Beim weltgrössten Chemiehändler aus Essen stimmen die Fundamentaldaten. Doch an der Börse geniessen Konkurrenten wie IMCD und Azelis eine höhere Bewertung. Das hat vor allem mit der Exponiertheit in einem weniger lukrativen Segment zu tun.
«Die Letzte einer aussterbenden Art.» So bezeichnen die Analysten der Hamburger Privatbank Berenberg den weltgrössten Chemiehändler aus Deutschland. Einzigartig sei Brenntag deswegen, weil sie der letzte kotierte Distributeur sei, der sowohl einfache Basischemikalien als auch hoch komplexe Mischungen aus der Spezialchemie an die Kunden liefere. Die US-Konkurrentin Univar verfolgt diesen Ansatz zwar ebenfalls, die weltweite Nummer zwei unter den Chemiehändlern wurde im August jedoch vom Private-Equity-Unternehmen Apollo akquiriert und von der Börse genommen.
Dass Brenntag ihren Kunden das volle Sortiment an Chemikalien liefern kann, klingt aus Kundensicht zwar gut. Aus der Investorenperspektive ist das obige Zitat der Berenberg-Analysten jedoch keineswegs als Kompliment gemeint. Im Gegenteil: Die Börse mag fokussierte Unternehmen, die sich auf einen Geschäftszweig spezialisieren und dort zu einem dominanten Player werden. Dass Brenntag im Handel mit Chemikalien zweigleisig fährt, ist Investoren schon länger ein Dorn im Auge.
Bewertungsabschlag zu Konkurrenten
Im vergangenen Jahr geriet der Konzern mit Hauptsitz im nordrhein-westfälischen Essen verstärkt ins Visier von aktivistischen Investoren. Ihre Hauptforderung: die Aufspaltung von Brenntag in zwei unabhängige Unternehmen. Dadurch soll der sogenannte innere Wert der beiden Segmente besser identifiziert werden können, was entsprechend von der Börse honoriert werden dürfte. So lautet zumindest das Kalkül der «Aktivisten» wie etwa des britischen Hedge Fund Primestone.
Die Kritiker haben hier einen berechtigten Punkt. Ein Blick auf die Bewertung der Brenntag-Aktien offenbart einen deutlichen Abschlag gegenüber den Konkurrenten IMCD aus den Niederlanden sowie der belgischen Azelis Group, die sich jeweils auf den Handel mit Spezialchemikalien fokussiert haben. Aus der folgenden Grafik wird zudem ersichtlich, dass sich die Titel von Univar Solutions, die wie Brenntag ein umfassendes Sortiment an Chemikalien distribuiert, bis zum Delisting 2023 auf einem ähnlichen Bewertungsniveau wie die Deutschen bewegt haben.
Handel mit Spezialchemikalien ist lukrativer
Der Grund für die niedrigere Bewertung von Brenntag ist nicht nur die in den Augen vieler Investoren fehlende Fokussierung auf ein Segment. Hinzu kommt, dass die Essener derzeit im weniger lukrativen der beiden Märkte exponiert sind. Das Segment Essentials, das den Handel mit Standardchemikalien umfasst und allgemein mit geringeren Margen verbunden ist, war 2023 für rund 55% des Umsatzes verantwortlich, die Spezialchemiesparte (Specialties) steuerte 41% zum Gruppenertrag bei.
Zwar ist die Abgrenzung zwischen Spezial- und Standardchemikalien in der Industrie nicht immer eine exakte Wissenschaft. Ein Hauptunterschied liegt jedoch grundsätzlich darin, dass die Formulierung von Chemikalien – dabei werden Basischemikalien miteinander vermengt und werden so zu Spezialchemikalien – ein grösseres Know-how benötigt. Entsprechend höher sind die Preise und damit auch die Profitabilität.
