Wenn es von links und rechts an ihm reisst, fühlt er sich wohl. In ihm lebt der Geist der stolzen alten CVP.
Philipp Matthias Bregy ist in der bundesbernischen Mythologie eine Sisyphusfigur. Als Präsident der Mitte-Fraktion steht er der schwierigsten Gruppe im Bundeshaus vor, selbst intern heisst es, man gleiche teilweise einem Ensemble von Primadonnen. Wenn er nicht aufpasst, stieben sie ihm im Nationalrat nach links davon, bevor sie ihn im Ständerat rechts überholen und er irgendwo dazwischensteht und alles erklären muss. Dann hört er von rechts, die Mitte zähle leider nicht mehr zum bürgerlichen Lager, oder von links, die Mitte sei leider nur noch eine Bevollmächtigte der Rechten. Er kann noch so viele Steine hinauftragen, irgendwo fällt immer einer runter.
Kaum hat er im alten Jahr in der Budgetdebatte seine Fraktion grosso modo auf Linie gehalten, kommt im neuen Jahr die nächste Frage, in der sie gespalten ist. Nachdem die Parteileitung das bundesrätliche Verhandlungsergebnis mit der EU zurückhaltend kommentiert hatte, ertönten bereits Fanfarenklänge vom urban-progressiven Flügel: «Die proeuropäischen Kräfte, namentlich die Frauen und die Sektionen der Westschweiz, werden gehörig Druck aufbauen!» (Nicole Barandun, Nationalrätin aus Zürich.) So geht das ständig. Die Mehrheitsmacht der Mitte-Fraktion macht Bregy zu einer der mächtigsten Figuren im System, ihre Kakofonie zu einer der ohnmächtigsten.
Bregy kennt seine Partei, er hat auch schon gelacht, wenn es um interne Dissonanzen ging, und gesagt, es habe niemand behauptet, in der Mitte sei es am einfachsten – aber es sei am besten. Er kommt aus einem Kanton, wo die Partei eine ganze Welt ist. Das setzt einen gewissen Gleichmut voraus, den er auch für sich selbst beansprucht: Als konservativer Oberwalliser war er einer der vehementesten Verteidiger der alten CVP (und ihres Namens), als Fraktionschef ist er jetzt einer der überzeugtesten Vertreter der neuen Mitte.
Kein Wunder, wird er nach der Rücktrittsankündigung von Parteipräsident Gerhard Pfister bereits als logischer Nachfolger gehandelt. Er werde es sich in den nächsten Wochen ernsthaft überlegen, sagt er. Ob er es wird oder nicht: Bregys Bedeutung dürfte steigen. Auch weil er schon bewiesen hat, dass er die Widersprüche der Mitte in sich aufzulösen vermag.
Was ist das für einer? Man kann sich diesen Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen.
Das heilige Wort
An einem Tag im Dezember, als er sich noch keine Gedanken über das Präsidentenamt machen musste, setzt er sich mit grosser Geste in eines der Sofas in der Wandelhalle des Bundeshauses. Eigentlich nimmt er es eher ein. Er spricht wie ein Gourmet von der Politik, von «konstruktiven Lösungen», die es zu kombinieren gelte, von den vollen Politikertagen, die er nicht selten erst gegen Mitternacht mit einem Schlummerbier beende, von einer E-Mail hier, einem schnellen Telefon da, vom Adrenalin, das der Politikbetrieb durch den Körper pumpt: «Man gestaltet ja gerne.»
Es läuft die Wintersession, das Bundesbudget 2025 wird zwischen den Räten hin und her verhandelt, am Anfang hiess es, dem Land drohe ein Notbudget. Bregy sagt, die Lobbybriefe kämen zu einem guten Teil bei seinen Leuten an, in der Mitte, wo die Mehrheiten gemacht würden. Als er am Morgen an seinem Platz im Nationalrat ankam, stand da eine Kerze – eine adventliche Mahnung, nicht am falschen Ort zu sparen. «Es ging um die Jugend», sagt Bregy, «ich bin absolut für die Jugend, ich würde auch gerne mehr Geld geben, aber jetzt müssen wir halt priorisieren.»
Der Druck auf die Mitte, sagt er, sei teilweise immens. Aber er wirkt nicht, als würde er darunter leiden. Im Gegenteil: Er scheint dafür zu leben, mittendrin zu sein. Wenn es von links und von rechts an ihm reisst, dann weiss er: «Das ist der Moment, wo man etwas bewegen kann, schon rein physikalisch.» Auf seiner Website zitiert er unter «Persönliches» seinen Sohn Maximilian Luis: «Papi, Goal schiessu, nit telefonieru.» Man kann es sich sofort vorstellen. Bregy steht mit den Füssen auf dem Fussballplatz, ist aber mit dem Kopf schon beim nächsten politischen Handel. Es ist eine Machtposition, an der man sich auch berauschen kann: Ein Lächeln auf beide Seiten – wo gebe ich nach?
