Erst Anfang Januar hatte der afghanische IS-Ableger einen blutigen Anschlag in Iran verübt. Nun hat er sich zu dem Massaker in Moskau bekannt. Die Anschläge sind wohl auch ein Versuch, die Krise in der Heimat zu überwinden.
Erst der Anschlag in der iranischen Stadt Kerman, nun das Massaker in einem Konzertsaal in Moskau: Die Organisation Islamischer Staat Khorasan (IS-K) scheint sich vermehrt auf Anschläge im Ausland zu verlegen. Der Terrorakt mit mindestens 133 Toten in der Crocus City Hall am Freitagabend, zu dem sich der IS-K bekannt hat, deutet auf einen Strategiewechsel des afghanischen IS-Ablegers hin. Während die Gruppe in Afghanistan zunehmend geschwächt ist, verübt sie immer häufiger Anschläge im Ausland. Auffällig ist, dass an den meisten Angriffen Mitglieder aus Tadschikistan beteiligt sind.
Laut Medienberichten stammten die vier Attentäter in Moskau aus der zentralasiatischen Republik. Auch einer der Selbstmordattentäter in Kerman soll Tadschike gewesen sein. Bei dem Anschlag am Grabmal von General Kassem Soleimani waren am 4. Januar 85 Menschen getötet worden. Kurz vor Weihnachten waren zudem Pläne für Anschläge auf den Kölner Dom und den Stephansdom in Wien aufgedeckt worden, an denen ebenfalls Tadschiken beteiligt waren.
Dass der IS-K Russland ins Visier nimmt, kommt nicht überraschend. Die Gruppe zählt Russland schon lange zu ihren Hauptfeinden. Bereits im September 2022 hatte sie einen Anschlag auf die russische Botschaft in Kabul verübt. Die Jihadisten haben Wladimir Putin seinen brutalen Krieg gegen die Aufständischen in Tschetschenien nie vergeben. Die Unterstützung des Kremls für Syriens Diktator Bashar al-Asad ist ein weiterer Grund für die Feindschaft.
Aufstand in Afghanistan gescheitert
Dass der IS-K immer öfter Ziele im Ausland ins Visier nimmt, könnte ein Versuch sein, aus der Defensive zu kommen. Der afghanische IS-Ableger hatte nach der Gründung 2015 zunächst versucht, nach dem Vorbild der Mutterorganisation in Syrien und im Irak einen eigenen Staat in der historischen Region Khorasan zu errichten, zu der weite Teile Afghanistans, Zentralasiens und Irans gezählt werden. Dabei kämpfte er zunächst vor allem gegen die afghanische Regierung und ihre westlichen Unterstützer. Seit dem Sieg der Taliban im August 2021 richtet sich der Kampf gegen das islamistische Regime.
Der IS-K wirft den Taliban vor, in ihrer Auslegung des Islams nicht streng genug zu sein und religiösen Minderheiten wie Schiiten, Hindus und Sikhs mit zu viel Toleranz zu begegnen. In den ersten Monaten hatten die Taliban Mühe, den Aufstand des IS-K unter Kontrolle zu bringen. Der Gruppe gelang es aber nie, mehr als einige Dörfer im Osten Afghanistans zu kontrollieren. Nachdem die Taliban ihre Macht konsolidiert hatten, setzten sie den IS-K zunehmend unter Druck.
Laut dem Terrorismus-Experten Antonio Giustozzi war die Anti-Terror-Kampagne der Taliban von Erfolg gekrönt. Die Zahl der IS-K-Angriffe in Afghanistan sei seit 2021 stark zurückgegangen, 2023 seien die Aktivitäten über Monate sogar ganz zum Erliegen gekommen, schrieb der Forscher vom Kings College London kürzlich in einer Studie. Vergangenes Jahr habe sich der IS-K in einer finanziellen Krise befunden, und die Moral der Kämpfer sei am Boden gewesen.
Die Gruppe ist in Afghanistan in einer Krise
Ein Grund dafür war, dass die IS-Zentrale in Syrien ihre Zahlungen stark reduzieren musste, da sie selbst ums Überleben kämpfte. Ein weiterer Grund war, dass die Türkei verstärkt gegen IS-Netzwerke vorging, die Spenden gesammelt und transferiert hatten. Der IS-K habe sich daher auf die Entführung und die Erpressung reicher Geschäftsleute verlegen müssen, schreibt Giustozzi. Die Lage sei so schwierig geworden, dass der IS-K seine Kämpfer kaum noch habe ernähren können.
Unter dem Druck des Taliban-Regimes musste die Gruppe zudem den Grossteil ihrer ausländischen Kämpfer nach Pakistan verlegen, wo sie seither in Wartestellung sind. Wirklich in Sicherheit sind sie aber nicht, da das pakistanische Militär die Gruppe ebenfalls verfolgt, seitdem sie mehrere Anschläge im Land verübt hat. In Afghanistan selbst hatte der IS-K laut Giustozzi Anfang 2023 noch rund 7000 Mitglieder, doch konnten die Zellen nur noch im Untergrund operieren.
Die Gruppe hatte auch Schwierigkeiten, neue Mitglieder zu rekrutieren. Obwohl sie sich selber nicht so definiere, wird sie in Afghanistan als salafistisch wahrgenommen. Salafisten folgen einer besonders strengen, buchstabengetreuen Lesart des Korans. Die meisten Anhänger des IS-K stammten tatsächlich aus der salafistischen Gemeinde. Da diese nicht mehr als drei Prozent der Bevölkerung Afghanistans ausmache, sei das Rekrutierungspotenzial des IS-K begrenzt, schreibt Giustozzi.
Spektakuläre Anschläge als Mittel der Propaganda
Trotz diesen Rückschlägen sieht der Forscher vom Kings College London die Gruppe keineswegs als besiegt an. Sie habe sich als resilient erwiesen, die Führung habe sich neu orientiert und setze mehr auf Propaganda. Den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten habe sie in den Norden Afghanistans verlegt, schreibt Giustozzi. Damit ist der IS-K vermehrt an der Grenze zu Tadschikistan aktiv. Dies erklärt womöglich auch, warum er so viele Anhänger aus der früheren Sowjetrepublik anzieht.
Einiges deutet darauf hin, dass die Gruppe nach dem Scheitern ihres Versuchs zur Errichtung eines eigenen Staats in Afghanistan heute auf spektakuläre Anschläge als Mittel der Propaganda setzt. Schon seit 2021 plant und verübt der IS-K vermehrt Anschläge im Ausland. Wie Aaron Zelin vom Washington Institute schreibt, liegt dies auch daran, dass sich die Taliban auf ihre eigenen Sicherheitsinteressen konzentrierten. Offenbar seien sie unfähig, dafür zu sorgen, dass Afghanistan nicht wieder zum Hort des internationalen Terrorismus werde.