Dass Rechte am Lehnitzsee die millionenfache «Vertreibung» von Migranten geplant haben sollen, galt vielen deutschen Medien fast als unumstössliche Tatsache. Dieser Konsens existiert nicht mehr.
Vor genau einem Jahr veröffentlichte die Plattform «Correctiv» den Beitrag «Geheimplan gegen Deutschland». Laut den Autoren trafen sich ranghohe «AfD-Politiker», «Neonazis» und «finanzstarke Unternehmer» in einer Villa am Potsdamer Lehnitzsee. Dort sollen sie «nichts Geringeres als die Vertreibung von Millionen von Menschen aus Deutschland» geplant haben, heisst es in dem Artikel, und zwar aufgrund rassistischer Kriterien.
Er enthielt alle Zutaten, um Politiker, Medien und Hunderttausende Menschen in ganz Deutschland in helle Aufregung zu versetzen. Doch die Zweifel daran, ob die Darstellung stimmt, sind mittlerweile so gross wie nie. Und es sind nicht allein bürgerliche oder liberale Medienhäuser in Deutschland, die skeptisch auf den Beitrag blicken.
Am Donnerstag veröffentlichte die «Zeit» eine kritische Recherche zum Beitrag von «Correctiv». Sie sprach unter anderem mit dem Reporter Jean Peters, der unter falschem Namen in die Villa eingemietet hatte, in der sich die Runde traf. Als er gefragt wurde, ob in Potsdam das Wort «Vertreibung» gefallen sei, verneinte Peters. «Aber natürlich war es gemeint», schob er hinterher.
Dabei ist es aus Sicht der «Zeit» bis heute offen, ob die Kernthese des Artikels zutrifft. Was mit dem vermeintlichen «Geheimplan» in Potsdam gemeint gewesen sein könnte, nehme im Beitrag sehr viel Raum ein. Was tatsächlich gesagt wurde, werde dafür «an den entscheidenden Stellen nur sehr knapp wiedergegeben».
Gericht: «Correctiv» erzeugte «unzutreffenden Eindruck»
Auch in der «Süddeutschen Zeitung» erschien ein Bericht, in dem die Stichhaltigkeit des «Correctiv»-Beitrags infrage gestellt wird. Der Redaktor beleuchtet darin die jüngsten juristischen Entwicklungen rund um den Text.
Demnach ist es mehr Interpretation als Tatsache, dass in Potsdam von einer verfassungswidrigen «Ausweisung» deutscher Staatsbürger gesprochen worden sei. In diesem Zusammenhang erwähnt das Blatt ein Urteil des Landgerichts Berlin aus dem Dezember vergangenen Jahres. Es hatte geurteilt, dass die Äusserung der AfD-Politiker Beatrix von Storch von einer «dreckigen ‹Correctiv›-Lüge» von der Meinungsfreiheit gedeckt sei.
Der «Correctiv»-Text, so zitiert die «Süddeutsche Zeitung» das Gerichtsurteil, habe bei vielen Lesern und Journalisten einen «unzutreffenden Eindruck» vom Treffen in Potsdam erzeugt. Nun stelle sich die Frage, wie es um die Erfolgsaussichten zweier Teilnehmer des Treffens mit ihrer Klage gegen die Kernaussagen des «Correctiv»-Textes bestellt sei. Sie klagten in der vergangenen Woche vor der Pressekammer des Landgerichts Hamburg.
Zuvor hatten das Hamburger Landgericht beziehungsweise das dortige Oberlandesgericht dem ZDF, dem für die «Tagesschau» zuständigen NDR sowie dem SWR mehrere Falschaussagen über das Treffen in Potsdam untersagt. Alle drei öffentlichrechtlichen Sender hatten die Wertungen des «Correctiv»-Beitrags in ihren Beiträgen irreführend wiedergegeben.
Noch am Erscheinungstag des «Correctiv»-Textes berichtete die ZDF-Moderatorin Marietta Slomka im «Heute-Journal», in Potsdam sei die «Deportation von Millionen Menschen, auch solcher mit deutscher Staatsbürgerschaft» geplant worden.
In den Folgetagen und -wochen gingen über eine Million Menschen in ganz Deutschland auf die Strasse, um gegen die angeblichen Vertreibungspläne zu protestieren. Deutsche Regierungspolitiker setzten sich an die Spitze der Proteste. Der Kanzler Olaf Scholz warnte in einer Videoansprache vor «Fanatikern mit Assimilationsphantasien», die Innenministerin Nancy Faeser fühlte sich gar an die Wannsee-Konferenz der Nationalsozialisten erinnert.
Staatsrechtler Degenhart kritisiert «Haltungsjournalismus»
Zu derartig überspitzten Deutungen hatte der Artikel von «Correctiv» geradezu eingeladen. Wo es direkte Zitate der Teilnehmer gebraucht hätte, mit denen ihre angeblichen Vertreibungspläne hätten bewiesen werden können, fügten die Autoren vage Assoziationen zum Nationalsozialismus ein.
Doch worum ging es in Potsdam wirklich? Laut der «Zeit» stand nicht die «Remigration» im Vordergrund des Treffens, also die Verbringung von nach Deutschland zugewanderten Menschen in ihre Heimat – sondern die Vernetzung rechter Influencer mit potenziellen Sponsoren. Im «Correctiv»-Beitrag ist davon nur am Rande die Rede.
Von den Massenprotesten «gegen Rechts» ist inzwischen wenig übrig geblieben. Auch in den Medien hat die Vorsicht zugenommen, die Wertungen von «Correctiv» ungeprüft zu übernehmen.
Bereits Ende Juli vergangenen Jahres hatten drei Autoren in einer Analyse auf dem Medienblog «Übermedien» die Rechercheure von «Correctiv» für das «Prinzip Nichtbeleg und Grossdeutung» kritisiert. Darunter war auch der Chefredaktor des Online-Rechtsmagazins «Legal Tribune Online».
Aus juristischer Sicht meldet nun auch der renommierte Staatsrechtler Christoph Degenhart Zweifel am «Correctiv»-Artikel an. Er schreibt in einer Kolumne für die «Neue Juristische Wochenschrift», vor allem bei öffentlichrechtlichen Sendern habe in der Berichterstattung über das Treffen in Potsdam der «Haltungsjournalismus» über die journalistische Sorgfalt triumphiert. Der Beitrag von «Correctiv» sei «offensichtlich unrichtig» gewesen.