Angesichts der russischen Übermacht im Schwarzen Meer setzt das ukrainische Militär auf eine simple, preisgünstige Waffe: unbemannte, mit Sprengstoff bepackte Boote, die aus der Ferne zur Explosion gebracht werden. Das hat Folgen für den Krieg.
Immer häufiger greifen die Ukrainer russische Ziele mit Marinedrohnen an. Allein seit dem Sommer 2023 haben die beiden Kriegsparteien eine zweistellige Zahl solcher Angriffe gemeldet. Beim bisher letzten Fall wurde in der Nacht auf den 14. Februar vor der Südspitze der Halbinsel Krim ein grosses Kriegsschiff schwer beschädigt und offenbar versenkt. Das 112 Meter lange Landungsschiff «Cäsar Kunikow» diente dem Transport von Truppen und Kriegsmaterial und war Teil von ursprünglichen russischen Kriegsplänen für eine Invasion vom Meer her.
Schon im August hatte bei der Hafenstadt Noworossisk ein baugleiches Kriegsschiff einen Treffer durch eine Marinedrohne erlitten. Bilder in sozialen Netzwerken zeigten damals, wie die in gefährliche Schräglage geratene «Olenegorski Gornjak» abgeschleppt werden musste.
Spektakulär war auch der Anschlag auf die Strassenbrücke über die Meerenge von Kertsch im Juli 2023. Durch die Explosion von mutmasslich zwei Marinedrohnen wurde die strategisch wichtige Verbindung auf die besetzte Halbinsel Krim vorübergehend unterbrochen. Die Brücke war darauf für Monate nur eingeschränkt befahrbar.
Doch was sind Marinedrohnen überhaupt? Der ukrainisch-russische Krieg ist der erste Konflikt, in dem diese Waffengattung eine Rolle spielt. Bis heute handelt es sich um eine geheimnisumwitterte Entwicklung. Es war deshalb eine kleine Sensation, als das ukrainische Militär im Sommer 2023 erstmals ein solches Gerät der Öffentlichkeit vorführte. Ein Team des amerikanischen Senders CNN konnte einem Test beiwohnen. Die Filmaufnahmen zeigen ein graues, flaches und überaus wendiges Kleinboot mit einer Länge von gut fünf Metern.
Vielseitig einsetzbar
Marinedrohnen sind unbemannte, ferngesteuerte Wasserfahrzeuge, in der Fachsprache bekannt als «Unmanned Surface Vehicles». Sie können der blossen Erkundung oder Überwachung dienen und verfügen daher über ein Kamerasystem und Kommunikationsmittel. Aber die ukrainischen Modelle haben auch einen Sprengkörper an Bord. Dieser explodiert beim Aufprall auf ein feindliches Schiff oder wird ferngesteuert ausgelöst. Daher hat sich auch die Bezeichnung «Kamikaze-Wasserdrohne» eingebürgert.
Der Marinefachmann H. I. Sutton hat aufgrund von Bildern einer gestrandeten Drohne die Konstruktion analysiert. Er geht von einem Aufbau aus wie in der untenstehenden Grafik dargestellt:
Laut ukrainischen Angaben kann diese Eigenentwicklung einen 300 Kilogramm schweren Sprengkopf mit sich führen. Dies reicht nach Einschätzung des Militärexperten Jürg Kürsener bei einem gut gewählten Auftreffpunkt, zum Beispiel beim Maschinenraum, um ein kleines feindliches Kriegsschiff zu versenken oder ein grösseres lahmzulegen.
Ausserdem soll die Drohne eine Maximalgeschwindigkeit von 80 Kilometern pro Stunde und eine Reichweite von 800 Kilometern haben. Dies genügt, um von den ukrainischen Marinestützpunkten im Raum Odessa aus nicht nur die Krim-Brücke zu erreichen, sondern auch russische Schwarzmeerhäfen wie Noworossisk oder Tuapse.
Seit dem Oktober 2022 führen die Ukrainer Angriffe auf russische Ziele im und am Schwarzen Meer aus.
Der genaue Hergang des Anschlags auf die Krim-Brücke ist noch immer nebulös. Marinedrohnen wurden in jener Gegend nicht gesichtet. Aber der ukrainische Geheimdienst hat den Einsatz unbemannter Wasserfahrzeuge bestätigt und ein Video des Angriffs veröffentlicht. Offenbar explodierten unterhalb der Brücke gleich zwei Drohnen. Die Angreifer wählten eine Stelle, an der sich die Fahrbahn nur wenige Meter über der Wasseroberfläche befindet.