Dass der Handel mit Spezialchemikalien weitaus höhere Margen bietet, zeigt auch hier der Vergleich mit der Konkurrenz. IMCD ist zu 100% auf Spezialchemikalien fokussiert, Azelis hat sich zusätzlich noch auf Lebensmittelzusatzstoffe spezialisiert. Beide Unternehmen arbeiteten zuletzt mit einer Ebitda-Marge von 12% (2023), die von Brenntag lag bei rund 9%.
Die folgende Grafik zeigt, dass die Margen seit Jahren auseinandergehen. Zudem bewegt sich Univar Solutions auch bei der Profitabilität auf einem ähnlichen Niveau wie Brenntag.
Brenntag hat Steigerungspotenzial
Doch sowohl die Margen als auch die Bewertung von Brenntag, die hinter der Konkurrenz zurückbleiben, bieten aus Sicht von The Market eine Chance für Anlegerinnen und Anleger. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass in diesem Jahr die Aktien von Chemiehändlern übergreifend Verluste erleiden mussten. Zuvor hatten seit 2022 bereits die Titel von Chemieproduzenten wie BASF und Clariant stark gelitten.
Chemiehändler gelten im Vergleich zu -produzenten als weniger konjunktursensitiv, zum Beispiel können sie von der Volatilität der Inputpreise gar profitieren, wenn sie es geschickt anstellen. Doch in diesem Jahr verschont das Ausbleiben einer Erholung in der Industrie auch Brenntag, IMCD und Azelis nicht.
Doch Brenntag ist sich der Herausforderungen bewusst und will die Bewertungslücke zu ihrer Vergleichsgruppe schliessen – nicht zuletzt aufgrund des Drucks der aktivistischen Investoren. Im neuen Jahr haben die Segmente Essentials und Specialties eigene gesellschaftsrechtliche Strukturen entlang der neuen Organisationsstruktur erhalten. Ziel ist es, die Bereiche im Zuge einer weiteren operativen und rechtlichen Entflechtung zu zwei eigenständigen Einheiten mit vollständiger Geschäftsautonomie umzubauen, wie der Konzern bereits am Kapitalmarkttag im Dezember mitgeteilt hat.
Die Analysten von Berenberg berichten nach einem umfassenden Gespräch mit Finanzchefin Kristin Neumann, dass etwa 80% des Abspaltungsprozesses abgeschlossen seien. So sei etwa die rechtliche Aufteilung der Geschäftsbereiche vorangetrieben und seien die Vertriebsmitarbeiter vollständig voneinander getrennt worden. Doch die wichtigsten Aspekte wie die Trennung des Backoffice und des operativen Geschäfts stünden noch aus.
Gemäss Berenberg ist das Management überzeugt, dass der Performanceunterschied zu den Wettbewerbern IMCD und Azelis in der mangelnden Konzentration auf Spezialchemikalien liegt. Das Management setze darauf, dass die Effizienzgewinne, die sich aus der Fokussierung auf die Geschäftsbereiche Specialties und Essentials ergäben, dem Konzern zugutekommen würden, sobald es gelinge, diese Bereiche als separate Einheiten zu führen.
Management hat sich Kostenhebel geschaffen
Die Kosten für die Restrukturierung sind hoch, auch weil Brenntag neben der Aufspaltung der Segmente zusätzlich Programme zur Steigerung der Effizienz vorantreibt, die zunächst das Ergebnis belasten. Bis 2027 rechnen die Berenberg-Analysten mit Kosten von insgesamt rund 1 Mrd. €. Doch sie heben positiv hervor, dass das Unternehmen in der Lage sei, falls nötig bestimmte Effizienzprogramme kurzzeitig zu pausieren, um etwa die Jahresziele auf der Kostenseite einzuhalten.
«Es ist vielversprechend, dass das Management Hebel auf der Kostenseite geschaffen hat, um auf die Marktbedingungen zu reagieren», so Berenberg. Eine zwischenzeitliche Aussetzung der Programme hat dabei in den Augen der Analysten keine wesentlichen Auswirkungen auf die Wertentwicklung des Unternehmens. Zwar würden die Gewinne aus den Programmen in die Zukunft verschoben werden, andererseits wirkten sich diese Kosten weniger stark auf die Gewinnspanne aus, wenn das Wachstum des Bruttogewinns sie decken könne.
