Obwohl die Nullgradgrenze steigt, sind die Sportferien in der Schweiz nach wie vor Synonym für Sporttreiben im Schnee. Das hat mit dem Selbstverständnis des Landes zu tun – und einer Tradition, die mit Staatshilfe an die Jugend weitervererbt wird.
Am Anfang der Sportferien geht die schwere Holztüre auf. Grossvater! Er sagt: «Komm, ich muss Dir etwas zeigen!» Zur Abstellkammer sind es zehn Schritte, zehn Schritte Herzklopfen. Die neuen Skis! Es sind fast exakt die gewünschten und erträumten, diejenigen von dem Skirennfahrer, von dem es ein körniges, schwarz-weisses Bild in der Zeitung gab. Ausprobieren? Es dunkelt schon bald ein, doch der Hügel hinter dem Haus lockt tief verschneit. Also ausprobieren!
Seit vor fünfzig Jahren die Sportferien angefangen haben, hat sich nicht nur das Lebensalter der Menschen verändert, die damals Kinder waren. Auch die Sportferien sind nicht mehr das, was sie einmal waren, obwohl sie immer noch heissen wie ehedem. Fangen sie heutzutage an, steht oft der Frühling vor der Tür, und dort, wo verlässlich hüfttiefer Pulverschnee den Hügel hinterm Haus bedeckte, gibt es Primel-Knospen statt Winterzauber.
Der Winter dauert je nach Region zwanzig bis vierzig Tage weniger lang als vor fünfzig Jahren. Das hat das Bundesamt für Meteorologie herausgefunden. Ein Wintertag ist laut Definition der Wetterforscher ein Tag, an dem die Schneedecke geschlossen und mindestens einen Zentimeter hoch ist. Lag die durchschnittliche Nullgradgrenze vor 50 Jahren bei 600 Höhenmetern, ist sie auf 850 Meter geklettert. Die Gesamtschneemenge hat sich in der Höhenlage von 1800 Metern um rund einen Viertel verringert. Geht die Entwicklung so weiter, liegt in 35 Jahren nochmals ein Drittel weniger Schnee. Oje!
Das Wort «Klimawandel» musste Grossvater nicht mehr lernen, er ist längst gestorben. Auch die Bedeutung der Sportferien für den Enkel aus dem Unterland hat der Grossvater wahrscheinlich anders wahrgenommen als der Enkel damals: Mit den Skis, die aussehen wie jene vom Skirennfahrer aus der Zeitung, von morgens bis abends den Hügel hinter dem Holzhaus hochstapfen, und dann hinuntersausen mit dem Gefühl, mindestens so schnell zu sein wie Franz Klammer, Marie-Theres Nadig und Bernhard Russi. Gab es einen Sturz mit Schneestaub in der Nase, dann war der Enkel eben Roland Collombin. Sportferien! Für Grossvater und seine Generation gab es keine «Sportferien».
Wie der Bundesrat das Skilager erfindet
Die freien Tage im Winter mögen ihre Wurzeln wohl im alten Brauchtum haben, das mit der Fasnacht zu tun hat; wie in Basel, wo die Sportferien offiziell den Zusatz tragen: «und -Fasnachtsferien». Die Gleichsetzung von Fasnacht und Sport ist wohl eine typisch baslerische Sonderbarkeit, aber dass die Bezeichnung für eine Zeit der Musse die Handlungsanweisung «Sport treiben» in sich trägt, ist aus heutiger Sicht eigentlich eine Anmassung: Wer nicht arbeitet oder zur Schule geht, soll sich sportlich betätigen – und zwar am besten mit Ski unter den Füssen.
Grossvater war zwar nicht fremd, dass es schulfreie Zeiten mit unzweideutigen Handlungsanweisungen gab: Er erzählte von den «Heu-Ferien» anfangs Juli, weil in jener Jahreszeit auf den kargen Matten ganze Schulklassen beim Einbringen des Futters für den Winter mithelfen mussten. Heu-Ferien braucht es nicht mehr, würde Grossvater sagen, wäre er nicht gestorben: Das Futter für die Tiere kommt von der «Landi», die Milch aus dem Karton und der Schnee aus der Kanone – damit die Unterländer Sportferien machen können. Grossvater hatte manchmal einen bösen Witz.