So reichten die Explosionen aus, um eine der beiden Fahrbahnen unpassierbar zu machen und die andere zu beschädigen. Während die parallel verlaufende Eisenbahnbrücke intakt blieb, ist die Strassenbrücke vorläufig nur einspurig mit leichten Fahrzeugen nutzbar.
Die erfolgreichen Operationen bei der Krim-Brücke, im Hafen Noworossisk und zuletzt vor der Südspitze der Krim mit der Versenkung der «Cäsar Kunikow» sind nicht zuletzt das Resultat einer technischen Weiterentwicklung. Der Marineexperte Sutton beschreibt eine rasche Evolution von einem kurz nach Kriegsbeginn gebauten Prototyp bis zu Drohnen einer ersten und einer zweiten Generation:
Als Grundlage nahmen die ukrainischen Entwickler offenbar kommerziell verfügbare Schnellboote und ergänzten sie mit einem Kamerasystem, einer Reihe weiterer Sensoren im Bugbereich sowie einem Kommunikationsgerät am Heck. Die Fortbewegung erfolgt über einen Wasserstrahlantrieb – laut Sutton ein kommerziell verfügbares Produkt aus dem Wassersportbereich. Vorne, unter der gewölbten Decke, dürfte der Gefechtskopf verborgen sein.
Der beim Angriff auf die Krimbrücke eingesetzte Drohnentyp weist nochmals andere Konstruktionsdetails auf und soll einen wesentlich stärkeren Sprengsatz – 850 Kilogramm – mit sich führen. Der ukrainische Geheimdienst hat einen Monat nach dem Angriff Bilder dieses Typs namens «Sea Baby» veröffentlicht:
Wichtige Innovation
Den Ukrainern ist damit eine ungewöhnliche Innovation gelungen. Die Idee, unbemannte, mit Sprengstoff beladene Boote in der Kriegführung einzusetzen, ist zwar nicht neu. Schon im Ersten Weltkrieg experimentierte Deutschland mit den sogenannten Fernlenkbooten, bis dieses Bauprogramm wegen anhaltender Erfolglosigkeit eingestellt wurde.
Aber die Ukraine hat erstmals eine Marinedrohne zur Serienreife gebracht und in einem konventionellen Krieg erfolgreich eingesetzt. Dies bedeutet noch keine Revolution in der Seekriegsführung, aber unbemannte Boote bringen eine Reihe von Vorteilen mit sich. Sie sind schwer zu entdecken, verfügen über eine hohe Reichweite und sind mit einem Stückpreis von angeblich 250 000 Dollar preisgünstig. Dass ihre Kamikaze-Einsätze keine eigenen Truppen in Gefahr bringen, ist ebenfalls nicht zu unterschätzen.
Die Ukraine strebt den Aufbau einer ganzen Flotte von Drohnen an, der «weltweit ersten», wie man in Kiew betont. 2023 startete Präsident Wolodimir Selenski auf United24, der Fundraising-Plattform der Regierung, eine Kampagne zur Finanzierung dieser Pläne. Sie zielt auf den Bau von zunächst 100 Marinedrohnen.
Russland verliert an Bewegungsfreiheit
Um eine Wunderwaffe handelt es sich nicht, da solche Boote im Falle einer Entdeckung leicht unschädlich gemacht werden können. Das erklärt, weshalb die Ukraine sie oft in Schwärmen einsetzt, um die feindliche Abwehr zu überwinden. Die russische Kriegsmarine reagiert ausserdem, indem sie ihre Häfen und Schiffe teilweise mit Netzen schützt. Auch wird nun die Meerenge von Kertsch mit der strategisch bedeutenden Krim-Brücke stärker überwacht.
Über ein Erfolgsrezept gegen die neuartige Bedrohung scheint Moskau aber noch nicht zu verfügen. Die ukrainischen Marinedrohnen binden Ressourcen auf russischer Seite und behindern die Bewegungsfreiheit der Schwarzmeerflotte. Bereits dies ist ein Erfolg für die Ukraine, die selber keine nennenswerte Kriegsmarine besitzt.