Die Schweiz ist umgeben von EU-Mitgliedstaaten. Ein eigener EU-Beitritt ist momentan aber undenkbar. Denn seit 25 Jahren geht die Schweiz ihren eigenen Weg. Jetzt hat die Schweiz neue Verträge mit der EU ausgehandelt, die den Schweizer Sonderweg gefährden könnten.
«Man muss davon ausgehen, dass die Schweiz im Moment an einem Wendepunkt steht in ihren Beziehungen zur EU.» Was steht in den neuen Verträgen? Und warum könnten sie das Ende des bilateralen Sonderwegs bedeuten?
Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind kompliziert. Um sie zu verstehen, müssen wir einen Blick zurück in die 1990er Jahre werfen. Nach dem Ende des Kalten Kriegs verändert sich das politische Klima in Europa – es herrscht Aufbruchstimmung. In den folgenden Jahren nimmt die EU immer mehr Staaten aus Mittel- und Osteuropa als Mitglieder auf. Schritt für Schritt entsteht der europäische Binnenmarkt. Er ist wegen seiner Reichweite und seiner wirtschaftlichen Stärke der weltweit grösste Wirtschaftsraum.
Zu jener Zeit steckt die Schweiz in einer Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Deshalb sucht auch die Schweiz nach Wegen, ihre Beziehungen zur EU zu vertiefen. «Dabei standen insbesondere die wirtschaftlichen Interessen im Zentrum. Man verhandelte dann mit der EU über den Beitritt zum EWR, zum Europäischen Wirtschaftsraum.»
Der EWR erlaubt es Nicht-EU-Staaten, am EU-Binnenmarkt teilzunehmen, ohne Teil der politischen Union und der EU-Institutionen zu sein. Ein umstrittener Plan in der Schweiz. «Die Abstimmung von 1992 war einer der am heftigsten und intensivsten geführten Abstimmungskämpfe, die es in der Schweiz gegeben hat in der jüngeren Vergangenheit.»
Eine knappe Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer lehnt den EWR-Beitritt ab. «Es ging um die Unabhängigkeit der Schweiz, um die Souveränität. Man wollte nicht eine rechtliche und politische Anbindung an die EU.» Nach der Abstimmung folgt grosse Unsicherheit. Und weil die Schweizer Wirtschaft immer noch schwach ist, besteht der Bundesrat auf weiteren Gesprächen mit der EU. Und diese legen den Grundstein für den bilateralen Schweizer Sonderweg.
«Die Schweiz konnte mit der EU die bilateralen Abkommen aushandeln. Einen Sonderweg, der sonst kein anderes Land hat.» Die sogenannten Bilateralen I sind ein Vertragspaket, das aus sieben Einzelverträgen besteht. Sie regeln die Zusammenarbeit in Bereichen wie Wirtschaft, Forschung und Verkehr.
Im Zentrum steht vor allem die Personenfreizügigkeit, also der freie Personenverkehr. Dadurch können EU-Bürger in der Schweiz arbeiten. Und die Bilateralen I geben der Schweiz Zugang zum europäischen Markt. So können Schweizer Firmen ihre Produkte leichter exportieren. Auch im Luftverkehr bringen die Bilateralen I Vorteile: Jetzt können Schweizer Fluggesellschaften leichter Flüge in andere europäische Städte anbieten – und umgekehrt.
Zehn Jahre später unterzeichnen die Schweiz und die EU die Bilateralen II. Sie gehen deutlich über rein wirtschaftliche Interessen hinaus und regeln nun auch die politische Zusammenarbeit in mehreren Bereichen. Zwei der wichtigsten Abkommen sind Schengen und Dublin. Das Schengen-Abkommen regelt die visafreie Reise zwischen den Mitgliedstaaten. Das heisst, Schweizerinnen und Schweizer können ohne Grenzkontrolle zum Beispiel nach Deutschland reisen – und umgekehrt.
Das Dublin-Abkommen legt unter anderem fest, welches Land für ein Asylverfahren zuständig ist. Dadurch wird verhindert, dass Asylbewerber in mehreren Ländern gleichzeitig einen Antrag stellen.
