Osaka blickt mit der Expo 2025 in die Zukunft, während auf der Kii-Halbinsel die Vergangenheit lebt. Dort schlängelt sich der Pilgerweg Kumano Kodo durch unberührte Bergwelten – ein spiritueller Pfad voller Geschichte.
Wenn abends hinter der Kathedrale von Santiago de Compostela, dem offiziellen Ziel des Jakobswegs, die Sonne versinkt, beginnt 11 000 Kilometer weiter östlich in Kumano Kodo ein neuer Tag. So verbinden sich die berühmten Pilgerpfade, beide Teil des Weltkulturerbes. Über die Jahre rückten sie näher zusammen. Im Mai 2014 besiegelten spanische Bischöfe und japanische Bergmönche in Santiago ihre seit 1998 bestehende Bruderschaft mit einer feierlichen Zeremonie und führten einen gemeinsamen Pilgerpass ein.
Die beiden Partnerwege könnten kaum unterschiedlicher sein. Auf dem Jakobsweg dominieren Symbole des katholischen Glaubens. Auf dem Kumano Kodo hingegen koexistieren Shintoismus, Japans Staatsreligion von 1868 bis 1945, und Buddhismus, der im 6. Jahrhundert aus China und Korea kam. Diese Harmonie zeigt die japanische Bereitschaft, verschiedene Religionen zu akzeptieren und zu verschmelzen.
Kumano Kodo birgt seit 1200 Jahren heilige Stätten und spiegelt die kulturellen und religiösen Strömungen Japans wider. Zeugnis davon geben unzählige kleine Schreine, die drei grossen Shinto-Schreine, bekannt als Kumano Sanzan, sowie zahlreiche kleinere Oji-Schreine, die sogenannten Kinderschreine, und idyllische Tempel.
Gottheiten manifestieren sich in der Natur
Mit jedem Oji, wichtigen Markierungspunkten auf der Strecke, komme man, so heisst es, dem spirituellen Erwachen näher. Schon in der Antike vermuteten die Japaner, dass in dieser abgelegenen Gegend auf der Kii-Halbinsel, 600 Kilometer von Tokio entfernt, die Gottheiten in Flüssen, den heissen Onsen-Quellen, Felsen und Wäldern lebten. Ihnen nahezukommen, war das Ziel einer Pilgerreise, die früher nur Kaisern und Adligen vorbehalten war.
«Wir sehen in einem grandiosen Wasserfall wie etwa unserem Nachi-Wasserfall in Kumano eine Art Gottheit, die über Superkräfte verfügt», erläutert Kanae Watari, eine junge Japanerin, die regelmässig hierher kommt. Längst lockt der Pfad ebenso wie der Jakobsweg in Spanien Pilger aus aller Welt an.
Es geht oft steil bergauf
Wandert man auf den verzweigten Pfaden des Kumano Kodo, durchquert man die Präfekturen Wakayama, Nara und Mii. Eine gute Kondition ist nötig. Bis in den Spätherbst herrscht feuchtwarmes Klima. Die schmalen Wege führen über Baumwurzeln und Steinstufen, oft steil bergauf und bergab. Sanfte Ebenen oder entspannende Küstenpfade wie beim Jakobsweg sucht man in dieser bewaldeten Hügellandschaft vergeblich.
Die ersten kaiserlichen Pilgerreisen begannen in der Heian-Zeit (794 bis 1192). Damals residierten die Kaiser im 230 Kilometer entfernten Kyoto, der Hauptstadt in jener Zeit. Zehn Tage dauerte der Weg entlang der Pazifikküste über Osaka nach Tanabe, das bis heute als Ausgangspunkt für Pilgerwanderungen dient. Bergmönche, die zurückgezogen im Norden der Kii-Berge lebten, führten die Reisenden. Den Kaiser trug man in einer Sänfte über die Pfade, sein Gefolge zählte bis zu 800 Personen – der Herrscher sollte auf nichts verzichten. Pferde und Ochsen transportierten die Ausrüstung, darunter vor allem Sake-Fässer, die man den Göttern als Zeichen der Verehrung darbrachte.
Sakrales und Profanes bilden auf dem Kumano Kodo keinen Gegensatz und werden so fast schon spielerisch für den Pilger erlebbar. Immer wieder findet man ganz gewöhnliche Sake-Flaschen als Opfergabe bei den Ojis, den Kinderschreinen. Ebenso populär sind die vielen Jizo-Gottheiten am Wegesrand, kleine, mit roten Lätzchen bekleidete Statuen. Sie sollen die Reisenden auf ihrer Wanderung nicht nur schützen, sondern sie nach dem Spenden einer Geldmünze sogar von quälenden Rückenschmerzen befreien können.
Auf den Spuren der japanischen Kaiser
Der beliebteste der sieben Kumano-Kodo-Pfade ist die 35 Kilometer lange sogenannte Nakahechi-Route, der Mittelweg. Er gilt als der klassische Weg, auf dem die Kaiser am liebsten reisten.
Hinter dem steinernen Eingangstor zur heiligen Region steht seit je der Takijiri-Schrein. An der Stelle, wo zwei Flüsse zusammenfliessen, reinigten sich die Pilger einst in rituellen Waschungen. Shinto-Priester kümmerten sich um sie, es wurden Tänze und Sumo-Ringkämpfe aufgeführt, Gedichte, die sogenannten Haikus, komponiert und buddhistische Schriften, die Sutras, kopiert und wie eine Flaschenpost vergraben.
