Heute gleicht fast jedes Bauprojekt einem Minenfeld. Die Zahl der Rekurse erreicht einen neuen Rekord. Machtspiele, Intrigen und finanzielle Forderungen bringen selbst unerschrockene Bauherren ins Wanken. Experten sprechen gar von «Nötigung».
Die Geschichten von Baueinsprachen und Baurekursen betreffen heute nahezu alle, die bauen oder umbauen wollen. Von der Eigentümerin eines Wohnhauses, die den Traum vom Ausbau des Dachs hegt, bis zur grossen Versicherung, die am Genfersee jahrelang um eine Geschossaufstockung kämpft. Die Schatten der Einsprachen reichen weit.
Beginnen wir mit einem Fallbeispiel aus Olten. Die Sonne strahlt an diesem herrlichen Tag über der Stadt, während die Menschen das Leben entlang der Aare und in der malerischen Altstadt geniessen. Nur fünf Minuten Fussweg vom Bahnhof entfernt erhebt sich das 2003 erbaute Einkaufszentrum Sälipark. Direkt daneben erstreckt sich das pulsierende Bildungsquartier mit einer Fachhochschule und weiteren Bildungseinrichtungen, die täglich von mehreren tausend Studierenden frequentiert werden.
Von aussen ist dem Sälipark anzusehen, dass die Gebäude eine Auffrischung vertragen könnten. Die Hoffnung auf ein neues Einkaufs- und Begegnungszentrum trägt einen Namen: Sälipark 2020.
Der Investor Thomas W. Jung und sein Familienunternehmen Giroud Olma AG harren seit nunmehr neun Jahren einer Baubewilligung für ihre Vision. Jung ist von der Bedeutung des Projekts für Olten nach wie vor fest überzeugt: «Sowohl die Stadt als auch der Kanton haben unsere Pläne stets unterstützt.»
2019 wurden die grundlegenden Richtlinien vom Stadtrat von Olten gutgeheissen, mit teilweise weit gehenden Auflagen zum Verkehrskonzept und zur Gebäudehöhe. Trotz der breiten Unterstützung gingen über 40 Einsprachen ein, die das Projekt ins Wanken brachten.
Der Ball liegt beim Bundesgericht
Der Ausgang des epischen Streits ist bis heute ungewiss. Zwar erledigten sich viele Einwände, oder sie wurden zurückgezogen. Jetzt liegt der Fall beim Bundesgericht in Lausanne. Der erbitterte Streit um Mobilitätskonzept, Parkplätze und den erwarteten Baulärm ist noch nicht entschieden.
Der Investor Thomas W. Jung hält fest, dass das Vorhaben eine Bereicherung für die Stadt wäre und sämtliche Auflagen erfülle: «Es kann doch einfach nicht sein, dass Rekurrenten quasi gratis ein 130-Millionen-Projekt über so viele Jahre blockieren können.» Während sich der Rechtsstreit hinzieht, blühen auf Grünflächen sowie an Verkehrsknotenpunkten rund um Olten neue Einkaufszentren auf. «Die von uns angestrebte Aufwertung der Innenstadt ist dagegen blockiert. Und gleichzeitig werden die Klagen über das Lädelisterben in der Stadt lauter», kritisiert Jung.
Olten ist kein Einzelfall. Besonders in Städten wie Genf und Zürich sind sämtliche Bauherrschaften und Investoren mit massiver Opposition konfrontiert. In der Stadt Zürich ist zum Beispiel der Anteil an Neubauten, gegen die ein Rekurs eingeht, von früher 30 bis 40 Prozent auf 71 Prozent im Jahr 2022 gestiegen (siehe Grafik). Das heisst: Weit mehr als die Hälfte aller Neubauten müssen sich einem aufwendigen Verfahren und Verhandlungen am kantonalen Baurekursgericht stellen.
Eine Besserung ist nicht in Sicht. Laut einem Sprecher des Hochbaudepartements waren die Baurekurse in der Stadt Zürich letztes Jahr etwa auf dem Rekordhoch der Vorjahre, genaue Zahlen fehlen noch.
