmerzt.
Nach der Krebsdiagnose sagen die Ärzte zuerst, Umweltfaktoren könnten für die Erkrankung verantwortlich sein. Seine Eltern suchen eine Erklärung. War es etwas in der Luft oder etwas, das er zu sich genommen hat? Eine bösartige Erkrankung des Muskelgewebes – vielleicht waren es «diese verunreinigten Substanzen», die er für das Muskelwachstum im Fitness genommen hat?
Amélie, die Mutter, sagt heute: «Sein Vater war immer dagegen gewesen, dass Zack diese Mittel nahm. Wenn er eine Packung fand, warf er sie fort.»
Zack sagt: «Ich versteckte die Mittel in der Schule im Spind.»
Dann sagen die Ärzte: «Die Fitnessmittel haben nichts mit dem Krebs zu tun.»
Die Mutter sagt: «Natürlich glaube ich den Ärzten. Aber der Krebs muss doch irgendwoher kommen? Ich frage mich immer wieder: Habe ich nicht genug gemacht? War es etwas, das wir falsch gemacht haben in der Erziehung? Etwas muss doch schuld sein.»
Zacks Krebs ist selten. Drei von hunderttausend Menschen erkranken jedes Jahr an Weichteilkrebs. Vermutlich aufgrund einer zufälligen Zellmutation. Aber die Evolution ist ein schlechter Bösewicht. Schuld zu haben, wäre in dieser Situation nicht mehr nur ein Problem, sondern eine Lösung. Ein statistischer Zufall verwandelte sich so in eine vermeintlich sinnhafte Erzählung.
Zack sagt: «Ich wusste, ich kann nichts dafür, aber trotzdem war da dieses starke Gefühl: Irgendetwas stimmt nicht, ich muss etwas ändern, meine Weltanschauung, meine Umgangsweise, ich muss mich in Ordnung bringen.»
Die Selbsterzählung Zack Logans ist voller Prüfungen. Und tatsächlich reihen sich in diesen ersten drei Akten Zufälle und Schicksalsschläge aneinander, als ob hier ein Ungläubiger von einem Gott zum Glauben geprügelt werden sollte.
Die Chemotherapie und die Bestrahlung wirken, der Tumor kann entfernt werden. Aber zugleich entfernen die Ärzte auch einen Teil des Schliessmuskels. Seither lebt Zack mit einem Stomabeutel, der den Stuhl auffängt. Den 19-Jährigen quält das mehr als der Krebs, der zurückkehren könnte, aber in dem Moment erstmals besiegt erscheint. Ein künstlicher Darmausgang, ein Leben lang. Würde sich jemals eine Frau auf so einen Typen einlassen?
Immerhin, die Überlebensprognose ist jetzt «fifty-fifty». Zack versucht zu leben. Er besteht die Matura, findet eine temporäre Stelle in einem Büro und geht zum ersten Mal allein reisen. Nach Japan und Korea, zwei Monate lang.
Die erste Reise ist für viele lebensverändernd. Es ist ein Unterschied, zu wissen, dass es da draussen noch eine andere Welt gibt, die voller Möglichkeiten ist, und diese Welt selbst zu erfahren. Zack sagt, nichts habe sein Leben so geprägt wie diese zwei Monate in Japan und Korea. «Ausser der Krebs, natürlich.» Aber der schien ja besiegt, als er überall Freunde fand und Lebenswege kennenlernte, die ihm zeigten, dass so viel mehr noch möglich sein wird als einfach ein Dasein im Zürcher Unterland. Zum Beispiel Nick, ein schwarzer Amerikaner, 40 Jahre alt, der mit 15 nach Japan zog, weil sein Vater auf der Militärbasis stationiert war; oder Daniel, ein junger Amerikaner, der in Seoul lebte, weil, ja, wieso auch nicht. Wo immer Zack reist, sammelt er Freunde. Bis zu seinem Tod wird er immer wieder von Japan und Korea erzählen, jedes Mal noch detaillierter. Eine verbale Chemotherapie, die die Krankheit in Schach halten soll. Solange Japan existiert, gibt es auch Zack.
Dann, im Herbst 2019, kehrt der Krebs zurück. Ein grosser Tumor mitten im Bauch, der sich um die Aorta geknotet hat. Wieder folgen wochenlange Chemotherapie und Bestrahlung.
Zwölf Stunden operieren die Ärzte, ersetzen die Aorta mit einer Kunststoffprothese. Aber sie müssen dabei eine Vene opfern, die ins Bein führt. Wenn Zack zu lange geht, staut sich das Blut. Zack ging gerne wandern. Jetzt muss er alle 150 Meter eine Pause einlegen und warten, bis das Blut abgeflossen ist.
Künstlicher Darmausgang, künstliche Aorta, ein Bein, in dem sich das Blut staut – Zack, der Geprüfte, sagt: «Ich kann mich nicht beklagen, wenn ich jetzt nicht den Mount Everest besteigen kann. Ich bin zum Glück viel gewandert, als ich klein war, und habe in meiner Jugend Berge bestiegen.»
Ich frage mich manchmal, ob Zack solche Sätze tatsächlich ernst meint, ernst meinen kann. Es sind Sätze, die ein 80-Jähriger mit einem vollen Leben von sich gibt. Oder hofft Zack, dass wahr wird, was er immer wieder ausspricht?
Der Monat nach der Aorta-Operation wird für Zack der schlimmste seines Lebens. Er sieht das in der App, in der er seine Tage bewertet. Die ersten zehn Tage sind pures Leiden, der Magen, der Darm, er kann nichts essen, nichts trinken. Nach fünf Tagen erbricht er nur noch Magen- und Gallensaft und fragt sich: Was machst du hier eigentlich? Wieso tust du dir das an?
Wochenlang mag er kaum mehr gehen, dann kehrt die Kraft langsam zurück. Und sofort rennt er los, hinaus in die Welt.
Zack kauft ein Interrail-Ticket, Berlin, dann Amsterdam mit einem Kollegen, sie kaufen Pilze und alles, was man so braucht, Gummibärli und Erdbeeren, weil die besonders intensiv schmecken auf dem Trip. Die Pilze sind «orgasmisch». «Ich stand nackt vor dem Spiegel in der Dusche und sah meine Narben und den Stomabeutel. Aber ich ekelte mich nicht, es war einfach nur schön. Das ganze Jahr seit der Diagnose raste durch den Kopf, ich war im Himmel.»
Aber dann folgt wieder ein Jahr mit Chemotherapie, ein Jahr mit Trofosfamid, einer Tablette, die er jeden Tag schlucken muss. Schon bei der Erinnerung daran erbricht er beinahe. «Sich vergiften» nennt er das.
Zack rennt durch diese vergangenen Jahre, er merkt an, dass er dieses Kapitel und jenes noch ausführen müsse. Ich beruhige ihn dann und sage, wir hätten noch Zeit, und frage mich, ob das stimmt. Er nickt. «Aber ich muss dir unbedingt von Lea und von Luc erzählen.»
Luc ist sein Onkologe, aber Luc ist auch einer seiner besten Freunde.
Sein Onkologe als Freund? «Oh, that’s Zack», sagt die Mutter. «Typisch Zack», sagen seine Freunde.
Zack sagt: «Jaaaaaaaaaa. Also, Luc hat eigentlich den Patienten-Arzt-Vertrag gebrochen. Aber er hat mich gerettet.»
4 – Luc
Im April 2022 treffe ich in einem getäferten Zimmer eines kleinen Spitals Luc Rubin, leitender Arzt der Onkologie. Rubin, 50 Jahre alt, hat schmale Lippen und gekräuseltes Haar. Er redet mit einer sanften Stimme, langsam, aber ohne Zögern, so als ob er diese Geschichte für sich im Kopf bereits einmal erzählt hätte.
«Dass die Sprechstunden mit Zack atypisch sein würden, war mir schnell klar. Ich wusste nur nicht, wie atypisch.
Ich lernte Zack bei seinem ersten Rückfall im Herbst 2019 kennen. Wir wussten wegen des Lymphknotenbefalls schon, dass es eine High-Risk-Situation ist. Eine Heilung schien noch möglich, aber die Karten, die eh schon schlecht waren, wurden noch etwas schlechter. Long Survivors sind bei dieser Krebsart selten.
Zack kam gerade von Japan zurück, wo er so viel Gutes erlebt hatte, und dann dieser Hammer. Beim ersten Mal waren die Eltern noch dabei, das ist immer eine spezielle Situation bei jungen Erwachsenen. Man ist ihnen verpflichtet als Arzt, sie sind ja Erwachsene, aber der Patient wohnt oft noch zu Hause, die Eltern sind nahe, man muss auch mit ihnen eine Bestandesaufnahme machen.