Dieses Gefühl hat unzählige CVP-Politikerinnen und -Politiker in ihren Ämtern gehalten. Sie gingen nicht mit wehenden Fahnen für ihre Überzeugungen unter, sie waren Taktierer der unreinen Lehre. Ideologien überliess man den anderen, selber war man flexibler und kannte vor allem ein Prinzip: den Machterhalt. Das Personal der CVP vertrat nicht ein Programm, es war selbst das Programm. Ihr heiliges Wort hiess und heisst «Lösung». Man sieht sich selbst, ganz unbescheiden, weniger als politische Akteurin denn als salomonische Kraft.
Politisch und privat
Philipp Matthias Bregy, 46, ist schon lange fasziniert von der «politischen Mechanik» und ihren Möglichkeiten, «mitzudiskutieren, mitzugestalten». Als er 14 Jahre alt war, nahm ihn die Mutter, die bei den CVP-Frauen mitgeholfen hat, erstmals an eine Versammlung der Ortspartei Naters mit. Sie fürchtete, der Sohn interessiere sich nicht für das Gemeinwohl. Die Sorge war unbegründet. Er schrieb bald den ersten Leserbrief und wurde Generalsekretär der Jungen CVP (wo er im Wahlkampf 1999 forderte, Verhütungsmittel sollten von der Krankenkasse bezahlt werden). Er wurde Vizepräsident des Touringclubs im Wallis, obwohl er gar keinen Führerausweis hat. Er präsidierte eine Guggenmusik, die Maturabuchkommission, eine Brassband, ein Musikfest, ein Schwingfest. Derzeit ist er unter anderem Präsident des Branchenverbands Schweizer Reben und Weine oder des Eidgenössischen Tambouren- und Pfeiferfests 2027 in Visp.
Wer ihn kritisch sieht im Wallis, nennt ihn «Hansdampf in allen Gassen». Er selber sagt, er trenne Privates und Politisches nicht. Pro Wochenende erhält er fünfzehn bis zwanzig Einladungen, er ist viel unterwegs. «Ich verstehe die Politik als Lebensinhalt», sagt er. Mit seinem Engagement hält er die Ordnung aufrecht, in die er hineingeboren worden ist.
Die alte Welt
Wo Bregy herkommt, ist die Welt der alten CVP noch nahezu erhalten. Die Macht ist so gross, dass der Saal im Kongresszentrum in Visp zu klein ist. Es ist ein Abend kurz vor Weihnachten, als sich die Mitte Oberwallis versammelt, um ihre Präsidentin für den Staatsrat zu nominieren. Sie könnte einen zusätzlichen Sitz erobern für die Schwarzen, wie die früheren CVPler hier immer noch genannt werden. Irgendwann geht eine verstellbare Wand auf, und der Saal vergrössert sich. Bregy sitzt in der ersten Reihe, so wie auch sein langjähriger Gefährte und Kanzlei-Partner Beat Rieder, der bei den letzten Ständeratswahlen im Oberwallis auf fast 93 Prozent der Stimmen kam. Gerne wäre auch Bundesrätin Viola Amherd da gewesen – aber aufgrund eines Staatsbesuchs in Portugal lässt sie sich zuschalten. Am Rednerpult deklamiert Beat Rieder: «Die Interessenwahrung des Oberwallis ist ohne Mitte Oberwallis nicht vorstellbar.» Dann kündigt er «unseren Tätschmeister in Bern» an: Philipp Matthias Bregy.
Er ist sofort im Element. In einer kurzen Rede soll er die Staatsratskandidatin Franziska Biner vorstellen, es ist eine Formsache, aber Bregy macht daraus einen stolzen Akt. «Es ist so weit», ruft er, das Mikrofon überschlägt fast, «die Schwarzen wollen zurück in den Staatsrat!» Seine Rede ist an der katholischen Liturgie geschult, er beherrscht das Feierliche, das Pathos. Über die Kandidatin sagt er: «Ihr geht es um Wurzeln, um Menschen, um ihre Familie, ihre Freunde, unsere Partei, unser Wallis.» Die Kandidatin ist gerührt. Regelmässig setzt er auch Selbstironie ein – und kokettiert mit seinem Gewicht. «Wer Franziska mal auf Tourenskis aufwärtsgehen sah», beginnt er, um die Pointe gleich zu setzen: «Ich notabene nur auf Videos . . .» Als ihm neulich der SP-Co-Präsident Cédric Wermuth auf X vorwarf, er bewege sich auf dünnem Eis, textete er zurück: «. . . dick genug, um mich zu halten.»