Die Analysten gehen davon aus, dass 2024 noch ein Übergangsjahr werden dürfte. «Wir sehen 2024 als ein Jahr der Erholung, in dem die langfristigen strukturellen Verbesserungsmöglichkeiten intakt bleiben.» Sequenziell schienen die Volumen wieder zu steigen, was zu einem entsprechend positiven Wachstum gegenüber den leichteren Vergleichswerten im Vorjahr führen werde, so die Analysten.
Die Fundamentaldaten stimmen
Bei all den Restrukturierungsmassnahmen und dem Verbesserungspotenzial bei der Profitabilität darf jedoch nicht vergessen werden: Bei Brenntag handelt es sich um eine grundsolide Gesellschaft. Sie weist einen überschaubaren Verschuldungsgrad (Nettoschulden/Ebitda) von 1,4 aus, womit sie besser dasteht als die Konkurrenten. Sie kann die Restrukturierungskosten also gut stemmen.
Auch in Sachen Kapitalrendite ist Brenntag Azelis Group deutlich überlegen und kann mit IMCD mithalten. Seit Jahren befindet sich die Rendite auf das investierte Kapital (Return on Invested Capital, ROIC) nahe 10%, was für ein kapitalintensives Geschäft wie die hoch komplexe Mischung und Zubereitung von Chemikalien ordentlich ist. Eine gute Kapitalrendite zeigt, dass das Management mit dem ihm anvertrauten Kapital gut wirtschaftet.
Wichtig ist zudem, dass die Kapitalrendite bei Brenntag in der Regel über den gewichteten Kapitalkosten (Weighted Average Cost of Capital, WACC) liegt. Das Unternehmen generiert also Wert für seine Aktionäre. Beim Konkurrenten IMCD war dieses Verhältnis – trotz einer ebenfalls soliden Kapitalrendite – in den letzten beiden Jahren negativ.
Hinzu kommt, dass Brenntag als grösster Player in einem stark fragmentierten Markt mit ihrer soliden Bilanz in einer guten Position ist, um ihr organisches Wachstum mit der Akquisition von kleineren Konkurrenten zu ergänzen – das Management hat sich hier in den letzten Jahren einen guten Leistungsausweis erarbeitet. Ausnahme: Als Ende 2022 Pläne publik wurden, dass Brenntag die Nummer zwei, Univar, übernehmen wolle, wurde das Management von den Investoren zurückgepfiffen. Sie befürchteten, dass sich der Chemiehändler damit von der bewährten Akquisitionsstrategie der kleinen Schritte verabschiede.
Gewinnwarnung voraus
Am 13. August publiziert der Konzern die Zahlen für das zweite Quartal. Spannend ist vor allem die Frage, ob das Management die Jahresprognose eines Ebita in der Spanne von 1,23 bis 1,43 Mrd. € wird halten können. Bei Analysten wird zunehmend eine Herabsetzung der Gewinnprognose eingepreist. Gemäss Bloomberg geht der Konsens für 2024 momentan von einem Ebita von 1,19 Mrd. € aus. Dass jüngst Barclays, Berenberg und Bank of America ihre Schätzungen auf bis zu 1,09 Mrd. € gestutzt haben, deutet darauf hin, dass der Konsens bis zur Publikation der Quartalszahlen weiter sinken könnte.
Im Kurs dürfte einiges an negativen Nachrichten eingepreist sein. Langfristig orientierte Anlegerinnen und Anleger sollten ihre Aktien halten oder können erste Positionen aufbauen. Vorsichtige warten jedoch den 13. August ab. Dann dürfte mehr Klarheit darüber herrschen, wohin die Reise in diesem Jahr geht.
The Market führt die Titel von Brenntag in der Liste der europäischen Aktienfavoriten für 2024 und hält an der Empfehlung fest.