Bei den weiteren Terminen kam er allein. Was mir schnell auffiel: dieser riesige Redebedarf. Normalerweise plane ich eine halbe Stunde pro Patient ein. Bei Zack überzog ich masslos. Ich erkannte: Das kannst du nicht abklemmen, du musst einfach zuhören. Natürlich hat das meinen Zeitplan durcheinandergebracht. Ich plante dann jeweils eine Stunde ein. Ich kann das nicht bei jedem Patienten machen, aber es gibt nur einen Zack in meinen Sprechstunden.
Dieses Mitteilungsbedürfnis kam auch mit einem riesigen Schmerz. Daran erinnere ich mich sehr gut, wie verloren er sich fühlte, wie einsam. Es gab oft Tränen in den Sprechstunden. Die Gespräche gingen über das Onkologische hinaus. Bücher, die er gerade las. Endlich jemand, der zuhörte.
Irgendwann merkte ich: Das geht mir näher als beim Standardpatienten. Dieser Schmerz war buchstäblich zu fassen. Da habe ich wochenlang gewerweisst, gehadert. Ich musste mich entscheiden: Grenze ich mich ab? Oder lasse ich ihn wirklich nahe an mein Herz heran? Ich wusste, dass ich mich eigentlich abgrenzen müsste. Aber wie hätte ich das machen sollen? Einfach nach 30 Minuten abklemmen und sagen: Sorry, that’s it?
Ich habe mich mit meiner Frau besprochen. Sie ist Gynäkologin, sie warnte mich: Du kannst nicht sein Freund sein, du bist sein Arzt. Es ist nicht so, dass ich mir das nicht zu Herzen genommen hätte. Aber ich fragte mich: Wenn ich einen Menschen, der in einer solch existenziellen Not ist, in die Schranken weisen muss, was mache ich dann hier als Arzt? Wenn ich einfach dazu da bin, Chemotherapien zu verabreichen, und danach finde, deine Not geht mich nichts an – das kann ich nicht, das will ich nicht.
Zack ist in jeder Hinsicht speziell. Seine Ehrlichkeit, er ist so unglaublich ehrlich mit sich selbst. Dieser extreme Wunsch, mit sich selbst im Reinen zu sein. Andere junge Patienten sind da anders. Ich habe einen Osteosarkom-Patienten mit Metastasen in der Lunge, 19 Jahre alt, der eine ganz andere Coping-Strategie hat. Er sagt: Danke, es geht mir gut, ich mag nicht darüber reden. Verdrängen ist nicht nur negativ. Gerade in einer Situation, in der man eigentlich nichts beeinflussen kann. Als Arzt hat man fast den grösseren Stress, weil man weiss, was noch kommen wird, und denkt: Es ist gut, dass er vielleicht gar nicht alles vor Augen hat.
Zack war ganz anders. Er wollte immer alles wissen. Null verdrängen. Es ist immer ein Balanceakt. Man weiss, die Zukunft ist unsicher, aber man muss versuchen, in der Gegenwart zu leben. Man kann nicht warten, bis alles wieder gut ist. Dann verbringt man den Rest des Lebens mit Warten.
Ich liess Zack dann an mich heran, ich merkte, er muss einfach mal richtig ausreden können. Im Februar 2020 lud ich ihn zu uns nach Hause zum Znacht ein. Das war natürlich eine Grenzüberschreitung. Ich hatte das noch nie gemacht in meinem Leben, einen Patienten einzuladen, ich tauschte mich vorher mit einer Kollegin aus, aber niemand konnte mir etwas raten. Man muss Zack in der Sprechstunde erleben, um das zu verstehen.
Er redete dann bis halb eins am Morgen, dann war er fertig, ausgeredet. Das hat auch mir geholfen.
Ich vergesse manchmal fast, wie es am Anfang war. Dieser Schmerz und seine Verlorenheit.
Ich hatte am Anfang mal einen Traum. Ich war irgendwo im «no man’s land», stockrabenschwarze Nacht, und musste den Weg nach Hause finden. Da traf ich auf eine Gruppe Menschen, in der Gruppe war ein junger Erwachsener. Und der schrie vor Angst. Wo bin ich, wie finde ich den Weg nach Hause? Ich bin aufgewacht und habe an Zack gedacht. Ich träume wirklich nie von meinen Patienten. Ich glaube auch nicht an Eingebungen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, es könnte vielleicht meine Aufgabe sein, ihn aus der Nacht zu führen, den Weg mit ihm zu gehen.
Ein Stück weit gelang das vielleicht auch. Die Therapie, diese Rückfälle, es ging ja eigentlich immer bergab, aber gleichzeitig hat er immer mehr zu sich selbst gefunden. Das habe ich so noch nie erlebt. Manchmal verschlägt es mir die Sprache. Ich habe 80-jährige Patienten, die sich beklagen, sie könnten nun nicht mehr in die Ballettstunde. Und 85-jährige, die sich noch nie ernsthaft mit dem Gedanken auseinandergesetzt haben, dass das Leben endlich ist.
Es ist ja auch nicht so, dass ich nur gebe. Es gibt keinen Patienten, der mich so beschenkt hat. Ich habe viel von Zack gelernt. Ich hatte schon von Viktor Frankl und dessen Buch über die Zeit in Auschwitz gehört, aber dank Zack habe ich es gelesen, wir haben darüber viel geredet. Über das Konzept, Wirklichkeit zu gestalten. Das thematisiere ich jetzt mit vielen anderen Patienten.
Ich muss jetzt lernen loszulassen. Ich habe ihm gesagt: Was du noch unbedingt machen willst, mache es dieses Jahr. Bald entscheiden wir, ob wir auch die palliative Chemo abbrechen. Es gäbe noch experimentelle Sachen, aber Zack ist therapiemüde. Er ist weit im Prozess des Abschiednehmens, er sagt, er habe keine Angst mehr. Jetzt muss ich ihn loslassen. Das Setting, ich kämpfe an deiner Seite, ich organisiere die nächste Therapie, ist immer einfacher. Ich weiss schon lange, dass wir diesen Kampf verlieren werden, aber das Emotionale ist etwas anderes.
Ich bin gläubig und war vor meiner Zeit hier in einem Missionsspital in Moçambique. Wir wollten vier Jahre bleiben und für Bedürftige da sein, aber wir mussten den Aufenthalt abbrechen. Es fühlte sich wie ein Scheitern an. Dass danach Zack auftauchte, war vielleicht ein Zeichen: Er war zwar nicht finanziell bedürftig, aber seelisch. Zack hat sich immer danach erkundigt und dann irgendwann gesagt, es würde ihn reizen, Moçambique noch zu sehen. Ich dachte, das wäre ein cooles Setting, aber wie sollen wir das planen? Inzwischen habe ich mich damit abgefunden: Wir planen mal, und wenn es klappt, klappt es.
Ich weiss nicht, wie es enden wird. Das weiss man nie. Bei manchen geschieht es aus dem Nichts, in wenigen Stunden. Andere kämpfen noch lange. Aber ich glaube, er wird es gut machen. Ich habe auch Angst davor, wie es sein wird, wenn er weg ist. Es ist ja oft so: Diejenigen, die gehen müssen, sind besser vorbereitet als diejenigen, die zurückbleiben.»
5 – Keine Bucket-List
Wie lässt man das Leben los? Paradoxe Antwort à la Zack: Indem man es lebt.
Zack hat keine Bucket-List, er hat eine Google-Maps-Karte. Bei einem unserer Treffen zeigt er sie mir auf seinem Handy. Sie ist gefüllt mit grünen Punkten, gelben Sternen und roten Herzchen. Die ganze Welt ist gefüllt. Es hat Punkte in Sibirien, in Thailand, in den USA, in Afrika, in der Schweiz. Je mehr man hineinzoomt, desto mehr Punkte erscheinen.
Seit der Diagnose markiert Zack jeden Ort, den er besucht hat. Jedes Café, jedes Restaurant, jeden Park, jeden See, jeden Berggipfel, jede Bar, jede Badi, jeden Grillplatz. Besucht ist ein gelber Stern. Hat ihm der Ort gefallen, gibt es ein Herz.
Die grünen Punkte? Alles Orte, die er noch sehen möchte. Es sind Hunderte, wenn nicht Tausende. Manchmal sitzt er zu Hause und zoomt rein in eine Gegend, von der er noch überhaupt nichts weiss. Kürzlich hat er das mit Rumänien gemacht, jetzt wimmelt es dort von grünen Punkten. Zum Beispiel in Brasov, «megaschöne Architektur, verschiedene Völker, Sachsen, Goten. Und dann war da Dracula! Den fühle ich. Und es ist günstig.» Geld bleibt auch beim Sterben wichtig, Zack hat zwar einen Job und lebt zu Hause, aber gratis sind die Reisen nicht.
