Digitale Rekonstruktionen stellen nicht nur dar, wie ein Ort in der Antike aussah. Archäologen kommen mit ihrer Hilfe auch der Lebenswirklichkeit der Menschen damals näher als je zuvor.
Undenkbar, einen Text so zu beginnen: «Den Staat und euer aller Leben, Vermögen, Wohlstand, eure Gattinnen und Kinder, und diesen Sitz des ruhmvollsten Reiches, diese hochbeglückte und herrliche Stadt» – 23 Wörter und immer noch kein Verb, keine Zeitungsredaktion würde das durchgehen lassen. Erst nach 35 weiteren Wörtern kommt ganz am Ende des Satzes endlich die Auflösung: Staat und Leben, Kinder und Stadt «seht ihr gerettet und euch wieder geschenkt». Undenkbar, dass man dem Redner, der diese Worte vortrug, folgen konnte.
Der Redner war der römische Politiker Cicero. Und für Lateinschüler, die sich mit seinen Texten plagen, mag es ein geringer Trost sein, aber: Auch vor 2000 Jahren auf dem Forum Romanum, wo Cicero sprach, haben nicht alle den Mann genau verstanden – die Akustik war viel zu schlecht. Das ist das Ergebnis archäologischer Forschung mit allerneuster Technik, der digitalen Nachbildung von Gebäuden und Orten, in diesem Fall: des Forum Romanum.
Laien lieben solche detailgetreuen Nachbildungen, also Rekonstruktionen. Es wäre allzu extrem ausgedrückt zu sagen, Archäologen hassten sie. Aber sie stehen ihnen oft sehr skeptisch gegenüber und setzen sie nur sparsam ein. Denn Bilder sind wirkmächtig und suggerieren eine Gewissheit, die es nicht geben kann.
Doch gerade die – noch – mit besonders vielen Vorbehalten betrachteten digitalen Rekonstruktionen bieten inzwischen nie geahnte Möglichkeiten der Simulation. Sie machen nicht mehr nur Wissen besser begreifbar, sondern werden zu eigenen Forschungsinstrumenten. Mit ihrer Hilfe kommen Wissenschafter der Lebenswelt der Menschen vor Tausenden von Jahren näher als je zuvor.
Der wiederaufgebaute Palast von Knossos auf Kreta ist der Albtraum aller Archäologen
Wenn Archäologen beim Thema Rekonstruktionen aufstöhnen, dann, weil sie diesbezüglich schlechte Erfahrungen gemacht haben. Bis weit über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus wurde an Statuen, Keramikgefässen, Gebäuden und erst recht in Darstellungen auf Papier freimütig ergänzt, was fehlte – und das oft mehr auf Basis des Zeitgeistes als auf Basis archäologischer Plausibilität.
Ein besonders unbeliebtes Beispiel ist der sogenannte Palast von Knossos auf Kreta, ein riesiges Gebäude aus der Bronzezeit, etwa 4000 Jahre alt. Dessen Ausgräber Arthur Evans liess hier ab den 1920er Jahren in Beton wiedererrichten, was nie da gewesen war. Ein Maler fügte die Fragmente der Wandmalereien zusammen, nicht nach wissenschaftlichen, sondern nach ästhetischen Gesichtspunkten.
Über das Ergebnis schrieb die britische Altertumswissenschafterin Mary Beard einmal, als Faustregel zu Knossos gelte: «Je berühmter ein Motiv heute ist, desto weniger davon ist tatsächlich alt.» Selbst Archäologen können hier kaum unterscheiden, was echt ist und was falsch. Selbst Archäologen haben Mühe, sich der Suggestivkraft der dreidimensional im Raum stehenden Architektur zu entziehen.
Archäologen mögen Rekonstruktionen nicht: Sie sind zu suggestiv
Das ist Fluch und Segen von Rekonstruktionen in der Archäologie: Ohne Rekonstruktion ist es schwer, sich etwas vorzustellen. Mit Rekonstruktion ist es schwer, sich etwas je wieder anders vorzustellen.
Rekonstruktionen im Gelände sind heute eher die Ausnahme. Selbst beim von den islamistischen Terroristen des IS zerstörten Triumphbogen von Palmyra in Syrien sind nicht alle Fachleute für einen Wiederaufbau. Denn auch die Zerstörung ist Teil der Geschichte einer antiken Stätte. Und auch zur Zeit der Nutzung in der Antike haben diese Orte in der Regel nicht immer gleich ausgesehen, sondern wurden vielfach umgebaut. Bei jeder Rekonstruktion muss man sich deshalb entscheiden, welche Phase, welchen Zustand man wiederherstellen will.
