Die Philadelphia Eagles könnten sich in der Nacht auf Montag zum Super-Bowl-Champion krönen. Die Stadt ist so berüchtigt für ihre rabiate Fankultur, dass es im Football-Stadion einst einen eigenen Knast gab.
Man muss ja immer höllisch aufpassen, wenn Fans gelobt werden. Gerade Profifussballer lügen einem mit der unverfrorensten Dreistigkeit schnell einmal in eine Kamera, dass sie «die besten Fans der Liga» hätten. Wenn nicht der Welt. Und sie tun das auch dann noch, wenn sie in Hoffenheim, Salzburg oder Wil gelandet sind.
Bei Nick Sirianni lässt sich als Entschuldigung anführen, dass er es als Amerikaner nicht besser wissen kann. Die nordamerikanischen Champions in Baseball und American Football müssen sich in ihrem zwanghaften Grössenwahn schliesslich auch bei jeder Gelegenheit «world champions» nennen, obwohl sie nur eine Meisterschaft gewonnen haben.
Jedenfalls ist nicht bekannt, wie viel Sirianni, der Coach des American-Football-Teams Philadelphia Eagles, über Fankultur weiss, ob er schon einmal nach Südamerika gereist ist oder in die Valascia, das legendäre Stadion von Ambri-Piotta. Man möge es ihm nachsehen. Zumal er sein billiges Lob mit zwei Zusätzen untermalte. Nicht nur die besten Fans habe Philadelphia. Sondern auch noch die härtesten. Es sei der feindseligste Ort der Welt.
Der letzte Satz ist selbstverständlich falsch, das weiss schon nur, wer im Rahmen des Fussball-Europacups einmal in den wilden Osten gereist ist, wo man am Spieltag durchaus Hiebe kassieren kann, wenn man schon nur der lokalen Sprache nicht mächtig ist und ein Textil in der falschen Farbe trägt.
Schneebälle für den Weihnachtsmann und Rocky Balboa als lokaler Volksheld
Für die USA aber, deren Sport- und vor allem Fankultur vom Rest der Welt berechtigterweise eher belächelt wird, ist Philadelphia tatsächlich berüchtigt. Das Narrativ hält sich hartnäckig, seit frustrierte Zuschauer 1968 an einem Eagles-Spiel einen als Weihnachtsmann verkleideten Pausenunterhalter mit Schneebällen, Bierflaschen und Sandwiches bewarfen. Das Vorkommnis wurde bei jeder Gelegenheit von TV-Kommentatoren wieder hervorgekramt, es wurde irgendwann zum Klischee mit vergleichbarem Wahrheitsgehalt wie jenem der Behauptung, dass es in der Schweiz nichts gebe ausser Banken, Berge, Schokolade, Uhren und Hinterwäldler. Sprich: Ganz falsch ist es nicht.
Bis zum Jahr 1800 war Philadelphia kurz die Hauptstadt der USA, aber an der Ostküste des Landes steht die Metropole im Schatten der Glitzerwelt New York City, und das politische Machtzentrum hat sich nach Washington verschoben. Philadelphia ist eine Arbeiterstadt, deren rauer Charme sich einem vielleicht nicht im ersten Moment erschliesst. Es ist ein Pflaster für Aussenseiter.
Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass eine der bedeutsamsten Underdog-Geschichten der Filmgeschichte für immer untrennbar mit Philadelphia verwoben ist: Sylvester Stallone machte hier Rocky Balboa unsterblich, den bildungsfernen und aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Boxer. Man sieht Rocky, wie er in der Fleischerei auf gefrorene Kuhhälften einschlägt, bevor er zum Superstar aufsteigt. Einmal sagt er: «Wer mich schlagen will, muss mich schon töten.»
Es ist ein Spirit, der zum Mythos Philly passt. Unabhängig von der Sportart, dem Status und den Meriten werden Athleten hier gnadenlos ausgepfiffen, wenn nur ansatzweise der Verdacht besteht, dass sie etwas zu gnädig mit sich sein könnten. Grenzübertretungen gab es auch in den schummrigen Bars der Stadt.
