Jonas Hassen Khemiri stellt in seinem Roman «Die Schwestern» eine Frage, die sich viele heute stellen. Er antwortet mit einem grandiosen Verwirrspiel.
Könnte der schwedisch-tunesische Autor Jonas Hassen Khemiri ein neuer Jonathan Franzen sein? Die «New York Times» hat diese Frage gerade gestellt und sich selbst eine skeptische Antwort gegeben. Was vor über zwanzig Jahren mit den «Korrekturen» international gelungen ist, scheine heute kaum noch möglich. Zu kurz seien die Aufmerksamkeitsspannen des Lesebetriebs.
Franzens verwickelte Familiengeschichte hatte 638 Seiten. Das Vergleichsobjekt, Khemiris faszinierender Roman «Die Schwestern», bringt es auf 736 Seiten. Es ist ein wuchtiges Ding, und in seiner deutschen Übersetzung eine erste Ansage für den kommenden Bücherherbst. Mit delirierender Leichtigkeit wird hier durch die Zeiten manövriert und um das Thema Familie herumfabuliert. Bald autobiografisch, bald frei erfunden.
«Die Schwestern» zeigt den Menschen, manchen gängigen Theorien zum Trotz, als aufreizend identitätsfluides Wesen. Das hat in diesem Fall nichts mit dem Geschlecht zu tun, sondern mit einer simplen Tatsache. Wir sind nicht ein Leben lang dieselben. Oft sind wir nicht einmal die, für die wir uns halten. Also: Wer sind wir überhaupt?
Kunststück, dass sich das im Roman «Die Schwestern» so gut wie jeder fragt. Vor allem der Ich-Erzähler, der schon aus Verwirrungszwecken genauso heisst wie sein Autor: Jonas Hassen Khemiri. Ina, Evelyn und Anastasia, das in Stockholm lebende Titeltrio, hat einen schwedischen Vater mit Nachnamen Mikkola. Die Mutter ist Tunesierin. Sie ist Handelsreisende für Teppiche. Der Vater ist lange tot. Er war früher eine mittelberühmte Grösse der örtlichen Keytar-Szene und soll diesem Instrument, einer Mischung aus Gitarre und Keyboard, ziemlich brauchbare Töne entlockt haben.
Ein unaufgelöstes Mysterium
In der Nachbarschaft der Mikkolas gibt es ein familiäres Komplementärphänomen. Einen tunesischen Vater, der mit einer Schwedin drei Söhne gezeugt hat. Und hier kommt der Erzähler ins Spiel. Er schreibt die Geschichte der Schwestern auf, beginnt mit einem Silvester-Clubbing zur Millenniumswende, bei dem die drei wie unter einem Stroboskoplicht zum ersten Mal in ihren Eigenschaften sichtbar werden. Ina, die Pedantische und Vernünftige. Evelyn, die Geschichtenerfinderin, die es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Und Anastasia, die Jüngste, charismatisch, aber etwas verloren.
Im Jahr 2000 sind die Schwestern um die zwanzig, und dass Jonas Hassen Khemiri in seiner Geschichte noch ein kleines Stück zurückgeht, hat einen guten Grund. Evelyn und der Ich-Erzähler waren in ihrer Kindheit Freunde. Gerade als sich unter den Heranwachsenden ernstere Gefühle hätten einstellen können, hat man sich aus den Augen verloren. Sehnsucht und Suche nach Evelyn treiben den Schreibvorgang von Khemiris Alter Ego an. Es ist ein Mysterium, das hier auf sehr sanfte Weise lauert, und vielleicht hätte der Roman auch «Die Halbschwester» heissen können.
«Die Schwestern» ist mit enormem Raffinement gemacht. Seine Tricks bleiben demjenigen verborgen, der die Geschichte einfach so wegliest. Das allerdings kann man bei diesem Roman auch machen. Der Autor hat ihn spiralförmig aufgebaut. Der erste Teil beschreibt ein ganzes Jahr, der zweite sechs Monate, dann sind es drei Monate und so weiter. Am Schluss, in einem fiktiven Jahr 2035, wird nur noch eine einzige Minute in allen Details beschrieben.
Auch wenn hier Lebensgeschichten erzählt werden, wehrt sich das Innere des Romans gegen alles Lineare. Es ist auch keine Migrationsgeschichte, kein grosses Herkunfts- und Ankunftsepos mit verlorenen oder gefundenen Heimaten. «Die Schwestern» zeigt die Verwirbelungen des Ichs und gibt die aktuellen Koordinaten durch.
Der Autor als Wiedergänger im Buch
Ina, Evelyn und Anastasia machen jede auf ihre Art Karriere. Sie heiraten, bekommen Kinder. Sie können manchmal schwedischer sein als die Schweden. Die Wurzeln sind nur ein Teil des Ganzen, das da herauswächst in der migrantisch zweiten Generation. Jonas Hassen Khemiris Buch ist identitätsthematisch nicht am Prinzip von Ursache und Wirkung entlanggeschrieben, es zeigt etwas Fliessendes, zeigt die Katarakte von Biografien.