Hier setzt man den ersten Stempel in den Pilgerpass und nimmt einen Bambusstock mit. Der erweist sich auf den oft rutschigen Waldpfaden als nützlich. Die Pilger tauchen nicht nur in das grüne Dickicht der Berge ein, sondern auch in die Welt der Legenden, die die heiligen Stätten in Kumano Kodo von jeher umranken. Unter dem Schutze des Chichi-Iwa-Felsens, des ersten Haltepunkts, soll ein Neugeborenes überlebt haben, das eine Pilgerin auf einer Reise zurückliess. Bis zur Rückkehr der Eltern ernährte es sich angeblich von Milch, die wundersamerweise vom Felsen tropfte, und eine Wölfin bewachte es.
Heute leben hier keine Wölfe mehr, dafür viele Rehe. In der Nähe der Ortschaften tummeln sich Makaken, die man wegen ihrer weissen Gesichter Schneeaffen nennt.
Früher gab es viele Teehäuser
Die munteren Tiere haben es auf die Felder und Obstgärten abgesehen. In der ersten Ortschaft Takahara, was so viel bedeutet wie «hoch auf dem Grasland», schützen die Anwohner ihre Khakibäume und Ume-Pflaumen, die zu Likör verarbeitet werden, mit Netzen. Wer hier in einem Guesthouse übernachten will, muss sich vorher anmelden, sonst wartet auf den Wanderer – willkommen in der Neuzeit – nur ein hochmoderner Getränkeautomat mit eisgekühlten Power-Drinks und heissem Kaffee.
Der Kontrast zu den glorreichen Zeiten könnte kaum grösser sein. Überall standen Teehäuser, eine Institution auf dem Kumano Kodo, besonders während der Edo-Zeit (1603 bis 1867), als Pilgerreisen auch beim einfachen Volk beliebt wurden. Unter der Feudalherrschaft der Shogune entstanden die steilen Stufentreppen der Pilgerstrecke, die Bauern aus den Dörfern als Zwangsarbeiter errichteten.
Aller guten Dinge sind drei
158 Steinstufen führen heute auch zum von Zedern und Zypressen umgebenen Kumano Hongu-Taisha, einem der drei Hauptschreine des Kumano-Wegs. Über 800 Jahre stand er auf einer vom Kumano-Fluss umgebenen Sandinsel, doch eine Flut zerstörte den Schrein im Jahr 1889, er wurde daher auf einem nahe gelegenen Hügel wiederaufgebaut.
Am ursprünglichen Standort ragt heute das höchste Torii-Tor Japans mit 34 Metern in die Höhe. Wie alle Torii markiert es die Grenze zwischen der normalen und der heiligen Welt. Ganz oben leuchtet das heilige Symbol des Kumano-Kodo-Wegs: die dreibeinige Krähe Yatagarasu. Der Legende nach führte sie einst einen Kaiser von Kumano in die damalige Hauptstadt Nara. Heute schmückt dieser Vogel viele Devotionalien, die an den Schreinen erhältlich sind. Ausserdem dient die dreibeinige Krähe als offizielles Symbol der japanischen Fussballnationalmannschaft. So weit hat es das Emblem des Jakobswegs, die Jakobsmuschel, nicht gebracht.
Über den Kumano-Fluss entlang tiefer Schluchten gelangt man wie die erschöpften Pilger von einst auf einem traditionellen Holzboot zum zweiten grossen Heiligtum des Wegs, dem Hayatama-Taisha-Schrein, direkt an der beschaulichen Küstenstadt Shingu. Auch hier stehen die Gläubigen vor dem scharlachroten Schrein an, um das japanische Gebetsritual zu vollziehen. Die Japaner glauben, dass ein Besuch von Hayatama sie von allen Sünden befreit. Eine steile Steintreppe von mehr als 530 unregelmässigen und nicht ganz ungefährlichen Stufen führt zum Kamikura-Schrein, der über Shingu thront. Die Pilger berühren den riesigen vorgelagerten Felsen Gotobiki-iwa, denn dies soll spirituelle Energie verleihen.
Doch komplett wird die Pilgerreise erst durch den Besuch von Kumano Nachi-Taisha, der prachtvollsten der drei Stätten, berühmt auch wegen der mehrstöckigen zinnoberroten Pagode Seigantoji.
Auf der imposanten Anlage stehen auf einem Plateau ein grosser buddhistischer Tempel und ein Schrein nebeneinander, das beste Beispiel für die Koexistenz von Buddhismus und Shintoismus. Doch der unbestrittene Star von Nachi ist der Wasserfall, mit einem Gefälle von 133 Metern der höchste in Japan.
Kanae Watari atmet tief ein: «Erst wenn wir alle drei Kumano-Sanzan-Schreine besuchen, finden wir Frieden mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft – und nur dann haben wir eine Chance auf Wiedergeburt.»
Gut zu wissen
Beste Reisezeit: April, Mai, August und November.
Die Weltausstellung findet vom 13. April bis zum 13. Oktober 2025 in Osaka unter dem Motto «Designing Future Society For Our Lives» statt.
Flüge nach Osaka von Zürich mit Cathay Pacific über Hongkong, in Osaka weiter mit dem Zug nach Kii-Tanabe, dem Ausgangspunkt des Wegs. Hier gibt es auch ein Fremdenverkehrsbüro, das die Wanderungen organisiert.
Unterkunft in Guesthouses oder Hotels wie etwa dem Kamenoi-Hotel in Natchi Katsuura, ab 90 Franken für ein Doppelzimmer mit Frühstück.
Infos unter www.tb-kumano.jp und www.japan.travel.
Diese Reportage wurde möglich dank der Unterstützung der Wakayama Tourism Federation.