Natürlich ist das irgendwie gierig, unersättlich, Zack weiss das. «Ich könnte 500 Jahre leben, und es gäbe immer noch mehr, das ich sehen und machen möchte. Einfach mal ein halbes Jahr nach Nepal und mit buddhistischen Mönchen leben. Oder alles an der Universität studieren, das es gibt. Sogar Kunstgeschichte! Wobei, nein, Kunstgeschichte nicht unbedingt, es gibt nicht genug Bilder, die mich interessieren, damit ich das Studium durchhalten würde.»
Wenn Zack die Karte aufmacht, beruhigt ihn das. Er denkt dann, dass er nicht undankbar sein sollte. Er erkennt, wie viel er schon von der Welt gesehen hat. Und es beglückt ihn, dass er noch neue Punkte setzen kann.
Seine Reiselust wirkt mal wütend, mal fröhlich und ist vielleicht immer beides zugleich. Allein im April 2022 fliegt er sieben Mal. Nach London, nach Istanbul, von dort nach Athen, wenn er zurück ist nach Sizilien, mit der Familie. Die letzten Familienferien. «Ich spüre den Druck, das kommt in Wellen, jetzt ist es extrem.»
Das Reisen gab Zack die Kontrolle über das Leben zurück. Seiner Mutter sagte er einmal: «Wenn ich allein reisen gehe, weiss ich wenigstens, wieso ich einsam bin. Wenn ich hier bin mit Freunden, und wir führen ein banales Gespräch, sie leben ein ganz anderes Leben, mit dem ich nichts mehr zu tun habe, fühle ich mich auch einsam, aber es ist schlimmer, weil ich ja eigentlich mit anderen Menschen bin.»
Einem Lebenstraum fühlte er sich immer ausgeliefert. Machtlos und irgendwann auch hoffnungslos: Liebe lässt sich nicht erzwingen. Er hat es probiert. Im Ausgang mit Freunden in Zürich vor dem Krebs, wieso sonst gingen sie ins Fitness und pumpten sich auf? Oder auch mit dem Krebs in Korea im Ausgehviertel «auf Aufreisstour» mit Expats. Er schämt sich, weil er sich zuerst gefreut hat, wie attraktiv die Koreanerinnen ihn fanden, aber dann merkte, dass sie ihn als exotische Trophäe aus dem Westen begehrten und nicht als Menschen, den sie kennenlernen wollten.
Zack haderte damit. Redete immer wieder mit Luc darüber, wie sehr er sich eine Freundin wünsche. Und wie sehr er sich für diesen Wunsch schäme. «Ich wollte es aus egoistischen Gründen. Ich wollte wissen, wie ich wäre, so als Partner. Das war ein unerlebter Teil von mir.»
Im Frühling 2021 sitzt Zack in der Praxis seiner Psychoonkologin. Er lästert über die Welt, darüber, wie oberflächlich die Menschen seien. Er hadert damit, dass er womöglich sterben werde, ohne geliebt zu haben. Schliesslich sagt er, er möchte die Therapie abbrechen, sie helfe ihm nicht.
Die Psychoonkologin hört zu, und Zack redet weiter. Er stelle sich manchmal eine Frage: Was sein jüngeres Ich denken würde, wenn es wüsste, was das Leben bringen werde. «In dem Moment hatte ich ein Bild vor mir. Ein Bub, ich als 8-Jähriger, der mich anschaute. Er lachte mich an, ich lachte mich an, das war ja ich! Der Bub, also ich, schaute mich null urteilend, nur akzeptierend an. In dem Moment war alle Angst, all der Schmerz verschwunden.»
Zack sagt, er sei nach diesem Erlebnis im Reinen gewesen mit sich. Er habe sich frei gefühlt, leer, und glücklich. «Wenn ich in dem Moment gestorben wäre, wäre das okay gewesen.»
Als er mir das erzählt, bin ich skeptisch. Es klingt so simpel. Ein Erweckungserlebnis, fast schon religiös, keine Maria, die ihm erscheint und ihm vergibt, sondern sein jüngeres Ich. Vielleicht logisch für jemanden, der ohne Glauben an eine höhere Macht aufgewachsen ist. Erlösen kann man nur sich selbst.
6 – Eine Sprechstunde mit Luc (und irgendwie auch Lea)
In der Onkologie des Kleinspitals surrt und knallt und hämmert es. Es wird umgebaut, «das passt», findet Zack, der Kommentator seines Lebens, an diesem Mai-Donnerstag 2022.
Zack ist zurück aus den letzten Familienferien in Sizilien, eine neue Runde Chemotherapie steht an, aber zuvor hat er eine Sprechstunde bei Luc.
Zack sprudelt gleich los: «Eigentlich geht es mir gut . . . aber ich fühle mich so heuchlerisch. Habe es dir schon am Telefon gesagt, vielleicht kannst du es erahnen. Also, ich komme nicht aus dem heraus. Und Lea auch nicht. Ich weiss nicht mehr, was tun. Ich fühle mich doof.»
«Also, wart schnell, jetzt musst du mir helfen», sagt Luc. Lea ist Zacks Freundin. Oder sie war Zacks Freundin. Sie ist es immer wieder, eine komplizierte Geschichte. Luc trommelt mit den Fingern auf den leeren Tisch. «Ich ahne schon, in welche Richtung das geht. Als du mich vor einer Woche aus Sizilien angerufen hast, ging es dir nicht gut. Du sagtest, diese Dreiecksgeschichte mit Lea hältst du nicht mehr aus.»
«Ja, genau! Ich war wütend. Ich fand: Ich muss einen radikalen Schlussstrich ziehen und habe ihre Nummer gelöscht und sie blockiert. Dachte, ich brauche sie nicht mehr, ich schaffe das allein.»
«Also, hast du ihr auch geschrieben oder nur die Nummer gelöscht?»
«Nur gelöscht. Sie hatte mir noch geschrieben, aber ich habe sie fünf Tage ignoriert.»
«Und dann?»
Luc Rubin, Onkologe, Freund, Beziehungs-Coach. Später werden Luc und Zack auch die Dosierung der Medikamente besprechen. Aber wichtiger ist jetzt das Leben. Akuter ist das Herz.
Luc ist dafür ja auch irgendwie verantwortlich.
Wie genau Zack Lea kennengelernt hat, darf ich nicht erzählen, es wäre eine schöne Geschichte, die, wenn man sie in einem Filmdrehbuch schreiben würde, von den Zuschauern kaum geglaubt würde. Aber Lea möchte anonym bleiben. Sie wird auch nie mit mir über Zack reden. Erst nach seinem Tod telefonieren wir einmal, und sie sagt, die Geschichte schmerze sie zu sehr, sie habe sich nicht gut verhalten.
Zack lernt Lea im Frühsommer 2021 in der Nähe der Universität kennen, redet mit ihr stundenlang. Am nächsten Tag sagt er zu Luc: «Ich glaub, ich habe mich verknallt.» Luc ermutigte ihn, Lea zu schreiben. Anfang Juni 2021 hatten sie ihr erstes Date im Irchelpark neben der Uni.
Zack und Lea gingen in die Ferien, Italien. Es war das erste Mal, dass er so etwas mit einer Partnerin, und das erste Mal, dass er so etwas als Partner machte. Zack war glücklich, der Krebs unter Kontrolle. Dann, einen Monat später, spürte er wieder etwas Hartes in seiner Bauchgegend. Der Krebs war zurück.
Ob die Beziehung anders verlaufen wäre, wenn Zack krebsfrei geblieben wäre? Amélie, die Mutter, sagt heute: «Ich mache Lea keine Vorwürfe. Wieso auch? Wer würde nicht davonrennen wollen vor dieser Situation? Ich bewundere jede Frau, die das aushält.»
Zack und Lea werden zu einer On-off-Beziehung, getrennt durch den Krebs, der ihr, so erzählt es Zack, Angst macht, weil sie nach seinem Tod allein zurückbleiben wird. Und dann ist da noch ein Ex-Freund, der nicht sterben wird.
«Oh Mann, als wir von den Ferien zurück waren, habe ich ihr geschrieben, sie hat geantwortet, sie verstehe, wieso ich sie blockiert habe. Wir haben telefoniert, sie ging in den Ausgang, ich war bei Kollegen Monopoly spielen, dann sagte sie, sie sei bei sich zu Hause, um 10 vor 2 am Morgen war ich bei ihr. Und ja . . .» – er wird verlegen – «. . . dann haben wir das ganze Wochenende zusammen verbracht.»
«Und jetzt ist wieder alles gut?», fragt Luc.
«Ja. Aber weil ihr Ex gerade in den USA ist. Wenn er zurückkommt . . . ich weiss doch auch nicht.»
«Kann der Ex sich nicht einfach gedulden . . .», Luc zögert kurz, «. . . bis du weg bist?»
«Jaaa! Habe ich ihr auch gesagt! Sag ihm doch: ‹Zack ist eh nur noch ein paar Monate am Leben. Danach bin ich frei für dich.› Aber ich verstehe ja ihre Angst. Wenn ich weg bin, und sie ist voll auf mich fokussiert, dann ist sie verloren. Ich weiss nicht, was ich machen soll.»
