Man muss nicht in Ostdeutschland gelebt haben, um über den Stasi-Staat einen Roman schreiben zu dürfen. Die Fragestellung ist dennoch komplexer, als es den Anschein hat.
Manchmal treibt das Kulturleben kuriose Blüten. Vor einem Jahr wurde unter Schriftstellern und in den Feuilletons heftig darüber diskutiert, wer wie über die mittlerweile vor fünfunddreissig Jahren untergegangene DDR schreiben darf. Anlass war der Stasi-Roman «Gittersee», verfasst von Charlotte Gneuss.
Die 1992 im baden-württembergischen Ludwigsburg geborene Autorin masse sich an, über ein Land zu schreiben, das sie nur aus den Erzählungen ihrer ostdeutschen Eltern kenne. Ausserdem sei der Roman voller Fehler. Man habe in den siebziger Jahren in der DDR nicht «lecker» gesagt und auch nicht «Plastiktüte», sondern «Plastetüte».
Der Kollege Ingo Schulze hatte für S. Fischer, den Verlag beider Schriftsteller, einen Katalog an Korrigenda erstellt, der bald als «Mängelliste» bezeichnet wurde. War das Hilfestellung oder paternalistische Einmischung? Gibt der aus Dresden stammende Original-Ostdeutsche der dreissig Jahre jüngeren und im Nachwendedeutschland aufgewachsenen Autorin Geschichtsunterricht?
Dass die Debatte sehr viel interessanter ist, als man bei oberflächlicher Betrachtung meinen möchte, zeigt jetzt die neue Ausgabe der renommierten Denk- und Literaturzeitschrift «Neue Rundschau». Sie trägt den Titel «Diktatur und Utopie. Wie erzählen wir die DDR?» und wurde von Charlotte Gneuss herausgegeben. Einer der Beiträger: Ingo Schulze. Es scheint wieder alles gut, aber Friedenspfeifenprosa findet man dennoch nicht in einem Heft, in dem die «Konstruktion kultureller Gedächtnisräume» hinterfragt werden soll, wie Gneuss in ihrem Vorwort schreibt.
Komplizierte Erinnerung
Vielleicht liegt es am Lügenstaat DDR, dass in der Erinnerung an ihn die Wahrheitsfanatiker besonders laut sind? Literatur will gar keine exakten historischen Abhandlungen liefern, das machen gleich zu Beginn zwei Autoren mit Ostbiografien deutlich, Julia Schoch und Uwe Kolbe. «Die Literatur ist nicht der Ort, an dem wir versuchen sollten, verlässlich in Erfahrung zu bringen, wie etwas gewesen ist. Wobei die Betonung auf verlässlich liegt», schreibt Schoch. An den Rändern der Romane muss die Wirklichkeit ausfransen dürfen, sonst wären es ja keine Romane.
Uwe Kolbe verweist darauf, dass Kunst generell mit dem «Fehler» arbeitet, um das zu zeigen, was sie zeigen will. «Wahrheit ist die Kategorie, die unmittelbar zum Krieg führt», notiert der 1957 in Ostberlin geborene Schriftsteller ziemlich hart. Und er verweist auf die Pervertierung des Begriffs Wahrheit durch den sozialistischen Realismus.
Darf sich also jeder seine DDR irgendwie zusammenerfinden? So sei die Sache nun auch wieder nicht, meint der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Mit seinem Text wühlt er im freudianischen Unbewussten der ostdeutschen Seele, wenn er den Schriftsteller Uwe Johnson zitiert. Der hatte auf das komplizierte Verhältnis der Bürger zum Vater Staat hingewiesen.
Was Johnson schon 1970 geschrieben hat, könnte noch heute als Leseanleitung für die Befindlichkeiten in den sogenannten neuen Bundesländern gelten: Die Menschen «reden von der DDR mit einem Abstand, der auch Achtung zu verstehen gibt, mit einer Vertrautheit, die eher aus intimer Kenntnis denn aus ungemischter Zuneigung gewachsen ist. Sie fordern den ehemaligen Vormund in die Rolle des Partners, noch im Zorn verlangen sie das Gespräch mit ihm.»
Das abrupte Ende des Staates hat auch ein abruptes Ende all der imaginären Dialoge bedeutet, die seine Bürger mit ihm führten. Da wäre noch vieles offen, noch vieles auszudiskutieren gewesen. Vielleicht klingt der Osten Deutschlands deshalb manchmal so, als würde er in einem Monolog vor sich hin murmeln, den nur Eingeweihte verstehen.
Professionelle DDR-Erklärer
Die vierzehn Beiträge der «Neuen Rundschau» wollen nicht monologisieren, sie wollen erklären. Ines Geipel erinnert in ihrem Text an eine bis heute verdrängte, vergessene und fragmentarisch gebliebene Literatur. An die Werke von Autoren, die tatsächlich mit ihrer Wahrheit in der DDR zu überleben versuchten und unterdrückt wurden.
Vieles aus diesen «poetischen Schmerzräumen» wäre zu entdecken gewesen, aber jenseits der Mauer haben diese Stimmen niemand interessiert. «Im Klima des linksliberalen Kulturwestens begegnete man ihnen mit herber Skepsis», schreibt Ines Geipel. «Sie waren die kalten Krieger, die Renegaten, die Utopieverweigerer. Zuchthaus, Gulag, Zensur, geschasste Literaten, mithin politische Evidenz waren nicht das, worauf die Feuilletons der Bundesrepublik gewartet hatten.»
Diese Zustände der Verfemtheit sind bis heute oft ungebrochen, während ein paar wenige zu professionellen DDR-Erklärern geworden sind. Dirk Oschmann hat im Vorjahr mit seinem Buch «Der Osten: eine westdeutsche Erfindung» den Versuch unternommen, die Gefühlslagen einer sich historisch, wirtschaftlich und kulturell überrumpelt fühlenden Bevölkerungsgruppe verstehbar zu machen.
Sein Beitrag entbehrt nicht einer gewissen Ironie, weil die intellektuelle Selbsterfindung des späteren Germanistikprofessors einer freiwillig gestatteten Kolonialisierung gleichkommt. Er habe 1989 die hundert D-Mark, das damalige Begrüssungsgeld für DDR-Bürger, in Westberlin für Bücher aus dem Suhrkamp-Verlag ausgegeben. Für Ernst Bloch, Walter Benjamin, Theodor Adorno. Und Uwe Johnson.