Er verlor während des Kalten Kriegs die Heimat. Sie verlor kurz nach der Geburt ihres Kindes den Mann. Dass die beiden schliesslich zueinanderfanden, war ein grosses Glück und manchmal auch eine kleine Überforderung. Folge 4 der Serie «Alte Lieben».
Silvia und Peter Marko leben in einer Wohnung voller Bilder mit Bedeutung. Ein Bild hat eine Freundin des Ehepaars für die beiden gemacht, die feinen Ansichten von einem Schloss auf den Türen des antiken Schranks malte vor vielen Jahren Silvia Markos Mutter für ihre Tochter und den Schwiegersohn. Die meisten Bilder aber zeigen die sanften Landschaften aus Peter Markos erster Heimat: 1967 floh er aus der damaligen Tschechoslowakei in den Westen.
«Damals war Tauwetter», sagt Peter Marko, «nur darum konnte ich raus.» Nach dem Krieg, der ihm seinen Bruder genommen hatte, hatte er in Bratislava Biochemie studiert. Kommilitonen erzählten ihm, was Wissenschafter im Westen für Möglichkeiten hatten. «Da will ich hin», habe er sich gedacht, «da mache ich mir mein Loch zur Welt.»
Nach dem Krieg erlebte die Familie Marko, slowakische Juden, immer wieder Antisemitismus. Auch darum sagte der Vater im Frühjahr 1967 zu ihm: «Jetzt ist die Gelegenheit, jetzt musst du gehen. Warte nicht ab – man weiss nie, was passiert.» Marko floh erst nach England, zog dann nach Deutschland und um 1970 schliesslich in die Schweiz. Ein Jahr nach ihm gelang auch den Eltern die Flucht nach Deutschland. «So blieb der Kontakt bestehen. Aber als ich ging, wussten wir nicht, ob wir uns je wiedersehen würden.»
Ein grosser Schock
Zwei Jahre bevor Peter Markos Welt aufging, fiel in der fernen Schweiz jene von Silvia Marko zusammen. 1964 hatte sie geheiratet, und bald darauf war sie schwanger geworden. Doch Silvia Markos erstes Glück im Leben zerbrach, kaum hatte es begonnen: Ihr Mann starb bei einem Unfall. «Wir waren ja noch kaum verheiratet, als das passiert ist», sagt sie, «mein Sohn war drei Monate alt. Es war alles so schrecklich.»
Als Witwe mit einem Baby eine Anstellung zu finden, war schwierig. Es wäre vielleicht ganz unmöglich gewesen, wenn Silvia Marko nicht in der Schule etwas Englisch gelernt hätte. Gemeinsam mit einer ihrer Schwestern und dem kleinen Sohn ging sie nach Genf und bewarb sich bei amerikanischen Firmen als Sekretärin. «Bei Schweizer Firmen hätte ich keine Stelle bekommen. Aber für die Amerikaner war alles kein Problem. Da wurde ich bei einer meiner ersten Anstellungen direkt zur Generalsekretärin.»
Doch schliesslich wollte Silvia Marko wieder eine Arbeit in der Deutschschweiz. Sie hatte eine Tagesmutter für das Kind und suchte eine Anstellung, die später mit den Schulzeiten des Sohnes vereinbar sein würde. Bei der Abteilung für Hirnforschung an der Universität Zürich wurde sie fündig.
Ausgerechnet dort, wo sie den Kopf erforschen, wurde Silvia Markos Herz geheilt. Denn seit kurzer Zeit arbeitete in der Zürcher Hirnforschung auch ein junger wissenschaftlicher Mitarbeiter namens Peter Marko.
Eine neue Liebe beginnt
Silvia Marko: Wir haben damals in der Hirnforschung an ganz verschiedenen Orten gearbeitet. Aber es gab immer wieder Ausflüge oder Feste mit allen Mitarbeitenden. Da hat man sich dann halt auch ein bisschen anders kennengelernt.
Peter Marko: Mir hat meine Frau von Anfang an sehr gefallen. Sehr! Ich wusste aber nicht, wann und wie ihr Mann gestorben war, und wollte darum nichts überstürzen. Und dann war sie auch noch immer so gut angezogen, dass ich dachte: Mein Gott, eine solche Frau, mit diesem Auftreten und diesen Kleidern, die kann ich mit meinem Gehalt gar nicht ernähren.
