Nach dem Messerangriff von Aschaffenburg wollen CDU und CSU Deutschlands Migrationspolitik verschärfen. Grüne und Sozialdemokraten werfen ihnen vor, damit gegen europäisches Recht zu verstossen. Was an den Vorwürfen dran ist.
In einer Sache sind sich die verbliebenen Koalitionäre in der deutschen Regierung ausnahmsweise einig. Der Fünf-Punkte-Plan, mit dem die Union der Parteien CDU und CSU die illegale Migration nach Deutschland bekämpfen will, verstösst gegen geltendes Recht.
Die grüne deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock warf dem Kanzlerkandidaten der Union, Friedrich Merz, vor, er wolle «Europarecht brechen und einen Zaun um Deutschland bauen». Der stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokraten im Bundestag, Dirk Wiese, prophezeite: «Das, was er vorschlägt, wird zwei Wochen später vor Gericht gekippt werden.»
Am meisten diskutiert werden derzeit zwei Anträge, welche die Union an diesem Mittwoch im Bundestag einbringen will. Allerdings haben sie rein symbolischen Charakter, da aus ihnen keine Gesetze hervorgehen können – anders verhält es sich mit dem Entwurf, den die Union am kommenden Freitag auf die Tagesordnung setzen will. Dann will sie im Bundestag eine Mehrheit für das «Zustrombegrenzungsgesetz» erreichen.
Die Kritiker der Union halten zwei Punkte in den Anträgen für unvereinbar mit EU-Recht: die geplanten dauerhaften Kontrollen an allen deutschen Staatsgrenzen und das «faktische Einreiseverbot» für alle Personen ohne gültige Papiere.
Merz hat jedoch bereits angekündigt, seinen Plan «ab Tag eins» einer möglichen Amtszeit als Kanzler per Richtlinienkompetenz umzusetzen. Würde Deutschland also ab diesem Tag zu einem europarechtlichen Gesetzesbrecher, wie Sozialdemokraten und Grüne befürchten?
Namhafte Experten geben den CDU-Plänen grünes Licht
Mitnichten, sagen einige namhafte Rechtswissenschafter. Aus Sicht des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier sind Zurückweisungen an den Grenzen nicht nur möglich, sondern geboten. Das Argument, das Europarecht stehe diesen entgegen, hält er für ideologisch motiviert.
Die europäische Integration habe Schranken, und zwar dort, wo Kernbereiche der nationalen Souveränität betroffen seien. Aus Sicht von Papier ist die deutsche Rechtslage eindeutig: «Wer aus einem sicheren Drittstaat anreist, dem ist die Einreise zu verweigern.»
Auch der frühere Richter des Bundesverfassungsgerichts Peter M. Huber hält Zurückweisungen für mit dem EU-Recht vereinbar. Der Schengener Grenzkodex lasse Grenzkontrollen unter bestimmten Voraussetzungen zu, schreibt er in einem Gastbeitrag für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». Damit sei auch eine Einreiseverweigerung an der Grenze möglich.
In kleinerem Umfang als von Merz gefordert passiert dies bereits an den deutschen Grenzen. Sozialdemokraten und Grüne kritisieren die Pläne der Union zwar deutlich. Doch ihre Regierung hat in den vergangenen zwei Jahren bereits temporäre Kontrollen an allen deutschen Grenzen eingeführt.
Auch die derzeitige Regierung lässt die Grenzen kontrollieren
Bereits seit Herbst 2023 werden die Grenzen zu Polen, Tschechien, Österreich und zur Schweiz überwacht – im September 2024 kamen die übrigen Grenzen zu Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Dänemark hinzu. Dabei wurden im vergangenen Jahr rund 83 000 unerlaubte Grenzübertritte von der Bundespolizei registriert. 46 758 Personen wurden laut der Behörde «unmittelbar an der Grenze oder im Zusammenhang mit dem illegalen Grenzübertritt zurückgewiesen».
Ursprünglich waren die Massnahmen für eine Dauer von sechs Monaten angekündigt. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser liess sie jedoch bis März dieses Jahres verlängern. Schliesslich hätten sich die Kontrollen bewährt. Deutschland begründet den Schritt gegenüber der EU mit der illegalen Migration und der Bedrohung durch islamistischen Terrorismus.
Damit ist die Bundesrepublik in der EU nicht allein. Auch andere Mitgliedstaaten wie Dänemark, die Niederlande, Österreich, Frankreich und Italien führen oder führten zeitlich begrenzte Kontrollen an ihren Grenzen durch. Auch sie wollen auf diesem Wege der illegalen Migration Herr werden.
Rechtlich macht es allerdings einen Unterschied, ob die Kontrollen nur einige Monate dauern oder ob ein Staat diese dauerhaft durchführen will, wie es von der Union geplant ist. Der Europäische Gerichtshof urteilte 2022, dass Grenzkontrollen nicht länger als sechs Monate aufrechterhalten werden dürfen.