Das gilt auch für digitale Rekonstruktionen, doch immerhin lassen sich hier beliebig viele Versionen nebeneinanderstellen. Zudem sind sie komplett reversibel, und mit wenigen Klicks am Computer können sie sich an den neusten Forschungsstand anpassen.
Trotzdem haben viele Archäologen auch gegen die Nachbildung auf dem Bildschirm Vorbehalte. Digitale Rekonstruktion, das klingt zu sehr nach Computerspielen, deren Handlung in der Vergangenheit angesiedelt ist und bei denen Archäologen sich immer nur über die vielen historischen Fehler aufregen.
Das Forum Romanum wird digital in allen Bauphasen rekonstruiert
Auch Susanne Muth ärgert sich über die Fehler in Computerspielen: «Unglaublich, wie unnötig schlecht ist das denn gemacht?», habe sie bei einem beliebten Spiel gedacht. Aber sie sieht auch die neuen Möglichkeiten, die diese digitalen Techniken für die Forschung bringen. «Die Vergangenheit ist immer nur fragmentarisch überliefert. Wir haben keine andere Chance als die Rekonstruktion», sagt sie.
Muth ist Professorin für Klassische Archäologie an der Humboldt- Universität in Berlin. Seit 2011 arbeitet sie dort mit Studierenden und Mitarbeitern an einer digitalen Rekonstruktion des Forum Romanum, des Zentrums des öffentlichen Lebens im Rom der Antike. Hier stand das Senatsgebäude, hier wurden Gerichtsverhandlungen abgehalten, hier wurde Handel getrieben, hier brannte im Tempel der Göttin Vesta ein ewiges Feuer, das nie ausgehen durfte.
Wer heute in Rom das Forum besucht, findet «eine sehr stimmungsvolle Ruinenlandschaft, aber man hat kaum eine Chance, es zu verstehen», sagt Muth im Gespräch per Videotelefonie. «Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, es verständlich zu machen.» Das digitale Modell ist deshalb im Netz frei zugänglich.
Das Forum existierte bereits um 600 v. Chr. als zentraler Platz und blieb es bis ins 4. nachchristliche Jahrhundert, und es veränderte sich ständig. Die Archäologen in Berlin erstellen deshalb für jede Phase ein eigenes digitales Architekturmodell. «Ich ahnte 2011 noch nicht, wie schwierig das selbst bei einzelnen Gebäuden ist», erzählt Muth.
So kann man nachvollziehen, wie es zur Zeit Cäsars um 50 v. Chr. war, über das Forum zu spazieren, und was sich unter Kaiser Augustus verändert hatte: der uralte Tempel der Dioskuren abgerissen und neu errichtet, der Tempel für den vergöttlichten Cäsar hinzugekommen, ein Triumphbogen für den Sieg über die Parther.
Aber das Modell dient nicht nur dazu, die Gebäude wiederauferstehen zu lassen. Es hilft auch, solche Umbauten zu verstehen.
Visuelle und akustische Simulationen auf dem digitalen Forum Romanum
Wenn Gebäude hinzukamen, vergrössert oder abgerissen wurden, erklären Archäologen das oft mit Symbolik, zum Beispiel als Machtdemonstration eines Kaisers, der die Spuren eines unbeliebten Vorgängers beseitigen wollte. «Die Versuchung ist gross, das Forum als Bühne der grossen Politik zu interpretieren und bekannte historische Ereignisse als Begründung für Veränderungen heranzuziehen», sagt Muth.
Sie fügt dem eine oft viel zu wenig beachtete Dimension hinzu: die pragmatische, funktionelle. «Warum steht das Gebäude da, und warum sieht es so aus? Wenn wir etwas historisch erklären wollen, müssen wir die Bedürfnisse der Menschen damals verstehen», sagt sie.
Zum Beispiel die Bedürfnisse Cäsars. Er liess die alte, traditionsbehaftete Rednertribüne auf dem Forum abreissen und an einer anderen Stelle eine neue errichten. «Da hiess es immer, das sei ein Symbol des Machtanspruches Cäsars gewesen», erklärt Muth. Sie fand das noch nie so wirklich plausibel. «Ich glaube, es war viel simpler: Es gab einen Bedarf.» Mit dem digitalen Modell konnte sie ausprobieren, worin dieser Bedarf bestand. Denn das Modell ermöglicht visuelle und akustische Simulationen.