Silvia Marko schüttelt lachend den Kopf. So extravagant, deutet ihre Bewegung an, war ich damals doch gar nicht. Dann schaut sie ihren Mann von der Seite an und lächelt.
Er: Und dann eines Tages – das Labor, in dem ich gearbeitet habe, das war im Untergeschoss –, dann kam also eines Tages dieser Junge zu mir herunter. Der war so neugierig, er hat gefragt und gefragt.
Sie: Das war mein Sohn.
Er: Da habe ich für mich gedacht: Mein Gott, was für ein Bub! Ein richtiger Musterknabe. Einen solchen Sohn zu haben, das muss etwas Schönes sein.
Sie: Ich hatte natürlich gar nicht gewagt zu denken, dass dieser Herr Marko etwas von mir wollen könnte. Und als ich dann herausgefunden habe, dass das so war . . . na ja . . .also, da hatte ich natürlich nichts dagegen.
Er: Es gab dieses Symposium an der Universität, und als Geschenk für alle Teilnehmer hatte Silvia schöne, kleine Löffelchen von Swarovski organisiert. Ich war nicht an diesem Symposium, darum stand mir auch keines von diesen Löffelchen zu. Aber dann kam sie ganz schüchtern zu mir runter ins Labor und hat mir eines gegeben. Und da dachte ich mir: Vielleicht hat sie tatsächlich Interesse an mir.
Sie: Dabei hatte ich mir dabei überhaupt nichts gedacht. Ich war zwar die Sekretärin des Professors, aber man hatte mit allen so einen guten Kontakt. Da war es irgendwie selbstverständlich, dass ich ihm auch eines dieser Geschenke bringe. Aber gut, irgendwie haben wir dann also doch beide gemerkt, dass wir einander gefallen.
Nun schaut er von der Seite. Lächelt. Hört zu, während seine Frau fortfährt.
Sie: Einmal habe ich alle von der Hirnforschung zu mir nach Hause eingeladen, für ein Fest. Peter war natürlich auch dabei – am Anfang. Aber dann ist er einfach still und heimlich davongeschlichen und nach Hause gegangen.
Er: Ich hatte das nie gern: wenn diese Partys sich ziehen und ziehen und es zu spät wird.
Sie: Aber als unsere Kollegen dann erfahren haben, dass wir ein Paar sind, haben sie gesagt: «Der ist damals einfach bei dir geblieben nach dem Fest!»
Er: Und zu mir sagten sie: «Du hast dich damals doch sicher einfach bei ihr versteckt und gewartet, bis wir alle gegangen sind.» Dabei bin ich einfach nach Hause.
Markos machen Ernst
Immer öfter ging Peter Marko tatsächlich nicht einfach heim nach der Arbeit. Er und Silvia Marko machten Ausflüge zusammen. Lernten sich fernab der Arbeit nochmals neu und anders kennen.
Er: Wir waren bald verliebt, sehr verliebt. Auf eine Art war das eine Amour fou. Aber wir waren auch behutsam. Wir hatten davor beide schon Beziehungen gehabt, die nicht geklappt hatten. Wir waren beide schon Mitte dreissig. Und wir wollten nicht einfach etwas anfangen, das dann vielleicht wieder nichts wird. Vor allem nicht wegen des Sohnes. Er sollte sich nicht umsonst Hoffnungen machen. Darüber habe ich damals viel nachgedacht, diese Verantwortung nicht nur für eine Ehe, sondern direkt für eine ganze Familie zu übernehmen. Und schliesslich habe ich entschieden, dass ich Rat von aussen brauche, von einer unvoreingenommenen Person. Und darum bin ich zu einer Grafologin gegangen.
Sie: Die analysiert Handschriften und kann dann daraus Sachen über die Menschen sagen.
Er: Die Grafologin hat gesagt: «Sie beide passen zusammen.» Und ich habe gefragt: «Was ist mit dem Sohn?» Und sie hat gesagt: «Sie können diese Verantwortung tragen.» Das hat mich enorm beruhigt. Ich war so unsicher, ob ich so eine schöne Frau halten kann.
Sie: Dachtest du, ich würde dich irgendwann verlassen?
Er: Na ja, man hat halt die normalen Ängste, wenn man frisch verliebt ist. Ob ich dir alles bieten kann, was du brauchst. Und dem Buben auch.