Luc, der hier eines der ungewöhnlicheren Patientengespräche seiner Karriere führt, ist auch ratlos.
«Ich weiss auch nicht, was raten, Zack. Wir haben schon ‹hinderdschi ond vorderschi› darüber geredet. Du musst entscheiden, was du ertragen kannst. Es steht nirgends geschrieben, dass das Leben geradeaus funktionieren muss. Das tut es eh nicht. Wenn es also Kurven macht . . .»
«Ich weiss, ich weiss.» Zack seufzt.
Die erneute Trennung vor Sizilien hat die Familienferien getrübt. Zack war schlecht gelaunt, zynisch und lief manchmal einfach allein in Catania herum, Kopfhörer eingestöpselt und deprimierende Musik am Laufen. Ein Buch von Nietzsche las er auch noch.
Amélie sagt: «Von zwölf Tagen waren zwei gut. Aber vielleicht ist das einfach auch normal bei Familienferien in diesem Alter. Aber weil er bald stirbt, haben alle das Gefühl: Das muss jetzt toll werden. Die letzten Weihnachten, der letzte Silvester, die letzten Ferien – aber so kann man nicht leben.»
Zack hadert damit. Es tut ihm leid für seine Eltern und seinen Bruder. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, endlich einmal mit ihm über seine Prognose zu reden. Zack hat das bis jetzt vermieden. Sein Bruder ist sieben Jahre jünger. Die Familie hat ihn immer vor dem Krebs zu beschützen versucht.
«Hast du es ihm gesagt?», fragt Luc.
«Joa, also, ich habe nicht wirklich direkt mit ihm darüber geredet. Wir hatten es gut, ich gehe mit ihm an ein Konzert diese Woche, habe Tickets gekauft.»
«Aber denkst du, er weiss, wie es um dich steht?»
«Weiss nicht, es ist ähnlich wie bei meinen Kollegen. Die sagen, es sei für sie irgendwie unvorstellbar. Weil ich halt normal aussehe. Eine Kollegin sagte, erst wenn sie mich im Spital sehe, werde es ihr wirklich einfahren.»
«Was löst das bei dir aus?»
Zack lacht. «Ich denke so: Fuck, wenn du wüsstest, was ich habe!» Er schweigt. «Aber ich verarsche mich ja auch selbst manchmal, lebe auch gerne in dieser Illusion, dass alles gut sei. Und gleichzeitig verdränge ich es ja nicht. Ich lese Bücher über den Tod, höre Lieder über den Tod. Ich gehe jetzt dann nach Auschwitz. Ich frage mich einfach manchmal, ob ich den Zeitpunkt verpassen werde.»
«Welchen Zeitpunkt?»
«Um es ihnen zu sagen. Ich habe Studienkollegen getroffen, und die fragten, was der Stand sei. Was soll ich da sagen? Ich erkläre es dann wissenschaftlich, Krebs als Rennen gegen die Evolution, unbesiegbare Superzellen und so was.»
«Das ist schon okay so», sagt Luc.
«Ja, der Kollege sagte dann: ‹Kommt schon gut, ich glaube dran, du schaffst das.› Am liebsten würde ich ihm sagen: Was laberst du für einen Scheiss, Mann. Ich bin am Arsch!» Er schweigt. «Ich weiss ja, dass er es gut meint.»
7 – Auschwitz, Erschöpfung und Besuch in der Hölle
Noch 500 Meter zur Bushaltestelle, sagt Google Maps. Der Bus nach Auschwitz-Birkenau fährt erst in 30 Minuten. Aber für Zack sind diese 500 Meter an diesem zu heissen Frühsommertag im Mai 2022 eine kaum zu bewältigende Distanz. Er setzt sich auf eine Bank im Stadtpark von Krakau. Oben seufzt der Wind durch die Baumwipfel, unten keucht Zack.
Drei Monate ist es her, dass die Ärzte gesagt haben, eine Heilung sei nicht mehr möglich, der Countdown steht bei 2 bis 12 Monaten.
Er hustet, dann atmet er tief ein, beugt sich nach vorne, das Käppli hat er sich fast ganz über die Augen gezogen, er presst sich wieder nach hinten in die Parkbank, hustet erneut, als ob er sich übergeben müsste. «Nein. Nein.» Er macht eine Pause, saugt Luft ein. «Siehst du», sagt er zu mir, «so macht das alles keinen Sinn.»
Am Vorabend war er noch euphorisch gewesen. «Schau, wie schön, wie unglaublich schön! Wirklich beeindruckend», so hatte er die Stadt bejubelt, als wir in der Nacht vom Flughafen ins Stadtzentrum fuhren. Dabei warf er nur kurze Blicke aus dem Tram, er hatte Google Maps geöffnet und speicherte Restaurants und Bars ab. «Ein Sushi-Restaurant gleich neben dem Airbnb, schau! 4,6 Sterne! Und hier ein polnisches Gulaschrestaurant! Und das Burger-Restaurant hat auch Top-Bewertungen.» So gierig, als ob es seine erste Reise wäre, speicherte Zack grüne Punkte auf Google Maps, seinen Reiseplan, die Karte der endlosen Möglichkeiten, die auch sein Vermächtnis werden würde.
Kurz vor dieser Reise hatte er sie bereinigt. Er war die Tausende grünen Punkte durchgegangen, die auf der ganzen Welt mögliche Reiseziele markierten, und löschte, was ihn eigentlich gar nicht interessierte. Und was ihm in der verbleibenden Zeit unrealistisch erschien. «Einigermassen sauber jetzt», sagte er, als er davon erzählte. «Der Tod kommt näher.»
Auschwitz auszulassen, war nie zur Debatte gestanden. Das Konzentrationslager hat ihn seit seiner Diagnose begleitet, ja irgendwie auch durch dieses Zwischenreich zwischen Leben und Tod geführt.
Zack beklagt sich manchmal darüber, dass es keine Anleitung für seine Situation gebe. Das, was einem Handbuch am nächsten kam, war «Man’s Search for Meaning» von Viktor Frankl. Frankl war ein KZ-Häftling, der Auschwitz überlebte. Zack hatte das Buch gleich nach seiner Krebsdiagnose auf Englisch gelesen. Jetzt hat er es auf Deutsch bei sich, der Titel «. . . trotzdem Ja zum Leben sagen» passt ihm besser.
Frankl beschreibt im Buch, wie es ihm gelang, im Konzentrationslager nicht den Verstand zu verlieren. Es ist eine Anleitung dafür, wie man das Leben gestaltet, wenn der Tod jede Sekunde eintreten kann.
Zack erzählte auch Luc vom Buch, und wenn es Zack schlechtging, sagte Luc Sätze aus dem Buch zu Zack zurück.
Zack sehnte sich danach, den Ort zu sehen, der diese Gedanken hervorgebracht hatte. Vielleicht, weil ein Rest Misstrauen blieb, dass man tatsächlich angesichts des baldigen Todes ans Leben glauben konnte.
Er sagt auch, er fühle sich «diesen Menschen» verbunden. Er schämt sich für diesen Gedanken. «Was sie im KZ erlebt haben, ist ja ein ganz anderer Schmerz. Meine Situation ist viel weniger schlimm. Aber wenn ich nach einer Operation allein im Spitalzimmer lag, mit Schmerzen und einsam, dann habe ich schon Kameradschaft gefunden im Gedanken, dass es anderen auch hoffnungslos ging.» Er glaubt, dass es ihm helfen wird, «diese Hölle» zu sehen. «Es gibt mir einen Ruck. Schau dich mal um. Du kannst noch leben, diejenigen, die hier waren, hatten keine Chance, denen ging es viel schlimmer. Get a grip, Zack.»
Vielleicht ist das ein ungesunder Vergleich. Schmerzen und Verzweiflung soll man nicht gegeneinander ausspielen. Das Sterben ist in jeder Situation ein vereinsamender Prozess. Auch wenn Zack Freunde und Familie hat, die ihn begleiten. Den Tod können sie ihm nicht abnehmen.
Vor allem stossen irgendwann auch Freunde und Familie an ihre Grenzen. Amélie sagte mir einmal: «Das klingt sehr hart, aber ich habe es manchmal bis hier oben mit dem deepen ‹meaningful talk› über den Tod und die Bedeutung des Lebens. Manchmal will ich doch einfach zuschauen, wie eine Katze durch den Garten läuft und sagen: ‹Schau, die Katze, so schön, das Licht im Garten.› Aber jedes Mal geht es dann gleich, wruuummm, in dieses intensive Bedeutsame. Und dann fühle ich mich schrecklich. Schliesslich müsste ich doch noch jede Sekunde mit ihm geniessen.»