«Aus Sicht der EU waren diese Bilateralen am Anfang nur ein Provisorium. Sie ging damals davon aus, dass das nur eine Übergangslösung sei, weil die Schweiz nachher sowieso – früher oder später – der EU beitreten werde.» Heute ist klar: In absehbarer Zukunft wird das nicht passieren. Der Schweiz ist ihre Souveränität zu wichtig.
Aus Sicht der EU ist das problematisch. Denn die bilateralen Verträge basieren in wichtigen Teilen auf EU-Recht, das sich laufend ändert. Die bilateralen Abkommen selbst sind jedoch statisch, was bedeutet, dass die Schweiz nicht automatisch verpflichtet ist, diese rechtlichen Änderungen zu übernehmen. Zudem fehlen klare Regeln für den Fall, dass sich die Schweiz und die EU über die Anwendung der Abkommen uneinig sind.
«Deshalb pocht die EU zunehmend darauf, dass die Schweiz das bilaterale Verhältnis nicht mehr in der heutigen unverbindlichen Form fortsetzen kann, sondern sich auf klare Spielregeln festlegen muss. Und um diese wird jetzt gestritten.» Ein erster Versuch, sich auf gemeinsame Spielregeln zu einigen, scheitert 2021. Der Bundesrat beendet die Verhandlungen zum neuen Rahmenvertrag einseitig – die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU erreichen einen Tiefpunkt.
Nach intensiven diplomatischen Bemühungen stimmt die EU im März 2022 neuen Gesprächen zu. Und fast zweihundert Verhandlungsrunden später verkünden die Schweiz und die EU gemeinsam: «Der heutige Tag ist ein Meilenstein.» Die neuen Verhandlungen unterscheiden sich wesentlich vom gescheiterten Rahmenvertrag. Der neue Ansatz besteht nicht mehr aus einem einzigen Rahmenvertrag wie 2021, sondern legt die Regeln direkt in den einzelnen Abkommen fest. Dadurch kann die Schweiz in einzelnen Abkommen auch Ausnahmen aushandeln.
Das neue Paket beinhaltet drei neue Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit. Und: Das neue Paket soll vor allem die langjährigen Streitpunkte zwischen der EU und der Schweiz regeln. Einerseits, wie die Schweiz mit Anpassungen im EU-Recht umgeht. Andererseits, wie die Schweiz und die EU in Streitfällen künftig vorgehen.
Momentan ist die Schweiz nicht verpflichtet, Änderungen im EU-Recht zu übernehmen. Im neuen Paket würde sich die Schweiz aber grundsätzlich verpflichten, neues EU-Recht, das für die bilateralen Abkommen von Bedeutung ist, zu übernehmen. «Und dadurch verändert sich der bilaterale Weg. Er ist nicht mehr statisch, er ist dynamisch.»
Die Übernahme würde aber nicht automatisch passieren – das Schweizer Parlament oder das Stimmvolk hätten weiterhin die Möglichkeit, sie abzulehnen. Wenn die Schweiz die Anpassung ablehnt, dann könnte die EU das neue Streitbeilegungsverfahren in Gang setzen.
Schauen wir uns das genauer an. Heute kommen die Schweiz und die EU im Streitfall vor den sogenannten Gemischten Ausschuss – ein Gremium mit Vertretern beider Seiten. Ein Beispiel dafür ist der Lohnschutz: «Aus Sicht der EU geht die Schweiz zu weit, wenn es darum geht, die hiesigen Löhne und Arbeitsbedingungen gegen Betriebe aus EU-Ländern zu schützen. Die EU hat vor Jahren schon darauf hingewiesen, dass diese Lohnschutzmassnahmen aus ihrer Sicht nicht kompatibel seien mit dem Freizügigkeitsabkommen. Aber weil es keine rechtliche Streitbeilegung gibt, konnte sich die Schweiz bis heute weigern, diese flankierenden Massnahmen anzupassen.»
Keine rechtliche Streitbeilegung bedeutet, dass es im Streitfall keinen Gerichtshof oder keine anderen verbindlichen Instanzen gibt, die eine endgültige Entscheidung treffen. Mit dem neuen Vertragspaket soll sich das ändern. Wenn ein Streit im Gemischten Ausschuss nicht gelöst wird, soll ein Schiedsgericht die Entscheidung treffen. Dieses setzt sich aus je einer Vertretung der Schweiz und der EU zusammen. Den Vorsitz führt eine weitere unabhängige Person, die von beiden Seiten gewählt wird.