Anfangs besuchte Peter Marko seine Silvia nur, wenn der Sohn nicht zu Hause war.
Sie: Als sie sich dann aber kennengelernt haben, war das sofort gar kein Problem zwischen ihnen.
Er: Einmal war ich dort, und er hat mich gemustert, und dann hat er gefragt: Willst du uns heiraten?
Silvia und Peter Marko heirateten im Jahr 1973. Silvia Marko trug ein hellblau-weisses Kleid, das eine befreundete Schneiderin genäht hatte. Erneut in klassischem Weiss zu heiraten, kam für sie bei dieser zweiten Hochzeit nicht infrage.
Sie: Meine Familie und auch die Familie von meinem ersten Mann haben sich so für mich gefreut. Sie haben es mir von Herzen gegönnt. Ich habe mit dieser Familie auch immer noch Kontakt.
Er: Das muss sehr schmerzhaft gewesen sein, aber für uns war es auch sehr schön: Sie kamen zu unserer Hochzeit.
Vom Labor in die Landarztpraxis
Als Peter Marko bei der Grafologin war, befragte er sie nicht nur zu der Liebe, sondern auch zu seiner Karriere. Die Arbeit im Labor sei nicht das Richtige für ihn, sagte die Frau und bestätigte damit, was Peter Marko schon lange gespürt hatte. Er müsse raus, mit Menschen arbeiten und Abwechslung haben. So kam es, dass Peter Marko an der Universität einige Fächer in Medizin nachholte, den Laborkittel zurückgab und die Schlüssel zu einer Hausarztpraxis übernahm.
Lustig sei, sagt Frau Marko, dass auch ihr erster Mann Arzt gewesen sei. So war sie nun also erneut mit einem Mediziner verheiratet. Um ihn unterstützen zu können, lernte sie alles, was eine Arztgehilfin beherrschen musste. Ein Kompromiss für die Familie, denn eigentlich hatte Silvia Marko zu diesem Zeitpunkt andere Pläne.
Er: Meine Frau ist sehr ehrgeizig, müssen Sie wissen. Sie hätte gerne studiert.
Sie: Ich wollte eigentlich die Matura nachholen. Aber es kam mir immer etwas dazwischen. Erst der Sohn, dann der Mann.
Er: Das hat mir immer gefallen an dir: Du bist so neugierig und wissensdurstig. Darum, wissen Sie, hat meine Frau dann auch ein Stipendium bekommen und die Arbeit in der Hirnforschung aufgegeben, um eben die Matura nachzuholen. Aber dann kam irgendwie ich dazwischen. Weil ich auch nicht mehr in der Hirnforschung arbeiten, sondern eine Praxis eröffnen wollte.
Sie: Da blieb dann sowieso keine Zeit mehr für ein Studium: Er hat für die Leute geschaut, und ich habe die Bücher geführt. Was wir alles zu tun hatten, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.
Die beiden schauen einander an. Ihre Gedanken scheinen abzuschweifen. Zurück nach Zweisimmen im Berner Oberland, wo sie zehn Jahre lang lebten und gemeinsam eine Landarztpraxis führten. Auch ihre gemeinsame Tochter kam in Zweisimmen zur Welt.
Sie: Ich hatte keine bestimmte Hoffnung oder Erwartung an die Ehe. Aber es war einfach immer so spannend. Und wenn ich zurückgehen würde in meinem Leben und mir etwas wünschen könnte, dann genau das: dass es immer spannend bleibt. Bevor wir eine eigene Praxis übernommen haben, hat mein Mann erst Vertretungen gemacht in verschiedenen Arztpraxen. So sind wir herumgekommen in der Schweiz.
Er: Und dann kam die Möglichkeit, in Zweisimmen eine Praxis zu übernehmen.
Sie: Mitten in der Nacht klingelte dort manchmal das Telefon, und wir mussten nach St. Stephan. Oder Boltigen. Oder in die Lenk, bis dort ging unser Gebiet. Manchmal bin ich mit. Aber meistens war ich im Büro, das Telefon musste ja Tag und Nacht besetzt sein. Wenn es einen Notfall gab, dann habe ich dort angerufen, wo mein Mann gerade auf Visite war, und habe ihm die neue Adresse gesagt.