An der Uni fühle er sich besonders einsam, erzählt mir Zack. Er kann es kaum fassen, dass er unter den 28 000 Studenten der Einzige sein soll, der in dieser vertrackten Situation steckt. «Das kann doch gar nicht sein. Ich habe mir überlegt, so eine Art Todesklub zu gründen. Für Studenten, die bald verrecken.» Nur: Wie findet er die?
Zack suhlt sich selten lange in seinem Elend. Er kann nicht mehr weit gehen – also stellt er sich auf ein E-Trottinett und kurvt so durch die Strassen und Gassen seiner Reiseziele. Auch heute Morgen in Krakau ist er um 10 Uhr aufgestanden und losgefahren. «Peak-Human-Experience» nennt er das.
Aber das ist zwei Stunden her, und zwei Stunden sind in Zacks Welt viel Zeit. Er ist inzwischen schnell erschöpft. Drei Wochen Chemotherapie laugen seinen Körper derart aus, dass er eine ganze Woche braucht, um sich einigermassen vom Gift zu erholen. Er hat dann Durchfall, Brechreiz, kann kaum essen. Und dann folgen schon die nächsten drei Wochen Chemotherapie. «Das lohnt sich so nicht.»
Eigentlich wäre er jetzt gerne nur im Bett in seinem Airbnb, aber «dann versinke ich im Selbstmitleid».
Jetzt, auf der Bank im Park in Krakau, macht er eine «Lebenswertgleichung». Ein hässliches Wort für eine hässliche Rechnung. Von vier Wochen sind drei mit der Chemotherapie ausgefüllt. «Nicht lebenswert.» Dann eine Woche Pause, in der es ihm vielleicht gut geht, vielleicht aber auch nicht. Dann wieder drei unlebenswerte Wochen. Und das alles nur, damit die Tumore einigermassen gleich gross bleiben, komplett verschwinden werden sie nie. «Am Schluss sterbe ich trotzdem.»
In der Ferne heult ein Krankenwagen.
Ich höre mich sagen: «Du könntest ja auch argumentieren: Jede gute Woche lohnt sich.»
Zack sagt: «Ja, aber ich habe genug vom Leben. Nein. Ich habe genug von noch mehr Zeit im Spital. Was ich mache, ist überleben, nicht leben. I am not in the business of survival.»
Dieser düstere Zack klingt wie der Autor eines Selbsthilfebuchs, der sich in einem Selbstgespräch verliert. Denn die Ratschläge, die er ausspuckt, sind entweder zu abstrakt und offensichtlich – oder zu konkret, weil Zacks Situation so einzigartig ist.
Er sagt dann: «Ich möchte noch so viel machen, aber ich bin müde, death can’t come soon enough. Eigentlich möchte ich zwanzig Jahre schlafen. Aber ich will auch alles durchgebrannt haben, jede Sicherung. Ich will, dass ich am Schluss, wenn ich am Ziel bin, keinen Tropfen Saft in mir habe. Dass ich einfach nur froh bin, dass ich noch über die Ziellinie kriechen kann. So fuck yeah, endlich Ruhe, endlich peace forever. Das ist meine Lebensphilosophie. If you do it right, once is enough.»
Und so hieven wir uns in den Bus, der ins Konzentrationslager fährt. Aus Krakau raus, durch eine sanfte Hügellandschaft, kleine einfache Dörfer, die auch in England auf dem Land stehen könnten. Felder, Tankstellen, Kreisel und simple Restaurants. Zack sieht davon nichts. Er döst vor sich hin, manchmal erzählt er von Lea, die er gerne dabei gehabt hätte, aber Geschichte und Politik interessierten sie nicht. «Wir sind schon sehr anders.» Er redet einfach so, ganz langsam, ohne dass ich nachfrage, von den schönsten Momenten im letzten Jahr, «die meisten mit Lea, ja», aber auch in den USA, wo er sich einen Helikopterflug gegönnt hat, «nur 15 Minuten», aber weil er allein war, durfte er neben dem Piloten sitzen. «So intensiv!»
Manchmal erzählt Zack von solchen Erlebnissen, und seine Stimme und die Worte decken sich nicht. Er sagt «intensiv», aber seine Stimme sagt «langweilig». Man kann das Leben dehnen, indem man es mit Erlebnissen und Erfahrungen füllt. Dann versucht man alles noch schneller zu erledigen, Bücher noch flinker zu lesen, noch effizienter und häufiger zu reisen, an einem Tag nicht nur das eine Museum, sondern auch noch den Markt und das Schloss zu besuchen. Der Kopf ist gefüllt, aber wie viel davon kann man überhaupt verarbeiten?
Vor dem Eingang von Auschwitz sucht er plötzlich ganz aufgeregt auf seinem Handy ein Zitat in seiner Notiz-App. «Finde es nicht», murmelt er, dann googelt er lange. «Schau, der Typ, Witold Pilecki, was für eine Legende!»
Pilecki war ein polnischer Widerstandskämpfer, der sich freiwillig in Auschwitz hatte einsperren lassen, um der Aussenwelt zu berichten, was im Lager vor sich ging. Es gelang ihm auszubrechen, später beteiligte er sich am Widerstand gegen die Sowjetbesatzung, schliesslich wurde er hingerichtet. Vor seiner Erschiessung soll er gesagt haben: «I’ve been trying to live my life so in the hour of my death I would rather feel joy than fear.» (Ich habe mein Leben so gelebt, dass ich in der Stunde meines Todes Freude und nicht Angst spüren würde) Zack sagt das Zitat laut auf und seufzt. «Der Typ hat es genau gecheckt! Mit einem Lächeln sterben, das will man!»
Klar wäre es schön, lächelnd zu sterben, denke ich, aber Pilecki fühlte «joy», nicht weil er intensiv gelebt hatte, sondern weil er glaubte, sein Leben habe einem höheren Zweck gedient. Weil er überzeugt war, dass er anderen geholfen hatte und sich sein Tod nun lohnen würde. Es ist ein unfairer Vergleich, aber Zack selbst hat ihn aufgebracht.
Es ist sowieso eine unfaire Situation. Kein 24-Jähriger sollte sich mit solchen Fragen auseinandersetzen müssen.
Bevor die Nazis kamen, war das KZ Auschwitz eine polnische Kaserne. Schöne Backsteinhäuser, Birken, deren Rinde in der Sonne glänzt, und Blätter, die rauschen wie das Meer. Ein schöner Ort, wenn man vergisst, was er war. Wie Zack, dem man selten ansieht, dass in ihm etwas wächst, das ihn töten wird. Das Schöne und das Grauen sind wie Schichten übereinandergelegt.
«Ikonisch», sagt er ganz leise, als er durch das Tor tritt, über dem «Arbeit macht frei» prangt. Er hört der Führerin konzentriert zu, geht oft ganz vorne in der Gruppe, stellt sich, wenn wir anhalten, gleich neben sie. «ThyssenKrupp», «krass, die machen jetzt all die Flugzeugteile». «IG Farben, BASF jetzt, oder?», fragt er.
Er sagt das leise, es ist mehr Selbstgespräch als Kommentar. Die Führerin sagt «Zyklon B», «schönes Molekül», sagt Zack, der Chemiestudent mit dem Körper voller Chemie.
Er wird stiller, als wir die Gebäude betreten. Eine Vitrine, darin türmen sich Prothesen, die die Nazis den Lagerinsassen abgenommen haben. Zack bleibt lange davor stehen. Geht weiter, vor der Vitrine, die mit einem Berg Haare gefüllt ist, krümmt er sich. Ekel oder sein Krebs? Wut, wird er später sagen.
Zacks Mutter Amélie sagt mir einmal: «Ihr, die ihr Zack begleitet, seine Freunde, aber auch du, der ihn nur gelegentlich sieht, kriegt nur die positive Seite, den enthusiastischen Reise-Zack, ab.» Was wir nicht sähen: Zack nach seiner Rückkehr. Ausgebrannt, erschöpft, düster und verzweifelt.
Sie irrt sich. Zack hat diese Schwankungen auch, wenn er unterwegs ist. Sie weiss das eigentlich, weil er sie manchmal anruft, wenn er einsam ist und nicht weiss, ob er zum Beispiel seine kostbare Zeit allein in Südkorea verbringen oder doch schon etwas früher nach Hause zurückkehren soll.
Zack ist immer auf Sendung. Nun, im KZ, ist kurz Sendepause, aber nur, bis wir das Lager verlassen. Als wir uns langsam auf das Tor zubewegen, setzt er seine Echtzeitreflexion fort. Aber nun in einer so düsteren und zynischen Variante, wie ich ihn noch nie erlebt habe.
«Typisch, dass der Kapitalismus schon im Spiel war. So menschlich. Why don’t we exploit them some more.»
Oder:
«Normale Schulhof-Psychologie, einfach der Gruppendruck. Es ist immer der energieaufwendigere Schritt, gut zu sein. Böse zu sein, schlimme Sachen zu machen, das ist einfach. Das Böse, keine Empathie zu haben, das ist der Default-Mode des Menschen.»
