Der tödliche Sturz an den Velo-WM beschäftigt die Menschen weiterhin – zum Unfallhergang könnte es bald neue Erkenntnisse geben. Olivier Senn vom Organisationskomitee blickt bereits auf künftige Änderungen.
Fast eine Woche ist seit dem tödlichen Sturz der Juniorin Muriel Furrer an den Rad-Weltmeisterschaften in Zürich vergangen. Noch immer ist die Betroffenheit gross, noch immer tauchen täglich neue Fragen auf. Und manchmal auch neue Erkenntnisse.
Dazu gehört, dass Furrers Sturz am Donnerstag wohl doch nicht unbeobachtet war, wie bisher angenommen wurde. Die Zeitung «Blick» ist im Besitz des Videos eines Lesers, das Furrer rund 400 Meter vor der Unfallstelle in Begleitung von zwei Fahrerinnen anderer Nationen zeigt. Gemäss den Recherchen des «Blicks» hat zumindest eine von ihnen beobachtet, wie Furrer von der Strasse abkam – nicht aber den Sturz selbst oder dessen Schwere.
Mittlerweile sind auch die ermittelnden Behörden im Besitz des Videos, also die Staatsanwaltschaft und die Kantonspolizei. Im besten Fall wird die Augenzeugin neue Erkenntnisse zum Unfallhergang liefern können – hier liegt noch immer vieles im Dunkeln.
Der Leiter Sport des lokalen WM-Organisationskomitees Olivier Senn sagt bei der Bilanz-Medienkonferenz am Mittwochvormittag, er habe keine Kenntnis des Videos gehabt. «Dass so viele Details unklar sind, macht es schwierig, damit umzugehen. Ich hoffe, dass die Aufklärung schnell geht.» Im Fall des 2023 tödlich verunglückten Gino Mäder haben die Ermittlungen allerdings Monate gedauert.
Senn sprach am Mittwoch offener und ausführlicher als am vergangenen Freitag. Damals war er zusammen mit einem Vertreter des Weltverbandes UCI kurz nach der Todesnachricht vor die Medien getreten und hatte hauptsächlich gesagt, er könne nichts sagen, weil alle gestellten Fragen Gegenstand der Ermittlungen seien. Nach dem Ende der WM kann er nun wieder so kommunizieren, wie er es für richtig hält. «Es war offensichtlich, dass die UCI nicht sehr erpicht darauf war, viele Informationen preiszugeben.»
Niemand wollte das «Extreme Weather Protocol» umsetzen
Mit Details zum Unfall kann er selbst nach wie vor nicht dienen. Aber Senn verteidigt die Sicherheitsmassnahmen am Tag des Unfalls. Er betonte noch einmal, dass der Streckenabschnitt nie von einem Fahrer oder Verband kritisiert worden sei. Während der WM haben mehrere tausend Durchfahrten an der besagten Stelle stattgefunden – mit nur einem, aber einem fatalen Sturz.
Auch ein Abbruch oder eine Verschiebung des Rennens wegen des Wetters sei kein Thema gewesen. 2015 führte die UCI das «Extreme Weather Protocol» ein. Die Beteiligten eines Rennens wie Fahrer, Teams, der Rennarzt oder das OK können die Einberufung eines Gremiums verlangen, das über eine Verschiebung, einen Abbruch oder andere Anpassungen befindet.
Ein solches Gremium hat in Zürich niemand beantragt. Das ist im Radsport bei starkem Regen auch nicht üblich – eher bei Schneefall, Hitze oder extremem Wind. Das Zürcher OK hat mit Blick auf das Wetter jedoch schon am Morgen des Juniorinnen-Rennens zusätzliche Leute bei der Abfahrt postiert. Weitere Sicherheitsmassnahmen, wie Matten an den Bäumen, wurden erst später angebracht.
«Natürlich inspiziert man die Unfallstelle im Nachgang besonders genau», sagt Senn. Und natürlich könne man immer mehr machen, das müsse man im Nachhinein auch bei diesem Fall eingestehen. Doch es sei keine besonders gefährliche Stelle gewesen, keine Schlüsselstelle. Ob doch zu wenige Streckenposten platziert waren, muss die Staatsanwaltschaft beurteilen.
Senn wünscht sich eine intensivere Diskussion
Bei jedem schweren Sturz im Radsport stellt sich die Frage, ob er hätte verhindert werden können. Eine hundertprozentige Sicherheit wird es nie geben. Im Idealfall aber löst jeder Sturz zumindest Massnahmen aus, damit ein ähnlicher Fall in Zukunft vermieden werden kann. Olivier Senn, der auch Direktor der Tour de Suisse ist, sagt: «Es wird hoffentlich eine intensive Diskussion geben, was im Radsport jetzt passieren muss.» Schon seit Gino Mäders Tod versuchen Senn und seine Mitstreiter, bei der UCI Druck aufzusetzen – sie ist es, die über das Reglement herrscht. «Es gibt auf jeden Fall zu viele Todesfälle», sagt Senn.
Da wäre die Sache mit dem GPS-Tracking, dass also die Standortdaten live verfolgt werden könnten und im Falle einer vermissten Fahrerin sofort ersichtlich wäre, wo sich diese befindet. Das war in Furrers Fall ein grosses Problem, sie wurde lange nicht gefunden. Senn sagt: «Rückblickend wäre das natürlich eine perfekte Lösung gewesen.» Für die UCI wäre es eine kleine Sache, das GPS-Tracking obligatorisch einzuführen, die Technik dazu ist vorhanden. «Es ist eine Frage des Willens des Weltverbandes.»
Dazu kommen Themen wie Helme, die individuell auf die Köpfe der Athleten angepasst werden. Oder Airbags, die im Falle eines Sturzes den Kopf und den Nacken der Radprofis schützen. Auch das Funkverbot an Grossanlässen und auf gewissen Stufen bleibt ein Thema. Mehr Kommunikation kann in gewissen Fällen mehr Sicherheit bieten.
Senns Antrieb ist es, bei diesen Themen vorwärtszumachen. So kann er in dieser schwierigen Zeit aktiv etwas bewirken.