Die Union sieht Deutschland in der Pflicht
Die Union begründet ihr geplantes Ausscheren von dieser Regel nun mit einer «Notlage», in der sich Deutschland befinde. Die gegenwärtige Asyl- und Einwanderungspolitik gefährde die Sicherheit der Bürger und das Vertrauen in den Staat, heisst es in einem der Anträge für den Bundestag. Die bestehenden europäischen Regelungen seien «dysfunktional».
Zudem instrumentalisiere der russische Präsident Wladimir Putin Migration «als hybride Waffe». Jeden Monat sende er Hunderte Migranten über die weissrussische Grenze nach Europa.
In dieser «Gesamtsituation» ist es aus Sicht der Union «die Pflicht Deutschlands und damit der Bundesregierung», nationales Recht anzuwenden anstelle von europäischen Regelungen zu Migration und Asyl. So sei es in den europäischen Verträgen für «aussergewöhnliche Notlagen» vorgesehen.
Gemäss europäischem Recht dürfen vorläufige Massnahmen getroffen werden, wenn sich ein Mitgliedstaat «aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen» in einer Notlage befindet. Merz verwies bereits im August vergangenen Jahres auf eine entsprechende Regelung im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
Diesen Passus griff nun auch der Rechtswissenschafter Daniel Thym von der Universität Konstanz im Podcast des «Bild»-Journalisten Paul Ronzheimer auf. Folgt man seiner Argumentation, ergibt sich aus den europäischen Verträgen eine «Ausnahmeklausel», wonach sich die EU-Staaten in einer Notsituation nicht an die europäischen Gesetze halten müssen. «Ob das Argument zieht mit der Notlage», könne man allerdings erst sagen, wenn die Gerichte darüber entschieden, so Thym.
«Pläne der Union stellen die Freizügigkeit infrage»
Es gibt jedoch auch Experten, die die Pläne der Union für klar rechtswidrig halten. Einer von ihnen ist der Rechtswissenschafter Constantin Hruschka von der Evangelischen Hochschule in Freiburg im Breisgau. Aus seiner Sicht sind Grenzkontrollen und Zurückweisungen von Migranten mit dem EU-Recht unvereinbar.
«Die Pläne der Union stellen die Freizügigkeit als zentrale Errungenschaft der EU infrage», sagt er der NZZ. Er bezweifelt, dass Russlands hybride Kriegsführung oder die von der Union genannten Fehler im europäischen Asylsystem ausreichende Gründe für eine im EU-Recht vorgesehene Notlage seien.
Hruschka gibt zu bedenken, dass ein Staat nicht einfach einseitig beschliessen könne, dass er sich in einer solchen Notlage befinde. Diese Entscheidung müsse seitens der EU bestätigt werden.
Da sich die Mitgliedsstaaten erst im vergangenen Jahr auf eine Reform des europäischen Asylsystems geeinigt haben, hält Hruschka es für unwahrscheinlich, dass man Deutschland die Darstellung, das System sei dysfunktional, als Begründung zugestehen würde.
Ausserdem ist die Zahl der illegalen Grenzübertritte in die EU im vergangenen Jahr deutlich gesunken. Die Grenzschutzbehörde Frontex registrierte einen Rückgang um 38 Prozentpunkte. Das könnte es zusätzlich erschweren, die illegale Migration nach Deutschland als besonders schwerwiegendes Problem darzustellen.
Union setzt auf den «Dominoeffekt»
Für CDU und CSU könnte jedoch zweitrangig sein, ob ihre Pläne mit EU-Recht vereinbar sind. Mit den Grenzkontrollen und den Zurückweisungen illegal eingewanderter Migranten will man in Europa einen «Dominoeffekt» auslösen. Die anderen Mitgliedstaaten sollen dazu bewogen werden, sich wieder an die Dublin-Verordnung zu halten.
So müsste ein Migrant seinen Asylantrag eigentlich in dem Land stellen, in dem er zum ersten Mal EU-Boden betreten hat. Das System scheitert derzeit jedoch daran, dass viele Migranten dennoch weiterreisen. Einmal in Deutschland angekommen, kann eine Vielzahl der illegal Eingereisten bleiben, weil Überstellungen in den eigentlich zuständigen EU-Staat regelmässig scheitern.
Das liegt zum einen an der langsamen deutschen Bürokratie. Wenn die Überstellung nicht innert sechs Monaten vollzogen wird, fällt die Zuständigkeit für den Asylbewerber automatisch auf Deutschland. Zum anderen weigern sich jedoch auch andere Mitgliedstaaten, wie etwa Italien, Migranten aufzunehmen, für die sie zuständig wären.
Würden diese Migranten nun von einem Tag auf den anderen an Deutschlands Grenzen abgewiesen, wären sie praktisch im Nachbarstaat gestrandet. Damit könnte der Druck auf die Länder an den Aussengrenzen steigen, diese wieder aufzunehmen. Das wäre jedoch eher ein politischer Schachzug denn eine juristische Lösung.