Der Kuss ist das Sinnlichste, was zwei Menschen miteinander teilen. Beim Küssen teilen sie sich mündlich, aber ohne Worte mit. Über eine Kulturtechnik, die berührt.
Der perfekte Kuss geht so: Augen geschlossen, Lippen geöffnet, Zungen in Stellung. Ein Mund verschliesst den andern. Sprechen ist jetzt unmöglich, aber gesagt wird dennoch viel.
Küssen ist die innigste Tätigkeit, die zwei Menschen miteinander teilen. Es ist binär: Man kann sich nicht selber küssen. Es ist exklusiv: Ein Dritter kann nicht mitküssen. Küssen führt nicht zu Befriedigung wie Sex, sondern das Begehren bleibt unerfüllt. Nach dem Kuss ist vor dem Kuss, je mehr davon, desto grösser wird der Hunger. Es könnte einer verhungern beim Küssen, wenn Küssen nicht auch eine Fülle bedeutete.
Man sehnt sich nach dem Geliebten, obwohl die Lippen buchstäblich aneinanderhängen. Ist man physisch getrennt, phantasiert man seinen Mund herbei. Der Dichter Erich Fried sagt es so: «Manches / kann lächerlich sein / zum Beispiel / mein Telefon / zu küssen wenn ich / deine Stimme / in ihm gehört habe.»
Neben dem erotischen Kuss gibt es viele andere Kussarten. Der Papst streckt den Gläubigen den Siegelring hin, damit sie ihn küssen. Sozialisten tauschten einen Bruderkuss aus wie Leonid Breschnew und Erich Honecker. Wenn amerikanische Soldaten aus Auslandeinsätzen zurückkehren, küssen sie die Heimaterde.
Eltern verabschieden ihre Kinder mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn in den Schlaf. Vor der Corona-Pandemie begrüsste man sich unter Freunden mit zwei oder drei Wangenküssen. Die Umarmung hat den Wangenkuss seither weitgehend ersetzt. Der Körperflächenkontakt ist jetzt grösser, aber das Ritual weniger intim.
Die feuchten Abdrücke auf der Backe dürfte niemand vermissen, vor allem, wenn man bedenkt, wie viele Viren und Bakterien dabei ausgetauscht werden. Nur beim leidenschaftlichen Kuss Liebender spielt das keine Rolle, er strebt das Verschmelzen gerade an.
Da teilt man sich dann auch ein Herpesvirus: Dieses soll sich ausgebreitet haben, als der Kuss als Kulturtechnik aufkam. Das war vermutlich vor 5000 Jahren während der Bronzezeit in Mesopotamien, wie Forscher vor kurzem herausgefunden haben. Sie sequenzierten dazu Virusmaterial, welches sie auf Zähnen von Verstorbenen entdeckt hatten.
Mit 70 hat man 76 Tage geküsst
Der leidenschaftliche Kuss zwischen Liebenden wurde auch schon vermessen, als könnte man so das Zügellose, das dem Akt anhaftet, in kontrollierte Bahnen lenken. Beim Küssen sind 34 Gesichtsmuskeln beteiligt, man verbrennt 0,7 Gramm Fett, und ein Kuss dauert im Schnitt 12 Sekunden. Ein 70-jähriger Mensch hat über 76 Tage mit Küssen verbracht, glaubt man den Berechnungen.
Doch warum küssen wir überhaupt? Für die Fortpflanzung wäre es nicht nötig, und im Küssen bloss ein Vorspiel zu sehen, wird ihm auch nicht gerecht. Dafür ist es viel zu zweckfrei, dieser Moment, in dem man sich selbst und die Welt vergisst.
Nach Sigmund Freud hat sich die Lust am Küssen aus den lustvollen Erfahrungen der oralen Phase entwickelt, in welcher der Säugling von der Mutterbrust gefüttert wird. Der Mund bleibt demnach auch im Erwachsenenalter eine hochsensible erogene Zone. Doch Freuds Kusstheorie missachtet, dass nicht jedes Küssen erotischer Natur ist.