Er: Ich war zum Beispiel in der Lenk und sollte laut Plan dann nach Boltigen. Aber in der Zwischenzeit kam aus der Praxis ein Anruf: Du musst nach St. Stephan, geh aus der Lenk besser erst dorthin und dann erst runter nach Boltigen. Es gab keinen Moment, in dem wir nicht auf Abruf waren.
Sie: Das waren wahnsinnige Zeiten. Gerade für mich mit der Schwangerschaft und dann einem Baby allein an einem erst so fremden Ort. Über die Jahre entstanden Freundschaften. Noch jetzt habe ich zum Beispiel Kontakt mit der Tochter einer Patientin aus Zweisimmen. Aber es war auch eine schwierige Zeit für unsere Beziehung.
Wie zwei Choleriker mit Streit umgehen
Er: Was vielleicht manchmal auch schwierig war, aber unseretwegen: Wir sind beide Choleriker. Wir sind aufbrausend, wir streiten, jetzt im Alter vielleicht noch mehr als vorher. Aber es dauert nie lange. Ich glaube nicht, dass der Streit eine Nacht überdauert. Wir sagen uns alles, dann ist die Wut weg. Und eventuell hat sich etwas geändert, dann hat es Sinn gehabt. Und wenn nicht, dann ist es gut, ist man mal explodiert.
Sie: Einen Streit sollte man nicht zu tragisch nehmen.
Er: Es zeugt auch von einem tiefen Vertrauen, wenn man streiten kann.
Sie: Weil man weiss: Man kann mal explodieren, deswegen fällt nicht gleich alles auseinander.
Er: Und weil wir immer dieses Vertrauen ineinander hatten, dass jeder Streit vorübergeht, dass er nicht unsere Beziehung bedroht.
Sie: Wenn die Belastung gross ist, muss man ja auch damit rechnen, dass der eine oder die andere an Grenzen stösst. Und als wir damals die Praxis in Zweisimmen hatten, da kamen wir immer wieder an unsere Grenzen. Dann ist es wichtig, solche kleinen Explosionen nicht zu tragisch zu nehmen, sondern sich bewusst zu machen, aus welcher Situation sie entstanden sind und dass die Umstände sich auch wieder ändern.
Er: Was auch hilft, wenn der Druck gross ist: Wenn der eine Probleme hat, dann ist der andere da. Der springt komplett ein. So war das bei uns immer. Dann haben wir gemeinsam darüber beraten, was es für Lösungen gibt. Sowieso haben wir sehr viel diskutiert und unsere Meinungen ausgetauscht.
Sie: Und wir haben sehr oft sehr verschiedene Meinungen.
Er: Aber wir reden immer, bis wir eine gemeinsame Lösung gefunden haben. Wir hatten so viele Umzüge und Veränderungen, da ist es gar nicht selbstverständlich, dass wir uns immer geeinigt haben. Aber dieses Gespräch mit dem anderen zu suchen, das ist etwas enorm Wichtiges. Für uns war das hilfreich: Nicht alles herunterschlucken und mit sich selbst ausmachen.
Sie: Wir haben viel zusammen erlebt. Aber das Glück hat uns nie verlassen. Es hat einfach immer gehalten.
Er: Für mich war es immer wichtig, dass wir neugierig sind. Beide. Und nicht bequem, nicht langweilig.
Sie: Und wir sind nicht nachtragend.
Er: Wir tauschen unsere Gefühle aus. Unsere Meinungen. Die Vertrautheit zwischen uns, das ist bis heute schön. Und auch der körperliche Kontakt gehört dazu.
Sie: Obwohl: Wir schlafen beide in unseren eigenen Zimmern. Wegen dem Schnarchen.
Er: Stimmt. Aber Intimität ist auch, möglichst keine Geheimnisse zu haben vor dem anderen.
Sie: Ich glaube, wir können einander komplett vertrauen.
Er: Schön von dir, dass du das sagst.
In der Serie «Alte Lieben» erzählen Paare im hohen Alter, wie sie zueinandergefunden haben – und wie sie es geschafft haben, zusammenzubleiben. Die Folgen erscheinen alle zwei Wochen. Sind Sie selbst ein Paar im Alter über 75 Jahre, das uns seine Geschichte erzählen will? Schreiben Sie an [email protected].