Eine Welt zu verlassen, die verkommen und verloren ist, fällt leichter. Ein Freund von Zack sagt mir einmal, dass er Zack in diesen Momenten schwer erträglich finde. «Wir bleiben ja hier auf dieser Welt zurück.» Zack merkt jeweils, dass er sich in etwas reinsteigert. Er korrigiert sich dann, so wie jetzt auf dem Parkplatz vor Auschwitz. «Nein, nein, ich glaube schon nicht, dass der Mensch einfach schlecht ist. Aber es ist einfacher, mitzugehen mit dem Bösen. Und viel schwieriger, dagegen anzukämpfen.»
Vor dem Eingang zum Konzentrationslager Birkenau, direkt neben dem Gleis, auf dem die Juden angekarrt worden waren, stehen E-Trottinetts, daneben ein Bus mit dem Schriftzug «Auschwitz-Birkenau-Auschwitz».
«Das ist ja riiiieeesig! Hätte nie gedacht, dass es so gross ist!» Zack schreit fast. Die Führerin ist weit vorne, wir werden langsam abgehängt von der Gruppe, wir schleichen der Rampe entlang, an der die Lagerärzte die Triage vorgenommen haben. «Ich wäre hier direkt in die Gaskammer geschickt worden», sagt Zack. «Noch nicht mal 80 Jahre her.»
Im Bus zurück nach Krakau redet er nur von Lea. Dass er verstehe, wieso man nicht mit einem Krebskranken zusammen sein könne. Aber er sagt auch: «Ich war immer ehrlich. Sie wusste, worauf sie sich einlässt.»
Zack hadert damit, dass sie ihm vorhalte, er könne ihr nicht alles geben, was sie brauche. «Ich sehe ja auch meine Kollegen, die zusammenziehen, heiraten, Kinder planen. Sie sagte: ‹Ich bin blockiert, ich bin 26, ich kann meine Zukunft nicht angehen, wenn ich mit dir bin.› Ich sagte: ‹Wie soll ich das lösen? Du wusstest doch, wer und was ich bin?›»
«Hättest du dich schon früher getrennt, wenn der Krebs nicht wäre?», frage ich ihn.
«Du meinst, weil ich dann Hoffnung hätte, wieder jemand Neues zu finden? Ja, vielleicht. Aber wenn ich gesund wäre, wäre die Beziehung vielleicht gar nicht erst so kompliziert gewesen. Andererseits wären wir dann auch nicht zusammengekommen. Ich kann den Krebs nicht von mir trennen. Jetzt, hier, vermisse ich sie gerade sehr.»
Am Abend googelt Zack, was er am nächsten Tag vor dem Rückflug noch machen könnte. Es gibt eine Shooting-Range in der Nähe der Stadt. Das wäre spannender, als nochmals durch die Stadt zu spazieren. «Ich habe wirklich genug Kirchen und Schlösser und Burgen gesehen. Es reicht. Ich habe so viele Erfahrungen gemacht, was fehlt noch? Fallschirmspringen. Aber sonst? Irgendwann ist alles Wiederholung. Das meiste ist beim ersten Mal am besten.»
Am nächsten Morgen gehen wir in ein Sushi-Restaurant, das er auf Google Maps entdeckt hat. Er ist aufgewühlt, den Plan mit der Shooting-Range hat er aufgegeben. Er hat stattdessen lange mit Lea telefoniert. Wie es in Auschwitz war, hat sie nicht interessiert. Es ging wieder um ihre Beziehung, «Klartext, endlich», sagt Zack.
Sie habe gesagt, dass sie momentan keine Beziehung möchte, aber sie könnten sich weiterhin als Freunde sehen. «Ich will kein Mitleid oder dass sie bei mir ist, weil ich ihr leidtue.» Aber er hatte gehofft, er würde nicht ohne Partnerin sterben. «Ich habe doch gar nicht mehr genug Zeit, um mich von ihr zu lösen. Fuck.»
Wir fliegen zurück, erschöpft, niedergeschlagen, und verpassen in Basel fast den letzten Zug nach Zürich. Dort sehe ich ihn von mir weghumpeln, langsam, aber stur und unnachgiebig.
Ein paar Tage später ruft er mich an. Er hatte die Besprechung der Chemotherapie mit Luc. Sie schlägt besser an als erwartet. Zack klingt euphorisch, ist voller Pläne: «Vielleicht reicht’s im Herbst noch mit Luc nach Moçambique.»
Ein weiteres Interrail-Ticket hat er sich auch gekauft. Nicht einfach, um weitere grüne Punkte abzureisen. Es soll ihn an die Grenze zur Ukraine führen. Irgendwie logisch, denke ich. Wo ist man dem Tod näher als im Konzentrationslager? Im Kriegsgebiet.
8 – Der letzte Sommer
Wenn es Zack gutgeht, verfällt er in Aktionismus, rast durch die Welt, wo er auftaucht, findet er Freunde. Aber wie ein Komet, der fremde Sonnensysteme durchquert und den Himmel kurz erhellt, verschwindet er wieder.
Wenn es Zack schlechtgeht, ist er ein Schwarzes Loch, ein Stern, der in sich zusammenfällt und die Energie, die ihn umgibt, verschlingt und vernichtet.
Zacks letzter Sommer ist eine dreimonatige Implosion.
Juni: Zack reist nach Brüssel, isst Pommes frites im Restaurant, wo Angela Merkel einst zu Gast war («Sehr gut, 4 Euro, toll das Politische am Restaurant»), trinkt Bier in einer Bar mit 200 Biersorten («Megafein, krasse Auswahl»), in Amsterdam kauft er Pilzli für sich und einen Kollegen, in Bonn besucht er Verwandte, reist mit dem Zug nach Modena, isst dort Gnocco fritto, will nach Wien, falls die Kraft reicht mit Zwischenstopp in Salzburg.
Selbst für einen gesunden jungen Menschen wäre das ein Irrsinnsprogramm. Zack spürt das. «Ich habe einem Freund gesagt, ich sei zu viel am Herumreisen. Ich sagte ihm, Städte, die man nicht ein zweites Mal besuchen würde, lohnten sich auch nicht ein erstes Mal.» Nur: Wie findet man das heraus?
«Ich frage mich, wieso ich das alles noch mache. Auch die Chemo, sie macht mich fertig. Moçambique im Herbst mit Luc, daran halte ich mich fest. Und mein Bruder, meine Eltern, die Zeit mit ihnen.»
Immer häufiger fühlt Zack sich als Bürde. Als ob die Leute am Warten wären, «dass ich verrecke, damit sie mit ihrem Leben endlich weitermachen können. Ich verstehe das.»
Beziehungsstatus: kompliziert. Lea schlief zwei Nächte bei ihm. «Aber wir sind nicht Freundin und Freund.»
9. Juli, eine SMS aus der Ukraine: «Ciao Michael, Grüsse aus der Ukraine, ich hab’s geschafft. Was für ein Abenteuer . . . warte gerade am Bahnhof auf den Zug zurück nach Polen. Kam hier in Lwiw um 1 Uhr morgens an. Da merkte ich, es gibt ja Ausgangssperren von 11 bis 6 Uhr morgens. Habe versucht, den Bahnhof zu verlassen, ein Typ mit oranger Weste hielt mich zurück. Verstand ihn dank der Google-Translate-App. Er sagte, es gebe keine Taxis um die Uhrzeit. Dann sagte er, er könne mir eines besorgen. Dachte, das ist ein Scam, bin dann in den Bahnhof abgehauen . . . dort einen megasympathischen Ukrainer, Iwan, kennengelernt . . .»
16. Juli. Zack bricht die Chemotherapie definitiv ab. Es wird die letzte Chemotherapie bleiben. «Bin zu müde. Habe den Magen nicht mehr dafür. Wenn ich bis Oktober noch hier bin, habe ich genug Zeit, um noch alles zu machen, was ich will.»
Beziehungsstatus: Leas Nummer wieder gelöscht, ein paar Tage nach dem Imagine-Dragons-Konzert und einer Nacht, in der er auf dem Sofa übernachten musste. «Da wurde mir klar: Das ist das erste und letzte Mal, dass ich hier auf dem Sofa schlafe. Jetzt versauen wir alles, was wir hatten. Kollegen und Sofa? Nein.»
22. Juli. Zack ist nach Lecce gereist, spontan, er hat es zwei Tage zuvor entschieden. Eine Flucht, die Blutwerte waren schlecht. Ein Problem mit der Niere. «Aber die Stadt ist der Hammer. So viel Schönheit, die Architektur haut mich weg, ein Kunstwerk!»
Beziehungsstatus: kompliziert. Lea hat ihn zu ihrer Abschlussfeier eingeladen. Die SMS kam aus dem Nichts. Lange Gespräche, dann ganzer Abend bei ihr, Tag in der Badi, die Wochen zuvor nur ein schlechter Traum. «Aber es ist undefiniert. Meine Freundin zu sein, bedeutet so viel Druck, das will ich ihr nicht geben.»
