Als das Oberste Gericht das landesweite Recht auf Abtreibung kippte, jubelten die Konservativen. Doch nun mobilisiert das Thema die Linke. Präsident Biden hat im Wahljahr deshalb kein Interesse an einem Kompromiss.
Während Jahrzehnten arbeiteten die amerikanischen Republikaner auf eine konservative Richtermehrheit am Supreme Court hin, um das Leiturteil von 1973 zum nationalen Recht auf Abtreibung zu annullieren. Nachdem Donald Trump in seiner Amtszeit drei neue Richter hatte berufen können, war es im Juni vor zwei Jahren so weit: Es sei an der Zeit, die Verfassung zu achten und die Frage, wann und ob eine Schwangerschaft abgebrochen werden könne, dem Volk und seinen gewählten Vertretern zu überlassen, begründete das Oberste Gericht sein Urteil.
In der anfänglichen Euphorie erliessen die Parlamente in rund 20 konservativ regierten Gliedstaaten restriktive Gesetze, die Abtreibungen verbieten oder einschränken. Doch bald kehrte Ernüchterung in den Reihen der Republikaner ein. Das amerikanische «Volk» erwies sich in der Frage als weniger konservativ als erhofft. Die verbreitete Angst vor Abtreibungsverboten half den Demokraten bei den Zwischenwahlen im November 2022, Wähler zu mobilisieren. Die Linke verlor darauf die Mehrheit im Repräsentantenhaus nur knapp und konnte ihre Kontrolle im Senat in Washington behaupten. Und dies, obwohl der demokratische Präsident Joe Biden bereits damals unpopulär war und die hohe Inflation die Konsumenten quälte.
Das Problem ist zu gut, um gelöst zu werden
Wie populär das Recht auf Abtreibung in den USA ist, zeigte sich vor allem bei Volksabstimmungen in republikanisch dominierten Gliedstaaten wie Kansas, Ohio oder Montana. Die Wähler sprachen sich dort an den Urnen mehrheitlich für die Freiheit der Frauen aus, über den Abbruch einer Schwangerschaft zu entscheiden. Beflügelt von diesem Erfolg haben linke Kräfte in 12 weiteren Gliedstaaten solche Volksinitiativen zum Recht auf Abtreibung lanciert, über die am Tag der Präsidentschafts- und Kongresswahlen im November abgestimmt wird.
Gleichzeitig hat die Zahl der Abtreibungen in amerikanischen Kliniken trotz den restriktiven Gesetzen in vielen Gliedstaaten offenbar zugenommen. Gemäss Daten des Guttmacher Institute lag die Zahl dieser Schwangerschaftsabbrüche im Jahr 2020 im Monat bei 77 550 und 2023 bei rund 88 000. Die Gründe dafür sieht das Institut in einem besseren Zugang zu Abtreibungen in liberalen Gliedstaaten, dem Ausbau der Telemedizin in diesem Bereich sowie der finanziellen und logistischen Unterstützung durch Organisationen, die hohe Reisekosten für Patientinnen aus konservativen Gliedstaaten übernehmen. Fast jede fünfte Frau, die eine Abtreibung vornimmt, verlässt dafür ihren Heimatstaat, schätzt das Guttmacher Institute.
Die Abtreibungsfrage hat sich für die Demokraten derweil als eines ihrer wirksamsten Instrumente zur Wählermobilisierung erwiesen. Deshalb setzt auch Präsident Joe Biden für seine Wiederwahl im Herbst kompromisslos auf dieses Thema. Bei einem Wahlkampfauftritt in Virginia versprach er vergangene Woche, das Leiturteil des Supreme Court von 1973 – «Roe v. Wade» – mit einem Gesetz wieder in Kraft zu setzen: «Gebt mir ein demokratisches Repräsentantenhaus und eine grössere Mehrheit im Senat, und ich sorge für ein neues Gesetz, um Roe v. Wade wieder herzustellen.»
Biden weiss, dass ein solches Gesetz voraussichtlich keinerlei Chancen haben wird. Das Leiturteil von 1973 legalisierte Abtreibungen bis zur Lebensfähigkeit des Fötus ausserhalb des Mutterleibs – ungefähr bis zur 23. Schwangerschaftswoche. Republikanische Senatoren werden niemals für eine solch liberale Regelung stimmen. Um das Gesetz im Alleingang zu verabschieden, müssten die Demokraten im Senat 60 von 100 Sitzen gewinnen. Das ist in der gegenwärtigen politischen Polarisierung in den USA schier unmöglich. Weil er mit dem Thema viele Wähler mobilisieren kann, bleibt Biden jedoch lieber bei der Maximalforderung, anstatt eine Kompromisslösung zu suchen.
Sosehr die Demokraten die unmenschlichen Folgen der Abtreibungsverbote in republikanisch regierten Gliedstaaten beklagen, verspüren sie keine Eile, gemeinsam mit den Republikanern nach einem parteiübergreifenden Konsens zu suchen. Dabei wäre dies eigentlich der Wunsch der Wähler. Gemäss einer Gallup-Umfrage im vergangenen Sommer unterstützen 69 Prozent der Amerikaner das Recht auf Abtreibung in den ersten 12 Schwangerschaftswochen. Im zweiten Trimester wollen das aber nur noch 37 Prozent erlauben.
Jede Einschränkung ist extrem
Wie sehr die Demokraten den Kompromiss fürchten, zeigte sich auch im wichtigen «Swing State» Wisconsin. Vergangene Woche verabschiedete das von den Republikanern beherrschte Abgeordnetenhaus ein Gesetz, das Abtreibungen nach der 14. Schwangerschaftswoche verbieten will. Um in Kraft zu treten, müsste es auch von Wisconsins Senat und den Stimmbürgern gutgeheissen werden. Sie stehe in dieser «heissen Frage» in der «sumpfigen Mitte», erklärte die republikanische Abgeordnete Angie Sapik. «Lasst uns direkt das Volk befragen und sehen, wie viele Leute mit mir im Sumpf stehen.»
Doch dazu wird es vermutlich nicht kommen. Wisconsins Gouverneur Tony Evers ist ein Demokrat. Er hat bereits sein Veto gegen das Gesetz angekündigt. Zurzeit sind Abtreibungen in dem Gliedstaat bis zur 21. Schwangerschaftswoche erlaubt. Evers meinte, die Bürger sollten die Freiheit haben, eigene Entscheidungen über ihre «reproduktive Gesundheit» zu treffen. Bidens Vizepräsidentin Kamala Harris kritisierte die republikanischen Unterstützer der 14-Wochen-Lösung bei einem Auftritt in Wisconsin gleichzeitig als «Extremisten».
Insgesamt haben die Republikaner der Kritik der Demokraten jedoch auch wenig entgegengesetzt. Der gemässigte Gesetzesvorstoss in Wisconsin ist eine Ausnahme. In den zwei Jahren seit dem Urteil des Supreme Court konnten sich die Konservativen auf keine einheitliche Position festlegen. Einerseits zeigen sich ihre Präsidentschaftsbewerber – Donald Trump und Nikki Haley – offen für einen Kompromiss, ohne sich auf eine exakte Zahl von Schwangerschaftswochen festzulegen, in denen eine Abtreibung erlaubt sein soll.
Andererseits bereiten konservative Lobbygruppen im Hintergrund mögliche Verordnungen vor, mit denen ein künftiger republikanischer Präsident etwa den Zugang zu Abtreibungspillen mit einem Federstrich einschränken könnte. Diese Drohkulisse erleichtert es den Demokraten, ihre Wähler in der Abtreibungsfrage von ihrer Sicht zu überzeugen.