Warum aber schaffen es weder Klimawandel, demografische Verschiebungen noch verändertes Freizeitverhalten, den Befehl zum Skifahren aus dem amtlichen Begriff «Sportferien» zu tilgen? Der Befehl ist zwar gutschweizerisch unterschwellig, aber gerade deshalb so wirkmächtig: In den Sportferien hat sich der Schweizer mitsamt der Schweizerin in Begleitung von Kind und Kegel in die Bergwelt zu verschieben, weil die frische Luft dem Leib und der Seele zuträglich ist.
Dahinter steckt nicht Thomas Manns Davos-Roman «Der Zauberberg» oder die TV-Serie «1917», sondern politischer Wille der Grossvater-Generation: Der Bundesrat beschloss 1940, im Rahmen der «geistigen Landesverteidigung», der Jugend in der Bergwelt eine Umgebung zu bieten, in der unter den schwierigen Bedingungen der gebirgigen Natur symbolhaft «Wehrhaftigkeit und Gemeinsinn» erprobt werden sollen. 1941 wurde in Pontresina im Engadin das erste Schweizer Jugendskilager abgehalten.
Das hatte Folgen. Nicht nur, weil dieses Jugendskilager noch heute stattfindet, für 600 Jugendliche, die alljährlich ausgelost werden für eine Woche im Schnee, wenn er denn liegt in der Region Lenk. Wichtiger für die Einprägung des Skifahrens als Betätigung des Volkes war die Gründung der Organisation Jugend & Sport. Russi, Collombin, Nadig und andere hatten gerade in Sapporo olympische Medaillen gewonnen, als im März 1972 das Parlament dem Militärdepartement den Segen gab, mit einem Jahresbudget von 19 Millionen Franken die Jugend zum Sporttreiben zu bewegen.
Seither fliessen Unterstützungsgelder in die Skilager der Schulen mit dem Ziel, dass auch Kinder und Jugendliche aus dem Flachland ohne Grossvater in den Bergen das Skifahren kennenlernen. Dieser Plan geht auf: 1983 flossen knapp 7 Prozent der insgesamt 24,3 Millionen Franken J&S-Unterstützungsgelder in den Skisport, 2023 waren es von den 93,3 Mio. 5,3 Prozent oder fast 5 Millionen Franken.
Die Schneesportlager wurden 2023 mit total 8,6 Millionen Franken von J&S subventioniert, dazu kommen oft Beiträge der Gemeinden. Kurz: Das Lagerleben im Schnee ist beliebt, 110 000 Jugendliche haben laut J&S schweizweit im ersten Jahr nach der Corona-Pandemie an diesem teilgenommen. Die Saat, die seit fünfzig Jahren von Staat und Schule ausgebracht wird, scheint weiterhin Früchte zu tragen.
Anpassung an die Natur
Denn ist der Nachwuchs einmal angestiftet, pflanzt sich die Freude am Schnee fort. Auch deshalb behalten die Sportferien in der Schweiz ihre Bedeutung, dass sich Jung und Alt an der frischen Bergluft sportlicher Betätigung hingeben. Dass sich dies alles anders anfühlen mag als noch vor fünfzig Jahren, ist eine Frage der Anpassung – nicht nur an die Natur unter freiem Himmel, der immer sparsamer mit den Schneeflocken umgeht. Es ist auch eine Frage der Anpassung an die eigene Natur, die eine andere ist als vor fünfzig Jahren.
Statt mit klopfendem Herz zum Grossvater im Holzhaus geht man heutzutage mit dem Portemonnaie direkt zur Skivermietung, statt mit hölzernen Schleppbügeln am Hinterteil lässt man sich in bequemen Sesseln mit Sonnenblenden auf den Hügel fahren. Grossvater würde staunen, wie leicht das Skifahren heute fällt auf den plattgewalzten Teppichen, auf diesen Skis, denen ein leichter Knick in den Knien genügt, damit sie eine Kurve machen. Und wer weiss, vielleicht verleihen sie ja im Laden die Bretter von Marco Odermatt oder Lara Gut-Behrami. Und wenn nicht, kann man immer noch nach denen von Bernhard Russi fragen. Hauptsache: Sportferien!