«Ich kann nicht sehen und hören und fühlen wie diese Menschen. Aber ich kann versuchen, so nah wie möglich an sie heranzukommen», sagt Muth. Man kann sich zum Beispiel durch ein paar Mausklicks immer weiter von der Tribüne wegbewegen und ausprobieren, ob man einen auf dem Podium stehenden Redner noch sehen kann. Cäsars Bedürfnis: Mehr Anwesende sollen den Redner sehen können. Der Umbau: Die neue Tribüne war höher als die alte.
Wie viele Menschen konnten Ciceros Rede auf dem Forum gut hören?
Von Cäsar ist bekannt, dass er Reden auf dem Forum hielt, die Texte sind aber nicht erhalten. Anders ist das, wie eingangs erwähnt, bei Cicero. Also liess Muth einen Schauspieler in einem schalltoten Raum Ciceros Rede gegen den Aufständischen Catilina einsprechen, die er am 3. Dezember 63 v. Chr. auf dem Forum hielt. Und Audio-Spezialisten nahmen auf dem Petersplatz in Rom die Geräuschkulisse vor einer Ansprache des Papstes auf. Beide Tonspuren luden die Archäologen in das Modell.
«Wir haben Annahmen getroffen, wie viele Menschen pro Quadratmeter da standen – sagen wir mal: vier –, und dann simuliert, bis wohin der Redner akustisch gut zu verstehen war, also wie viele Menschen er erreichte», erklärt Muth. Cäsars Bedürfnis: Möglichst viele Anwesende sollen den Redner hören können. «An der alten Position waren es nach einer solchen Rechnung etwa 19 000, an der neuen ungefähr 23 000.» Zwar lasse sich nie die historische Realität rekonstruieren, und man wisse nicht, wie eng die Menschen wirklich beieinanderstanden. Aber es mache die Grössenordnung und die relativen Verhältnisse deutlich: «Es waren signifikant mehr Leute.»
Der Versuch machte noch etwas klar: Cicero und seine Zeitgenossen hielten ihre Reden nicht, sie schrien sie. Nur so waren zumindest die wichtigen Worte bis ganz hinten zu verstehen. Der Schauspieler musste nach jedem Satz eine Pause machen und Kraft sammeln.
Das digitale Modell des Forum Romanum wird weiter ausgebaut
Das Einzige, was Archäologen noch weniger mögen als Rekonstruktionen, sind Rekonstruktionen mit Menschen darin. Aber damit man die Sicht- und Hörverhältnisse testen konnte, mussten zwangsläufig Figuren ins Bild. Um sich nicht selbst festlegen zu müssen, wie die Menschen damals aussahen, nutzten Muth und ihre Mitarbeiter anfangs verschiedene antike Statuen in passendem Massstab als Stellvertreter. Aber diese Motive lenkten die Betrachter, seien es Studierende oder die interessierte Öffentlichkeit, ab. Als sie menschliche Figuren einführten, kritisierte ein Kollege, die seien ja nackt.
Jetzt haben die Figuren Frisuren und Kleidung – und die sogar in unterschiedlichen Farben. Die Gebäude sind vornehmlich grau – noch. An der Kolorierung arbeiten sie gerade, auch das ist ungewöhnlich. «Archäologen wollen sich nicht festlegen. Sie sagen oft: ‹Wir wissen nicht, war dieses oder jenes Architekturteil hellrot oder dunkelrot, na, dann machen wir es lieber gar nicht farbig, sondern grau.› Aber das ist nicht wissenschaftlicher – grau war es ja auf keinen Fall», sagt Muth. «Und alles, was wir weglassen, vermittelt: Das hat keine Rolle gespielt. Das ist eigentlich unhistorischer.»
Sie testen nun auch die akustischen Verhältnisse in rekonstruierten Innenräumen. «Dank künstlicher Intelligenz und der Technik aus den Computerspielen kann man die Mimik von Rednern darstellen und herausfinden, wie gut man die von den hinteren Plätzen sehen konnte», sagt Muth.
Auch andere Archäologen nutzen die neuen Methoden. Eine Gruppe testet bei nur als Ruine erhaltenen Gebäuden per Modell, wie gut einzelne Räume einst belichtet und belüftet waren und für welche Nutzung sie infrage kommen. Andere simulieren den Sonnenstand im Tages- und Jahreslauf und finden so heraus, wann Gebäudeteile, Statuen oder Inschriften in Licht oder Schatten lagen.
Susanne Muth übrigens findet Ciceros Reden auch «kein Vergnügen, der kommt ja kaum zum Punkt». Der Vorteil der digitalen Rekonstruktion aber ist: Wenn man keine Lust mehr auf Cicero hat, kann man den Ton einfach abdrehen.
Ein Artikel aus der «»