Dabei gibt es zwei Szenarien. Entweder: Die Schweiz und die EU streiten sich über die Anwendung von Regeln aus gemeinsamem bilateralem Recht. In diesem Fall entscheidet das Schiedsgericht direkt. Oder: Die Schweiz und die EU streiten sich über Regeln, bei denen die Auslegung von EU-Recht eine Rolle spielt. In diesem Fall zieht das Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof (EuGH) hinzu. Die Stellungnahme des Gerichtshofs ist verbindlich, und das Schiedsgericht muss sie in seiner eigenen Entscheidung berücksichtigen.
Wenn die Schweiz vor dem Schiedsgericht unterliegt und trotzdem nicht nachgibt, kann die EU sogenannte Ausgleichsmassnahmen gegen die Schweiz ergreifen. Diese müssen aber verhältnismässig sein. «Möglich sind zum Beispiel Massnahmen, welche das Aufenthaltsrecht von Schweizer Bürgern in EU-Ländern reduzieren würde. Möglich wären aber auch Nachteile in wirtschaftlichen Fragen, etwa dass die EU den Export von Schweizer Firmen erschweren würde.»
Die Rolle des europäischen Gerichtshofs ist heftig umstritten. Die SVP warnt davor, dass sich die Schweiz «fremden Richtern» unterwerfen würde. Befürworter argumentieren, es sei klar, dass nur der europäische Gerichtshof EU-Recht auslegen dürfe. Und der letzte Entscheid liege ohnehin beim Schiedsgericht.
In der Schweiz ein ebenso explosives Thema ist die Zuwanderung aus der EU über die Personenfreizügigkeit. «Mit dem neuen Paket fände eine Ausweitung dieser Personenfreizügigkeit statt. Die Schweiz müsste in Kauf nehmen, dass EU-Bürger, die hier arbeiten, nach fünf Jahren grundsätzlich ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen. Diese Frist wird verlängert, wenn die EU-Bürger in dieser Zeit von der Sozialhilfe abhängig sind.»
Die Schweiz konnte jedoch erreichen, dass die Personenfreizügigkeit weiterhin nur für den Arbeitsmarkt gilt. Das bedeutet, EU-Bürger dürfen nur dann in die Schweiz kommen, wenn sie einen Arbeitsvertrag haben oder nachweisen können, dass sie sich selbst versorgen können. Die Schweiz hat in den Verhandlungen auch erreicht, im Abkommen über die Personenfreizügigkeit eine neue Schutzklausel einzuführen. Diese ermöglicht es der Schweiz, die Zuwanderung aus der EU vorübergehend zu begrenzen, wenn ernsthafte wirtschaftliche Probleme auftreten.
Ein Beispiel: Wenn die Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen oder Branchen hoch ist, könnte die Schweiz einheimische Arbeitskräfte bevorzugen oder sogar Quoten festlegen. Die EU könnte jedoch mit dem Schiedsverfahren dagegen vorgehen.
Wie geht es also weiter zwischen der Schweiz und der EU? «Weil die EU den bilateralen Weg in der heutigen Form nicht fortsetzen will, muss sich die Schweiz fragen, ob sie den Preis bezahlen will, den die EU für die Fortsetzung verlangt.»
Momentan werden die Vertragstexte in Bern und Brüssel rechtlich geprüft, dann unterzeichnen die Schweiz wie auch die EU. Anfang 2026 soll das Paket ins Parlament kommen. Mit einer Volksabstimmung ist frühestens 2028 zu rechnen. «Wenn die Schweiz Nein sagt – was durchaus möglich ist, denn der Widerstand gegen das Paket ist sehr gross –, beginnt eine neue Phase der Unsicherheit. Die bestehenden Abkommen würden weiterhin gelten. Die EU hat aber angekündigt und auch schon vorgemacht, dass sie die Abkommen nicht mehr anpassen würde. Und damit ist der bilaterale Weg insgesamt infrage gestellt.»