China baut sein Atomwaffenarsenal aus, Indien wird nervös. Rüste Delhi nuklear auf, werde Pakistan unweigerlich nachziehen, sagt der Sicherheitsexperte Ashley J. Tellis.
Herr Tellis, China baut sein Atomprogramm stetig aus. Was sind die wichtigsten Veränderungen?
Einerseits die reinen Zahlen: Im Kalten Krieg besass China immer rund 200 Atomsprengköpfe. Jetzt sind es schon über 400, und es werden ständig mehr. Andererseits hat sich die Einsatzbereitschaft verändert: Früher lagerte China Sprengköpfe und Raketen separat. Der Gedanke war, dass man diese erst dann einsatzbereit machen würde, wenn man selber angegriffen würde. Dann würde man zu gegebener Zeit zurückschlagen. Heute ist zumindest ein Teil des chinesischen Atomarsenals sehr schnell einsetzbar.
Hat sich auch die Einsatzdoktrin verändert?
Offiziell nicht. China sagt, dass es Atomwaffen nur dann einsetzen werde, wenn es selber mit Atomwaffen angegriffen werde. Das ist die sogenannte «no first use policy». Doch man erhält den Eindruck, dass sich Peking langsam davon abwendet, dass es im grossen geopolitischen Wettkampf mit den USA auch über andere Szenarien nachdenkt.
Ist Chinas Atomwaffenprogramm rein auf die USA ausgerichtet, oder sieht es auch den Einsatz gegen andere Atomstaaten vor?
Die USA sind eindeutig der Treiber für die nukleare Aufrüstung Chinas. Aber alles, was China in dem Bereich zur Abschreckung der USA tut, gilt auch für Russland. Denn die Bedrohungsszenarien, die Fähigkeiten dieser beiden Länder sind vergleichbar. Das hat den Vorteil, dass China bei seinen Aktivitäten Russland nicht nennen muss – aber es ist immer mitgemeint.
Zur Person
Ashley J. Tellis, Sicherheitsexperte
Ashley J. Tellis ist an der Carnegie Endowment for International Peace in Washington Experte für internationale Sicherheit und die Aussen- und Verteidigungspolitik der USA mit Schwerpunkt auf dem indischen Subkontinent. In seiner früheren Tätigkeit im State Department war er massgeblich an der Aushandlung des zivilen Atomabkommens mit Indien beteiligt.
Ist auch Indien ein Ziel für China?
Neben den strategischen Systemen – die klar gegen die USA und Russland gerichtet sind – verfügt China über eine zunehmende Zahl von Atomwaffen, die auf dem Schlachtfeld eingesetzt werden können. Es hat eine sogenannte «theater nuclear capability». Und diese würden vor allem gegen regionale Gegner zum Zug kommen, also Indien, aber auch Japan, die Philippinen oder Australien. China denkt also nicht bloss über einen Konflikt mit den atomaren Supermächten nach.
Japan, die Philippinen, Australien – diese Länder haben alle keine Atomwaffen. Ein chinesischer Atomeinsatz gegen sie wäre per Definition ein Ersteinsatz . . .
Absolut richtig. Genau hier wird die Aufweichung der chinesischen Doktrin zu einem Thema. Aber dieses Szenario ist nur im Kontext eines Krieges vorstellbar, in dem diese Alliierten an der Seite der USA gegen China kämpfen.
Schauen wir auf Indien und Pakistan, zwei Atomstaaten, die verfeindet sind. Wie ist die Situation in Südasien?
Die grössten Veränderungen sehe ich bei Pakistan. Offiziell ist das pakistanische Atomprogramm allein zur Abschreckung Indiens da. Doch es ist offensichtlich, dass Pakistan seine Atomwaffen auch zur Absicherung gegen die USA sieht und – aus schwerer nachvollziehbaren Gründen – auch gegen Israel.
Das müssen Sie erklären. Beginnen wir bei den USA . . .