Die Basketball-Lichtgestalt Charles Barkley warf einmal einen besonders vorlauten Fan aus dem Fenster des ersten Stocks. Und antwortete später vor Gericht auf die Frage, ob er etwas bereue: «Ja, dass er nicht aus einer höheren Etage geflogen ist.» Barkley war bei weitem nicht der einzige Athlet mit einer komplexen Beziehung zu diesem anspruchsvollen Anhang, viele bezeichnen sie als eine Art Hassliebe.
Einer, der sich in diesem Biotop bewegt hat, ist der Schweizer Eishockey-Pionier Mark Streit. Streit, 47, spielte zwischen 2013 und 2017 für die Philadelphia Flyers. Er sagt: «Es hat nicht lange gedauert, bis ich ausgebuht wurde. Aber das gehört in Philadelphia dazu. Wenn die Leute merken, dass du bereit bist, für deine Farben zu bluten, dann akzeptieren sie dich.» Und er fügt an: «Als wir eine schlechte Phase hatten, hat sich ein Fan eine braune Papiertüte über den Kopf gezogen. Das Signal war: ‹Ich liebe die Flyers auch in schlechten Zeiten, aber ich schäme mich für diese Leistungen.› Ich fand das ziemlich witzig. Und es sagt schon etwas über die Sportkultur in dieser Stadt aus. Für viele Leute ist ihr Team wichtiger als Religion.»
Die Flyers kultivierten das Image des wilden, rowdyhaften Philly während ihrer «Broad Street Bullies»-Phase in den 1970er Jahren, in welcher sie die Gegnerschaft mit regelmässigen Keilereien einschüchterten. Seit ein paar Jahren haben die Flyers das legendärste Maskottchen im amerikanischen Sport. Es heisst Gritty, selbstverständlich, und ist optisch aus jenem Stoff, dem Kinderalbträume entspringen.
Die «pole patrol» hat Philadelphia weltexklusiv
Das Stadion der Flyers liegt im Süden der Stadt, unmittelbar daneben stehen die Arenen der Phillies (Baseball) und der Eagles (American Football). Bis kurz nach der Jahrtausendwende hatten sich die beiden Teams das Veterans Stadium geteilt. Es war eine legendäre Trutzburg von so archaischem Charakter, dass die Behörden irgendwann einfach einen eigenen Knast und ein Gerichtsgebäude einbauen liessen, weil es andauernd zu Zwischenfällen kam. Gegenspieler wurden mit Batterien beworfen. Es gab Schlägereien auf der Tribüne.
Die meisten Delikte aber, das sei zur Ehrenrettung erwähnt, waren Bagatellen – es reichte schon, Alkohol ins Stadion zu schmuggeln. Selbstverständlich darf man sich in den USA bei Sportveranstaltungen gerne bis nahe an die Besinnungslosigkeit besaufen. Aber gefälligst nur dann, wenn man den milliardenschweren Teambesitzern im Stadioninnern 17 Dollar pro Bier zahlt.
OMG I JUST WATCHED A MAN DIE pic.twitter.com/oZHBmDajJa
— max (@MaxOnTwitter) February 5, 2018
Das Veterans Stadium ist vor knapp zwei Jahrzehnten gesprengt worden. Die Fankultur in Philadelphia ist heute weit weniger rabiat als einst. Die Sicherheitsvorkehrungen sind massiv verschärft worden – und seit ausschliesslich Milliardäre die grossen Sportteams kontrollieren, können sich viele aus der Working Class die Matchbesuche nicht mehr leisten.
Bevor sich in der Nacht auf Montag die Philadelphia Eagles mit den Kansas City Chiefs in New Orleans im Super-Bowl duellieren, lässt sich aber noch einmal beobachten, dass sich die Stadt durchaus Eigenheiten bewahrt hat: Die Bürgermeisterin Cherelle Parker sagte am Freitag: «Ich flehe euch an, bitte steigt nicht auf die Strassenlampen.»
Weil Parker aber weiss, dass gute Vorsätze im Moment der Ekstase nichts helfen, ist Philly die einzige Stadt der Welt mit einer «pole patrol»: Polizisten, die vor den ganz grossen Gassenhauern unter den Sportveranstaltungen die Laternenmaste in der Innenstadt mit Öl einreiben, damit man sie nicht erklimmen kann. Bei Meisterfeiern ist das in der Stadt zu einer eigenartigen Tradition geworden. Als möchte der Anhang sagen: Zumindest an Unverantwortlichkeit haben wir nichts eingebüsst.
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