Stadt Olten: «In öffentlichem Interesse»
Das eigentliche Problem liegt darin, dass Projekte vereitelt werden, die grundsätzlich alle Voraussetzungen für eine ordnungsgemässe Genehmigung erfüllen würden. Noch einmal zurück zu Olten. Allen Kontroversen zum Trotz bekräftigt der Stadtrat sein Engagement für das Projekt Sälipark 2020.
Kurt Schneider, Leiter der Baudirektion, sagt dazu: «Wir halten es für richtig, an gut erschlossenen Innenstadtlagen Einkaufsmöglichkeiten und zusätzlichen Wohnraum anzubieten.» Das Projekt liege in öffentlichem Interesse. Trotzdem verschärfe sich die Tonlage im Bewilligungsprozess, wie der Stadtbaumeister erläutert: «Rekurrenten schalten 200 Prozent auf Opposition und fahren von Anfang an eine Strategie, die Lösungen schlicht verunmöglicht.»
Bewilligungsbehörden würden zwar nicht gerade erpresst. Gegenüber den Behörden werde aber ein enormer Druck aufgebaut: «Das heisst zum Beispiel, dass man den Bewilligungsinstanzen sowohl Fachkompetenz als auch Professionalität abspricht.»
Jeder Stein birgt Konfliktpotenzial
Kommen wir zu einem weiteren Beispiel, dem einer Eigenheimbesitzerin in Winterthur: Sie wollte sich den Wohntraum eines Dachausbaus verwirklichen – inklusive zusätzlicher Dachfenster mit schönem Panoramablick. Die zuständige Behörde prüfte das Vorhaben in allen Details und gab grünes Licht. Doch wer heute bauen will, muss vor allem eine Lektion lernen: Selbst kleinste Projekte bergen Konfliktpotenzial, und aus Nachbarn werden Gegenspieler.
Nach der öffentlichen Ausschreibung sah die Hauseigentümerin ihre Pläne von drohenden Einsprachen aus dem Quartier überschattet. Um jedes Fenster, um jeden Balken musste gerungen werden. Um sich eine zähe rechtliche Auseinandersetzung zu ersparen, revidierte sie ihre Pläne – die Verhinderer setzten sich also durch.
Auch die Grossen der Wirtschaft bleiben nicht verschont. Der Portfoliomanager einer Schweizer Versicherung und ein streitbarer Nachbar begegneten sich während Jahren vor allen Gerichtsinstanzen, um über die Aufstockung eines Wohnhauses zu verhandeln. Dabei wurde vor allem deutlich, dass selbst jahrelange Kämpfe keine Klarheit bringen konnten. Und vor allem keinen Nutzen. Die Antwort des Rekurrenten auf die Frage nach dem Mehrwert des unendlichen Streits: «Ich genoss sechs Jahre länger freie Sicht auf den See, das war mir die paar Franken für eine Einsprache allemal wert.» Eine ironische Pointe inmitten des chaotischen Rechtsmissbrauchs.
Im Fadenkreuz von Geldforderungen
Selbst gemeinnützige Baugenossenschaften und Stiftungen, die sich dem Ziel zahlbarer Wohnungen verschrieben haben, finden sich in einem undurchdringlichen Dickicht von Einsprachen wieder. Peter Ilg, Leiter des Swiss Real Estate Institute in Zürich, kennt eine weitere Anekdote. Der Immobilienexperte spricht hier sogar von «Nötigung»: Ein Nachbar hatte die Unverfrorenheit, von einer gemeinnützigen Stiftung eine Einmalzahlung über eine Million Franken zu fordern.
Er bot den Deal an, auf eine Einsprache gegen das Projekt des gemeinnützigen Bauträgers zu verzichten, wenn ihm im Gegenzug Cash ausbezahlt wird. Er argumentierte mit angeblichen «potenziellen Risiken», die ihm durch den Bau nebenan entstehen würden. Selbst ohne jegliche rechtliche Grundlage seitens des dreisten Nachbarn war die Bauherrschaft gezwungen, Verhandlungen zu führen. Letztlich zahlte man rund ein Drittel – aber immer noch viel zu viel für ein Verhalten, das sowohl rechtlich als auch moralisch fragwürdig war.