Anastasia will Künstlerin werden, aber am Ende landet Evelyn in diesem Metier, und ihre Schwester wird in der Werbebranche berühmt. Es gibt schwedische Mittelstandsträume, die man sich vorübergehend oder sogar längerfristig mit begabten Männern erfüllt. Anastasia macht einen Arabischkurs in Tunesien und versucht es dabei auch einmal mit einer Frau. Während Ina familien- und karrieretechnisch die Solidität eines Volvo ausstrahlt, wird Evelyn immer filigraner. Sie verschwindet, taucht unter und lebt am Ende in New York, wohin es auch den Erzähler zieht. Er hat dort, mitten in der Corona-Zeit, ein Schreibstipendium. Bei diesem Punkt sind wir nah an der Biografie von Jonas Hassen Khemiri.
Zu den Kuriositäten seines neuen Buches gehört der kulturelle Mix, aus dem es entstanden ist. Der tunesisch-schwedische Autor hat es in New York auf Englisch geschrieben und dann selbst ins Schwedische übertragen. Die Romanfiguren bewegen sich zwischen Stockholm, Tunis, Berlin und New York hin und her. Ihre Sprachen kommen aus den Zwischenwelten globalisierter Kulturen.
Wenn es nach seinen Wünschen gegangen wäre, dann hätte der mittlerweile in fast dreissig Sprachen übersetzte Autor eine Karriere als schwedischer Rapper nach dem amerikanischen Vorbild Nas gemacht. Das Geschriebene wollte sich nicht recht reimen, also wurde es jene luftige Prosa, die auch in Ursel Allensteins ganz fabelhaften Übersetzung aus dem Schwedischen erhalten blieb.
Vatergeschichten der Ich-Erzähler spielen in den bisherigen fünf Romanen des heute 46-Jährigen oft eine Rolle. Das Verschwinden des Vaters und, als Reaktion darauf, ein trotziges Vermissen kommen auch in «Die Schwestern» vor. Da ist ein aus Tunesien eingewanderter Mensch, der nicht mehr daran glaubt, jemals ganz in der schwedischen Gesellschaft anzukommen. Seinen Job als U-Bahn-Fahrer schmeisst er hin, landet in einem Obdachlosenheim und taucht oft für Monate unter. Sein Sohn wird ihn später in Tunis wiedersehen. Schweigend übersteht man gemeinsame Autofahrten in einem Land, das gleichermassen real ist, wie es als Fata Morgana der Familiengeschichte fungiert.
Verwünschungen und ein Gegenzauber
Oft ist Khemiris Buch einem Wachtraum ähnlich, und das liegt auch an einem anderen Trick, den er in den Roman eingebaut hat. Ein Bruchstück aus der Vergangenheit, das finster schillert. Die Mutter der Schwestern Mikkola glaubt fest daran, dass auf ihnen allen ein Fluch lastet. Dieser Fluch sorgt ihrer Meinung nach dafür, dass man das Schöne, hat man es erst einmal erreicht oder bekommen, wieder verlieren wird.
Als Idee funktioniert diese Verwünschung in «Die Schwestern» wie eine Art Gegengeschichte. Als könnte sich die Textur des Geschehenen jederzeit auflösen, als wäre eine Rückabwicklung jeglichen Glücks, und sei es auch noch so klein, möglich. Wenn es ein Grundprinzip von Literatur ist, den Handlungsfaden nicht aus der Hand zu geben, dann ist schon die Niederschrift dieses Romans ein Gegenzauber. Die Schwestern Mikkola, allen voran Evelyn, sollen ihr Glück nicht verlieren. Und mit ihnen auch sämtliche Verwandte und Freunde diesseits und jenseits der grossen Weltgewässer.
Das Magische in diesem Buch hat nichts Verkitschtes. Man gewinnt den Eindruck, dass hier jemand aus reiner Menschenliebe versucht, Herr über die Geschichten zu bleiben. Das Autor-Erzähler-Ich reist mit zunehmender Verzweiflung seiner liebsten Figur hinterher, um mögliches Unglück gar nicht erst eintreten zu lassen. Jede Beobachtung, und Jonas Hassen Khemiri ist ein detailscharfer Beobachter, ist auch Teil einer mitfühlenden Vorsicht.
Den Vater kann er nicht retten. Er weiss zu wenig über ihn. Eine ehemalige Freundin auch nicht. Sie begeht Selbstmord. Ist das das normale Leben, oder ist es ein Fluch? Mit «Die Schwestern» hat man auf siebenhundert Seiten Zeit, über diese Fragen nachzudenken. Und überdies ist das jedenfalls ein verflucht guter Roman. Egal, ob man ihn mit Jonathan Franzen vergleicht oder nicht.
Jonas Hassen Khemiri: Die Schwestern. Roman. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2025. 736 S., Fr. 37.90.