27. Juli. Der erste PET-Scan, seit Zack die Chemotherapie abgebrochen hat. Die Situation ist ausser Kontrolle, ein Tumor zerdrückt den linken Harnleiter. Auch sonst hat der Krebs gestreut. «Luc ist auch überrascht, wie schnell es jetzt geht. Ich werde Weihnachten wahrscheinlich nicht mehr erleben. It’s gonna get ugly.»
24. August. Zack geht zur Bibliothek am Irchel, hat eben noch einen Kollegen aus Australien zum Flughafen begleitet und Tschüss gesagt. «Zum letzten Mal.»
Er will noch eine Prüfung ablegen. Die meisten Kollegen verstehen nicht, wieso er jetzt noch Stunden in der Bibliothek verbringt. Sie hätten das nicht zu Ende gedacht, sagt Zack. «Was soll ich stattdessen machen? Die ganze Zeit Kollegen treffen? Die arbeiten, sind in den Ferien, haben keine Zeit.»
Die Tumore drücken, aber sonst geht es Zack so gut wie schon lange nicht mehr. Die Haare wachsen wieder. Er findet das «bittersüss». Es erinnere ihn an sein «volles Potenzial».
Beziehungsstatus: offen, ruhig. Lea versucht zu verdrängen, Zack versucht nicht die ganze Zeit zu denken: «Ich bin am Sterben, wir sollten noch möglichst viele schöne Dinge zusammen unternehmen.» Zack ist viel bei Lea, lebt jetzt mehr so, wie es ein 24-Jähriger täte, der nicht todkrank ist. «Ich habe einen Beruf, ein Studium, sozusagen eine Freundin, ich würde gerne ausziehen. Aber das ergibt halt keinen Sinn.»
Er könne das jetzt noch aushalten, sagt er. «Der Tod gibt mir auch Stärke. Schliesslich ist es bald vorbei.»
Zack erledigt Aufgeschobenes. Er redet mit seinem Bruder. Endlich. Charlie ist ein guter Beobachter, er hat mitgekriegt, wie ihn die Eltern abschirmen wollten. Als Zack die Diagnose erhielt, war er 12, jetzt ist er 17. Eine Jugend im Schatten des Krebses.
Charlie sagt, Zack habe es ihm leichtgemacht, weil er er selbst geblieben sei. «He sucked it up.» (Er riss sich zusammen.) So sehr, dass Charlie manchmal fast vergessen habe, dass eigentlich Zack derjenige sei, der schwer krank sei. Und nicht er, Charlie, der traurig sei, weil er den Bruder verlieren werde. «Choose your poison.»
Charlie teilt den Humor der Logans und auch deren Reserviertheit. Er hat es nicht vielen Freunden gesagt. Sie würden es sowieso nicht verstehen. Er will Charlie sein und nicht einfach Zacks Bruder oder der Guy, der einen Bruder mit Krebs hat. «Aber es ist ein Teil von mir. Ich kann ja nicht nachher sagen: Einen Bruder? Ich hatte nie einen Bruder.»
Zack und Charlie gehen zusammen an Konzerte, Charlie geniesst die Zeit, sie hatten diese grosse Altersdifferenz und waren nie diese Sorte «Brüder, die sich die ganze Zeit lustige Dinge schicken». Aber wer ist das schon in diesem Alter? «Der Krebs hat uns sicher näher zusammengebracht. Auch wenn Zack immer weg war. The Dude war in ganz Europa in den letzten drei Monaten!»
In seinem letzten Sommer feiert Zack auch seinen letzten Geburtstag. Die Mutter Amélie sagte einmal, dass sie dieses Konzept vom «letzten Mal» nicht mehr aushalte. Man bereite sich auf etwas vor, und dann hoffe man fast, dass es wirklich das letzte Mal gewesen sei. Denn: Wie solle man es sonst das nächste Mal feiern? Diesen Gedanken will man wirklich nicht mit sich herumtragen.
Aber kurz vor dem Ende ist nichts mehr normal. Oder wie Charlie sagt: «Es ist schräg. Vor sechs Monaten sagten die Ärzte, er habe noch zwischen 5 und 15 Monaten. Das heisst, eigentlich könnte Zack jeden Moment tot umfallen.»
9 – Loslassen
Es ging dann doch nicht mehr alles. Luc reiste allein nach Moçambique. Und Japan, das Land, das Zack unbedingt noch einmal hätte besuchen wollen, öffnete seine Grenzen nach der Pandemie für Touristen zu spät. Die Freunde dort hat Zack nicht mehr gesehen.
Jedes Leben ist lückenhaft. In Krakau hatte mich Zack gefragt, was ich noch erleben möchte. Ich hatte ihn wohl etwas verdutzt angeschaut. «Was fehlte dir noch, wenn du bald sterben würdest?» Natürlich hatte ich mir die Frage auch schon gestellt, aber wie ehrlich sollte ich ihm gegenüber sein? Sollte ich ihn auf etwas hinweisen, was er vielleicht gar nicht in Betracht gezogen hatte?
«Kinder, vielleicht. Eine Familie. In einer Grossstadt im Ausland leben. Ein Haus am Meer . . .» Ich brach ab.
«Ja, das stimmt, Kinder.» Er schwieg.
«Aber am Ende jedes Lebens bleiben manche Träume und Wünsche unerfüllt», sagte ich.
«Deswegen habe ich auch wieder neue grüne Flaggen gesetzt auf meiner Karte.» Zack dachte, das Leben sei rund, wenn es auf Google Maps keine grünen Punkte, sondern nur mehr gelbe Sterne und Herzen hat. «Die Karte zu bereinigen, war doof. Das ist nicht realistisch. Es ist nicht so, wie es sein sollte.»
Wie es sein sollte. Zack sehnte sich nach einer Eindeutigkeit, die es im Leben nicht gibt. Er wusste das eigentlich. Aber manchmal ist man schwach. Oder ehrlich. Und wünscht sich, dass alles einfacher wäre.
Wie damals, als er im Irchelpark sagte. «Jetzt fühle ich mich im Reinen mit mir. Aber ich frage mich manchmal: Wieso flickt sich mein Körper dann nicht?»
Die On-off-Beziehung mit Lea endet «irgendwann nach diesem turbulenten Sommer». Lea habe ihm zwar gesagt, sie werde für ihn da sein, wenn er sie brauche, aber seine Freundin könne sie nicht mehr sein, es ziehe ihr den Boden weg, wenn er sterbe. Zack zog es vor, die letzten Wochen ohne sie zu bestreiten.
Amélie sagt einmal: «Ich glaube, der Sinn des Lebens ist es, Liebe zu finden. Natürlich, das mit Lea war eine komplizierte Sache. Aber wieso sollte ich ihr böse sein? Zack hat sich verliebt, dank ihr und mit ihr Liebe erlebt.»
Was es nun noch zu organisieren gilt, ist nur das Sterben. Zack besitzt ja kaum etwas: zwei Bankkonten, eines leer, den Betrag auf dem anderen will er Charlie überweisen, «damit er die Reisen machen kann, die ich nicht mehr machen konnte»; ein Natel-Abo; die Versicherungen laufen auf die Eltern. Die Exit-Mitgliedschaft muss noch bezahlt werden. Kostet 3000 Franken, wenn man nicht schon drei Jahre Mitglied war. Den letzten Schritt, die Verfügung, hat er bis zum Schluss hinausgezögert. Als er die Urteilsfähigkeit bestätigen lassen wollte, waren ausgerechnet Luc und sein Hausarzt in den Ferien. Stress am Lebensende.
Fast ganz am Schluss brennt ein Feuer. Es ist dunkel geworden am Abschiedsfest im Zürcher Unterland, und am Dorfrand hinter der ehemaligen Kelterei halten sechs Freunde Spiesse mit Fleischstückchen über einen Grill, ihre Blicke gehen in die Flammen, auf der nahen Überlandstrasse gleiten Lichter lautlos durch die Nacht.
«Es geht jetzt schon megaschnell. Im Sommer waren wir noch zusammen im Ausgang», sagt einer.
«Er wollte von mir noch sein gesamtes Leben aufnehmen lassen. Filmen. Wir haben angefangen. Er sass da und hat in die Kamera geredet. Wir kamen bis Japan.»
«Was machst du jetzt damit?», fragt einer aus der Runde.
«Keine Ahnung. Ich will ihn nicht darauf ansprechen. Er weiss ja, dass er das nicht mehr fertig schaffen wird.»
«Ich habe in den fünf Jahren nie ganz gecheckt, dass es wirklich so ernst ist. Ich meine, es war immer so: Er ist dran, an dieser Therapie. Das kommt schon.»
«Er zeigt halt seinen Schmerz nie.»