Nach 9/11 gab es in den USA Diskussionen, in Pakistan einzumarschieren und das dortige Atomprogramm zu stoppen. Davor fürchtet sich Islamabad noch heute.
Das ist nachvollziehbar. Aber Israel?
Der erste Grund ist ideologisch: Pakistan nimmt Israel als Gegner der gesamten islamischen Welt war. Als einziger muslimischer Staat mit Atomwaffen sieht sich Pakistan in einer Situation, in der es seinen muslimischen Glaubensbrüdern Schutz bieten soll. Der zweite Grund ist, dass sich in den letzten Jahren Israel und Indien angenähert haben. Das ist für Pakistan bedrohlich.
Hat Pakistan denn überhaupt die Mittel, Israel und die USA anzugreifen? Israel ist mehr als 2500 Kilometer von Pakistan entfernt, die USA ein Vielfaches davon.
Israel liegt in der Reichweite pakistanischer Raketen. Immer wieder wird in Pakistan auch darüber diskutiert, Interkontinentalraketen zu bauen. Doch es ist gar nicht nötig, amerikanische Grossstädte angreifen zu können.
Sie denken wohl an die grossen Militärbasen, welche die USA am Persischen Golf betreiben. Bahrain oder Kuwait etwa sind deutlich näher an Pakistan als Israel.
Genau. Und die US Navy kreuzt ständig in Gewässern unweit von Pakistan. Flottenverbände sind auch ein mögliches Ziel.
Und Indien schaut der chinesischen Aufrüstung und den pakistanischen Gedankenspielen untätig zu?
Die Veränderungen in Indien sind bis jetzt minimal. Indien hat eine sehr zurückhaltende Einstellung gegenüber Atomwaffen: Es geht davon aus, dass es reicht, eine kleine Anzahl von Sprengköpfen zu haben, mit denen man bei einem Angriff zurückschlagen könnte. So kann man auch einen viel stärkeren Gegner – etwa China – davon abschrecken, überhaupt erst zu Atomwaffen zu greifen.
Das entspricht ziemlich genau der traditionellen chinesischen Einstellung gegenüber den USA. Jetzt baut China sein Arsenal aus, weil es befürchtet, dass die amerikanische Raketenabwehr seine Fähigkeit, zurückzuschlagen, massiv reduziert. Kommt Indien nun nicht in die gleichen Lage, wenn China aufrüstet? Gerät Delhi unter Zugzwang?
Die Analogie passt gut. Das indische Denken über den Einsatz von Atomwaffen gegen China entspricht fast identisch dem chinesischen Denken gegenüber den USA während des Kalten Krieges. Die Frage ist nun: Welche Schritte Chinas lösen eine Reaktion Indiens aus? Eine Möglichkeit wäre, wenn China eine starke Raketenabwehr baut – dann können Indiens Raketen ihre Ziele nicht mehr erreichen. Oder wenn China zusätzliche Mittel entwickeln würde, um Indiens Arsenal am Boden zu zerstören. Eine klare Antwort auf Ihre Frage gibt es nicht.
Amerikanische Quellen berichten, dass China Vorbereitungen treffe, sein Atomtest-Zentrum in Lop Nur wieder in Betrieb zu nehmen. Was würde ein chinesischer Atomtest für die Region bedeuten?
Wenn die Chinesen offen testen, löst das eine Kettenreaktion aus. Indien hat bisher erst drei Atomtests durchgeführt. Der einzige Grund, warum Indien nicht weitere Tests durchführt, liegt darin, dass sich alle verantwortungsvollen Staaten seit 1998 an das Atomtestmoratorium halten – Nordkorea ist die Ausnahme. Aber China ist ein permanentes Mitglied des Uno-Sicherheitsrats. Ich sehe nicht, wie sich Indien zurückhalten könnte, wenn China testen würde.
Und Pakistan würde wohl das Gleiche tun.
Pakistan würde innert Stunden auf einen indischen Test mit einem eigenen Test reagieren. Da können Sie sich sicher sein.