Warum die Schweiz zu wenig Wohnungen hat
In der Summe sind laut Peter Ilg Einsprachen die Hauptursache für den Mangel an Wohnungen in der Schweiz (siehe Interview). Weiter hebt der Experte hervor, dass das latente Risiko von Baueinsprachen die Behörden massiv mit zusätzlicher Arbeit eindecke, ja sie «an die Grenzen ihrer Ressourcen bringe». Dies sei auch ein Grund dafür, dass die Bewilligungsverfahren immer mehr Zeit beanspruchten.
Jedes noch so geringfügige Detail sei zu prüfen und abzuklären, bevor eine Baubewilligung erteilt werde. Schliesslich müssten Baugenehmigungen gegen alle Versuche der Gegenpartei gewappnet sein, mit einer Einsprache durchzukommen. «Jeder winzige Fehler wird von gewieften Anwälten aufgegriffen», so Ilg. Mit der Konsequenz, dass die Behörden in einem schlechten Licht dastünden, sollte etwas nicht den Vorgaben irgendeines Gesetzesparagrafen genügen.
Vorstoss im Parlament
Andrea Gmür-Schönenberger, Ständerätin von der Mitte-Fraktion, nahm sich des kontroversen Themas an und reichte letzten Sommer ein Postulat ein. Das Raumplanungsgesetz soll so geändert werden, dass künftig nicht mehr ohne weiteres Gratis-Einsprachen Projekte verzögern oder gar verhindern können. Das Fehlen eines Kostenrisikos leiste der Tendenz Vorschub, auch ohne sachlichen Grund ganz einfach unliebsame Vorhaben zu verhindern. Mit einer Änderung des Raumplanungsgesetzes will sie erreichen, dass die Kantone bei einem Rechtsstreit der unterliegenden Partei moderate Verfahrenskosten auferlegen können.
Doch nach welchem Massstab sollten diese Kosten festgesetzt werden? Die Details sind noch offen. Gmür-Schönenberger sagt dazu: «Es wäre zum Beispiel denkbar, die Kostenfolgen für Rekurrenten von der Investitionssumme eines Objekts abhängig zu machen.» Der Luzerner Nationalrat Leo Müller brachte das gleiche Anliegen im Nationalrat ein («Keine Gratisverzögerungen von rechtskonformen Bau- und Planungsprojekten»).
Rechtsmittel kosten viel Zeit und Geld
Zwischen den politischen Debatten liegt die Realität derer, die tagtäglich mit den Auswirkungen konfrontiert sind – eine harte Realität, geprägt von Frustration und steigenden finanziellen Risiken. Balz Halter, VR-Präsident der Zürcher Bau- und Immobiliengruppe Halter, sagt dazu: «Es ist praktisch die Regel, dass wir mit Einsprachen und Rekursen konfrontiert sind.» Das Problem sei von «volkswirtschaftlicher Tragweite, weil diese Rechtsmittelverfahren unglaublich viel Zeit und Geld kosten».
Die meisten Fachleute sind sich einig, dass schnellere Verfahren ein entscheidender Schritt wären. «Denn die drohende lange Verzögerung spielt den Rekurrenten in die Hände», wie Peter Ilg ausführt. Jeder Rekurs und jede Einsprache verursacht einem Investor einen enormen Schaden, da dieser mit Ungewissheit und langen Verfahren konfrontiert wird. Dies liesse sich vermeiden, wenn offensichtlich haltlose oder missbräuchliche Einsprachen in kürzester Frist erledigt werden könnten.
Engere Auslegung gefordert
Miriam Lüdi, Juristin für Bau- und Raumplanungsrecht, fordert eine andere Gerichtspraxis: Entscheidend wäre eine viel engere Auslegung bei der Frage, wer denn überhaupt zu Einsprachen berechtigt ist. «Es ist stossend, wenn Nachbarn einen Wohnungsbau mit dem Argument des Lärmschutzes zu Fall bringen – selbst dann, wenn sie weder direkt betroffen sind noch irgendein schutzwürdiges Interesse vorbringen können», betont die Expertin. Sie schlägt deshalb vor, dass die Gerichte ihre Praxis ändern und so wie früher «nur jene Rügen materiell beurteilen, welche schutzwürdige Interessen des Beschwerdeführers tangieren».
Das Hauptziel ist eindeutig festgelegt: Alles, was das Bauen und die Stadtentwicklung vereinfacht, ist ein Schritt in die richtige Richtung.