Bregy ist gesellschaftlich begabt, wohl ist es kein Zufall, dass er in seinem politischen Leben mit Gerhard Pfister und Beat Rieder zwei Männer ausgleicht, die nicht im klassischen Sinn gesellig sind. Er nimmt es hin, wenn er am Morgen in der Kanzlei von Rieder nicht gegrüsst wird, er verhandelt mit anderen Politikern, wenn sich Pfister in seinen Kopf zurückzieht. In der eigenen Fraktion wird auf beiden Flügeln geschätzt, wie viel Zeit er sich für sie nimmt. Und Damien Cottier, der Fraktionschef der FDP, sagt: «Auch wenn er eine anspruchsvolle Fraktion hat – bei ihm ist immer klar, wo er steht. Verspricht er etwas, kann man darauf zählen.» Im Büro des Nationalrats, wo der Ratsbetrieb organisiert wird, gilt er als einflussreich: weil er dem Primat der Lösung folge.
Lust am Amt
Als bei der Mitte-Veranstaltung in Visp klar wird, dass es nicht genug Plätze im Saal gibt, trägt er als Erster Stühle rein. Im Foyer charmiert er den Leuten. «Ciao, güet?», begrüsst er eine alte Frau und umarmt sie, «letztes Mal habe ich deine Tochter kennengelernt!» – «Gäll, e Flotti?» – «Ja, wie d’Mamma!» Solche Gelegenheiten lässt er nicht ungenutzt.
So hat er auch Karriere gemacht. Er kommt nicht aus einer alten CVP-Familiendynastie, er nutzt seinen Instinkt. Wenn er in der Politik eine «offene Porte» sah, stellte er seinen Fuss rein: So wurde er Fraktionschef im Walliser Grossen Rat, und so wurde er auch Nationalrat. Es war damals ein Kandidat neben Nationalrätin Viola Amherd gesucht, aber vor ihm Angefragte hätten Zusicherungen verlangt – was inakzeptabel gewesen sei, so wird es in der Partei erzählt. Also liess sich Philipp Matthias Bregy aufstellen, bedingungslos, und kurze Zeit später war er der Nachfolger einer Bundesrätin. Nur zwei Jahre später kandidierte er als Präsident der Bundeshausfraktion, nachdem seine Vorgängerin im Amt gescheitert war. Er wurde konkurrenzlos gewählt.
Gerhard Pfister sagt, Bregy sei sehr belastbar, «ein Mechaniker der Macht, was einen guten Fraktionspräsidenten ausmacht». Er könne in kürzester Zeit die wichtigen Details aus einer zweihundertseitigen Vorlage herausziehen, die heiklen Punkte antizipieren und dem Präsidenten parallel auch noch die täglichen Fraktionsinterna vom Leib halten. Pfister sieht in ihm einen der klassischen Vertreter der alten, grossen Oberwalliser CVP, vor denen er «einen gehörigen Respekt» hat: «Um nach Bern zu kommen, müssen sie daheim schon bewiesen haben, dass sie sich in der erheblichen parteiinternen Konkurrenz durchsetzen können. Das stählt.» Ebenso, sagt Pfister, spüre er bei Bregy eine «grosse Lust an Amt und Gestaltung».
In der Mitte ist er am richtigen Ort – wichtig ist ihm in einer Budgetdebatte nicht, wie viele Millionen Franken genau bei der Entwicklungshilfe gekürzt werden, sondern dass Zeichen gesetzt werden, aber keine extremen notabene. Am Anfang der Debatte antizipiert er fast auf die Million genau, wo das Budget zu liegen kommen werde. Er arbeitet auf sein Ziel hin, auch wenn der Weg kein gerader ist. Er schreibt über sich, er sei so «links wie schlank», aber er vertritt als Konservativer die neulinke Sozialpolitik der Mitte. Zu Widersprüchen hat er ein entspanntes Verhältnis – das würde ihm auch als Parteipräsident helfen. Er kann jede Pirouette seiner Partei routiniert wegerklären. Das ist der Populismus der Mitte: Am Ende liegt die «konstruktive Lösung» immer bei ihr.
In dieser Welt ist Philipp Matthias Bregy daheim. An der Veranstaltung der Oberwalliser Mitte ist inzwischen der Apéro aufgefahren worden. Es gibt Hobelkäse und einheimische Weine. Die Leute gehen noch nicht heim, die Laune ist bestens. Bregy grüsst und wird gegrüsst, mehrere Leute gratulieren ihm zu einem Fernsehauftritt am Vorabend. «Güet gsi», «endsgüet». Er lässt sich Wein nachschenken. Neulich hat er über sich gesagt, spätestens bei einem guten Glas Walliser Wein sehe er die Zukunft «recht rosig». Jetzt ist er mittendrin. Eigentlich wollte er mit einem früheren Zug wieder zurück nach Bern, aber jetzt schiebt er die Reise noch einmal auf.