Dennoch liegt das Küssen nah beim Beissen und wird manchmal vom Wunsch begleitet, den andern zu verschlingen.
Charles Darwin entdeckte, als er Kulturen und Länder bereiste, dass das Küssen unter manchen Völkern völlig unbekannt war. Dazu zählte er die Neuseeländer, die Papua oder die Eskimos. Das führte ihn zu dem Schluss, dass das Küssen nicht angeboren ist. Auch neuere Untersuchungen teilen die Welt in «kissing areas» und «non-kissing areas» ein. In der Subsahara-Region oder im Amazonasgebiet küsst man praktisch nicht.
Noch mehr Mund geht nicht
Der Kuss ist also eine kulturelle Errungenschaft. Er sei ein sozialer Akt, schreibt der Kommunikationswissenschafter Hektor Haarkötter in seinem Buch «Küssen». «Der Kuss konstituiert Beziehungen und damit Gesellschaftliches. Dass man sich nicht selbst küssen kann, bedeutet, dass der Kuss sozial ist.» Es sei eine Gemeinschaft, die die Küssenden teilten: «Unter dem Mündlichkeitsaspekt ist Küssen Kommunikation in Reinform. Noch mehr Mund geht schliesslich nicht.»
Daher hat das innige und erotische Küssen etwas Entgrenzendes. Die Küssenden vergessen sich in dem Wunsch, eins zu werden. Küssen beginnt also da, wo die verbale Sprache endet. Es transzendiere die Grenzen der Sprache, schreibt Haarkötter.
Die Sprache kann dem Begehren, welches das Küssen begleitet, Ausdruck verleihen. Gerade das Gedicht eignet sich, Küsse in Sprache zu übersetzen. Ein Meister der Kuss-Poesie war Heinrich Heine, von dem Karl Kraus gesagt hat, er habe der deutschen Sprache «das Mieder gelockert». In einem seiner Gedichte schreibt Heine von wund geküssten Lippen und fordert das Du auf: «So küsse sie wieder heil, / Und wenn du bis Abend nicht fertig bist, / So hat es auch keine Eil.» Küssen ist paradox. Man verlangt nach mehr, obwohl es vor Süsse weh tut.
Schamhaftes Zuschauen
Weil Küssen so privat ist, erregt es Aufsehen, wenn es öffentlich geschieht. So war es vor zwanzig Jahren, als sich Madonna und Britney Spears auf der Bühne auf den Mund küssten. So ist es noch immer, wenn man sieht, wie die halbe Welt reagiert, sobald sich Taylor Swifts Lippen nach einem Football-Spiel auf jene ihres Freundes Travis Kelce legen.
Manche erfüllt es jedoch mit Scham, anderen beim Küssen zuzusehen. Man wohnt etwas bei, das einen nichts angeht. Jean-Luc Godard fühlte sich nicht einmal im Kino dazu berechtigt: «Der Kuss ist etwas Intimes und Privates, rein persönlich und deshalb unzeigbar. Auf eine riesige Leinwand gebracht, wirkt er abstossend», hat der Regisseur gesagt.
Doch erst die Kussszenen haben viele Filme unvergesslich gemacht: von «Vom Winde verweht» bis «Titanic». «Küss mich, als wär’s das letzte Mal», sagt Ingrid Bergman zu Humphrey Bogart in «Casablanca».
Es ist noch nicht das letzte Mal. Man mag sich an nackte Haut gewöhnt haben in der sexualisierten Gesellschaft. Die Pornografie macht die Sexualität geheimnislos. Davon ist das Küssen gerade ausgenommen. Der Kuss bleibt, in den Worten von Hektor Haarkötter, eine «berührende Kommunikationsart»: eine intime Sprache ohne Worte zwischen zwei Menschen, die sich dem Moment hingeben.
Hektor Haarkötter: Küssen. Eine berührende Kommunikationsart. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2024. 288 S., Fr. 36.90.