«Ja, aber allgemein, er hat nie gesagt, es komme nicht gut. Wir waren noch trinken, er war fit, hat sogar mit einer Frau geflirtet.»
Sie schweigen. Das Feuer brennt weiter. In der Hütte läuft Musik. Durch die Tür sieht man zum Cheminée, in dem kein Feuer brennt. Daneben liegt Zack auf einem Liegestuhl, das Käppli ins Gesicht gezogen, neben ihm sitzt Luc, die Arme auf seine Knie gestützt, und schaut vor sich auf den Boden.
Dann sagt einer in die Stille: «Er hat das Beste daraus gemacht.»
«Ist vielleicht etwas kritisch, wenn ich das sage, aber . . . vor der Krankheit, also, da ging es ihm nicht gut, kaum Lebensfreude zu gewissen Zeiten. Und jetzt, what the fuck, der Siech hat verdammt gelebt die letzten fünf Jahre! Hätte ich nie gedacht.»
Mhm, sie nicken wieder.
«Habe nie so weit gedacht, dass ich hätte sagen können: Es hat so sollen sein. Aber es hat ihn zurück ins Leben geworfen.»
«Ja, voll, so hart das klingt: Es hatte auch etwas Positives. Dass er sich mit dem auseinandersetzen musste, meine ich.»
«Meeeega. Die ganzen Träume und Wünsche. Ich habe mich mal gefragt und auch ihn gefragt, ob das, was er in den fünf Jahren erlebt und durchgemacht habe, ob wir dafür ein ganzes Leben brauchen würden.»
«Ich habe oft gedacht: Mach wirklich das im Leben, worauf du Bock hast. Lebe nicht nur in diesen starren Schweizer Strukturen. Aber der Gedanke ist dann halt oft am nächsten Tag wieder weg.»
«Ich glaube, niemand von uns hätte das so gut bewältigt wie er. Ich glaube auch, dass er mit sich im Reinen ist. Wenn er jetzt total hadern würde und Angst hätte, dann würde mich das nochmals hart mitnehmen.»
«Hab ich ihm sogar gesagt! Er sagte mir: ‹Ich habe so Schmerzen, ich will langsam gehen.› Da habe ich ihm gesagt: Hey, schau, ich bin froh, dass du das sagst. Mach dir keinen Druck, wenn du gehen willst, geh. Wir behalten dich gleich in Erinnerung. Das geht nicht weg.»
Eine halbe Stunde später, es ist fast 10 Uhr, muss einer der Freunde, der extra aus Südafrika angereist ist, gehen. Der Rückflug wurde vorverschoben. Zack und der Freund gehen nach draussen vor die Hütte. Zack sagt, was für ein guter Freund er gewesen sei. «Bin so dankbar, Bro, so dankbar.» Dann sagen sie: «Ciao, Bro.» – «Ciao.»
Zack läuft zurück, steht im Türrahmen. «Es ist einfach scheisse. Es gibt keine gute Art, Tschüss zu sagen. Ich suche immer einen Weg, damit es besser wird, aber es bleibt immer unbefriedigend.»
Zack hat das Gefühl, dass er alle im Stich lässt. Dabei keucht er am Tisch, als er sein Fleisch viertelt, dann achtelt, dann sechzehntelt, weil grössere Stücke für ihn kaum mehr zu kauen sind. «How do you eat an elephant? Piece by piece.» Er lacht trocken. «Ich weiss nicht, ob ich diese Woche noch schaffe», sagt er zu mir. «Aber ich möchte das nächste Wochenende noch erreichen.» «Wieso?», frage ich. «Für meine Eltern, noch mal ein Wochenende für sie. Aber eigentlich mag ich nicht mehr.»
Punkt 10 Uhr versucht Mutter Amélie einen Beamer zum Laufen zu bringen. Die Gäste sitzen um einen grossen Tisch vor der Leinwand, über eine Boombox lässt Zack Musik laufen.
«I don’t wanna live forever», singt Taylor Swift.
«I don’t think I can play this!», schreit die Mutter über die Musik und zeigt auf den Beamer.
«Cause I don’t wanna live in vain», singt Taylor Swift weiter.
«I can do it», sagt Charlie und eilt seiner Mutter zu Hilfe.
Zack wechselt die Musik, Eddie Vedders klönende Stimme ertönt. «Depro! Next song», schreit einer der Freunde.
Endlich erscheinen auf der Leinwand Fotos. Zack als Kind mit Charlie, beide in Skikleider eingepackt, Zack auf einem Boot auf dem Zürichsee, Zack inmitten von Freunden, alle mit Bierbechern in der Hand, «Haben nur Rivella getrunken», schreit ein Freund, «Jaa, jaaa!», ruft die Mutter. Dann Zack beim Schach, aber im Hintergrund sieht man Infusionsapparate. Die Augenbrauen sind da noch buschig und dick, wie aufgeklebt. «Dangerous eyebrows», schreit ein Freund. «No comments about the eyebrows», ruft Zack. Im Video von der Diplomübergabe am Gymnasium sieht man Zack zum ersten Mal mit Käppli. Fotos von seiner Japanreise und dann Zack im Spitalbett. Er lächelt erschöpft, aber er streckt die Daumen hoch.
Die letzten Bilder sind von den Familienferien in Sizilien, die Mutter zwischen den beiden Söhnen, alle lachen, Charlie und Zack auf der Scala dei Turchi, das war ein guter Tag, einer von nur zweien auf dieser letzten Ferienreise. Davon gibt es Bilder. Die schlechten Tage überleben nur in Zacks Kopf.
Wenig später klopft ihm ein Onkel wie ein tapsiger Bär auf die Schultern, umarmt ihn und sagt: «Mach’s gut.» Die Abschiede bleiben unbeholfen an diesem Fest. Die Grossmutter, dement, sagt Zack zum Abschied: «Siehst schwach aus, du musst mehr trinken, mehr Wasser trinken!»
Wir vereinbaren, dass wir uns nochmals treffen und dass er mir schreibt, wenn sich die Situation verschlechtert. Es ist Samstagnacht.
Im Postauto nach Hause frage ich mich, ob ich Zack noch einmal sehen werde. Und wie es danach weitergeht, ob mich die Erinnerungen an ihn quälen werden. Vielleicht hatte ich genau davor Angst gehabt, als ich zu Beginn zögerte, mich auf Zack einzulassen. Aber der Schmerz bleibt aus. Stattdessen fühle ich Dankbarkeit für fast ein Jahr Lebensschule. Ich glaube nicht, dass man Zacks Beispiel folgen muss oder überhaupt folgen kann. Aber wenn jemand mit so vielen Schmerzen und Behinderungen wie Zack so sehr am Leben hing und in so vielen Momenten so viel Glück fand, liegt darin so etwas wie Hoffnung.
Am Dienstagmorgen, dem 1. November, telefonieren wir. Zack sagt, er sei im Spital. Am Sonntagabend sei er zu Hause fast erstickt an Erbrochenem. «Ich will nicht zu Hause verrecken.» Luc habe ihn noch besucht. Zack bleibt bis zum Schluss ohne Hoffnung auf ein Leben danach. Aber dann sagt er zu Luc, dem gläubigen Mediziner, zum Abschied: «Bis bald.» Und Luc sagt das auch.
Seit dem Abschiedsfest hat er Dutzende Nachrichten erhalten. Beantworten wird er sie nicht mehr.
Am Nachmittag will er sterben, mit dem Medikament. Wir verabschieden uns. «Bis bald», sage ich. Zack sagt: «Bis bald.»
Fünf Stunden später erhalte ich eine SMS. Aber es ist nicht die Mutter, die mir Zacks Tod bestätigt. Stattdessen schreibt mir . . . Zack.
«Es wird doch nicht heute sein . . . 😅»
«Wenn ich noch mag und genug Energie habe, könntest du gerne noch auf einen Besuch kommen.»
Die SMS überfordert mich. Vor wenigen Stunden haben wir endgültig Abschied genommen. Aber ich muss auch schmunzeln. Typisch Zack. Ein letztes Aufbäumen, wieso gehen, wenn noch etwas Saft in der Maschine steckt? Aufbrauchen, alles, bis auf den letzten Tropfen.
Ich schreibe ihm zurück, ich hätte nach unserem Telefonat die Stadt verlassen, um den Moment etwas zu verarbeiten. Ich würde ihn aber gerne am nächsten Tag besuchen kommen, wenn er dann noch da sei.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, aber ich bin auch froh, dass ich schon weggefahren war, als er mir nochmals schrieb. Man kann nicht am gleichen Tag zweimal Abschied nehmen.
Drei Tage später erhalte ich eine SMS von Amélie:
«Gestern ist Zack von uns gegangen. Wir vermissen ihn so sehr. Ich hoffe, dass wir eines Tages wieder leben werden, wie Zack gelebt hat. Im Moment it is something we have to get through, und es tut so weh. Amélie»