Er zählt zu den Koryphäen der amerikanischen Musikszene. Nicht selten aber hat der Komponist und Jazztrompeter Wynton Marsalis irritiert durch seinen Traditionalismus. Dabei ging es ihm stets um Demokratie und Humanismus, wie er im Gespräch erklärt.
Wo ist eigentlich Wynton Marsalis? Das 15-köpfige Jazz at Lincoln Center Orchestra tritt Ende März in der ausverkauften Zürcher Tonhalle auf. Das Auge aber braucht eine gewisse Zeit, um den Leader der amerikanischen Big Band zu finden. Bescheiden und unscheinbar hat er sich in der hintersten Reihe zu seinen Trompeter-Kollegen gesetzt.
Wynton Marsalis hat keine Starallüren. Die braucht er nicht bei all seinen Meriten. 1961 in New Orleans in eine Musikerfamilie geboren – sein Vater war Jazzpianist, sein Bruder Branford ist ein berühmter Saxofonist -, hat er sich längst als einer der virtuosesten Trompeter in Jazz und Klassik profiliert. Zahlreiche Aufnahmen dokumentieren sein Werk als Grenzgänger zwischen Jazz-Arrangements und klassischer Komposition.
Wynton Marsalis gilt aber auch als streitbarer Kulturtheoretiker. In seiner Sorge um die Afroamerikaner und die afroamerikanische Musiktradition hat er sich oft pointiert und provokativ gegen neuere Entwicklungen in Pop und Jazz ausgesprochen. Vor dem Zürcher Konzert fand der ebenso freundliche wie selbstsichere Musiker Zeit für ein Interview.
Sie haben in den USA einen neuen Präsidenten. Was halten Sie von ihm?
Trump ist gewiss ein Stresstest für die Demokratie und eine Herausforderung für die Nation. Allerdings ist es nun nicht so, dass sich die Geschicke der USA lange in die richtige Richtung entwickelt hätten und jetzt plötzlich in die falsche.
Was wollen Sie damit sagen, werden Trumps Disruptionen überschätzt?
Trump wurde gewählt, so funktioniert Demokratie. Er mag nun eine sehr tiefgreifende und provozierende Politik betreiben. Aber es wurden vor ihm schon Millionen falscher Entscheidungen gefällt, die die Situation für Bürger der USA verschlechtert haben – insbesondere für die Afroamerikaner: Man hat Highways mitten durch afroamerikanische Quartiere gebaut, man hat Geld aus dem Erziehungssystem genommen, man hat die Schwarzen kriminalisiert.
Sie haben Stücke komponiert, die tragen den Begriff «Demokratie» im Titel. Das gilt zum Beispiel für «Dialogue in Democracy», den letzten Satz Ihrer «Blues Symphony». Sind Sie bereit, jetzt auch für Demokratie einzustehen?
Ich bin 63-jährig. Seit ich 19 Jahre alt bin, habe ich Musik gespielt und Musik komponiert, ich habe auch Vorlesungen gehalten, an Diskussionen teilgenommen und Bücher geschrieben. Ich habe mich auf diese Weise immer für Demokratie und Humanismus eingesetzt.
Weshalb steckt die Demokratie heute vielerorts in einer Krise?
Auf das Volk ist eben nicht immer Verlass. Das kann man schon in der Bibel sehen. Im Buch Samuel ist zum Beispiel zu lesen, dass die Israeliten lieber von einem König geführt werden wollen als von Gott.
Sie wirken erstaunlich fatalistisch. Setzen Sie noch Hoffnung in eine Politik, die die Verhältnisse der Amerikaner verbessert?
Wenn man so alt ist wie ich, weiss man, dass es stets auf und ab geht in der Welt. Ich habe immer Hoffnung! Jazz ist eine Musik der Hoffnung. Wir Musiker haben zwar kaum Macht im Staat und kein Militär, das unsere Werte verteidigt. Aber wir Musiker haben eine humanistische Mission. Die Künstler, deren Erbe wir pflegen, Musiker wie Duke Ellington oder Dizzy Gillespie, sie waren universelle Humanisten. Ihre Musik gilt der ganzen Menschheit, die im Moment tatsächlich eine dunkle Zeit erlebt.
Sie sprechen von universellem Humanismus. Wie steht es um Ihren amerikanischen oder afroamerikanischen Patriotismus?
Ich verstehe mich als Weltbürger und bin gleichzeitig ein amerikanischer Patriot, weil ich an die amerikanischen Ideale glaube. Als Afroamerikaner wird man durch Regierungsentscheidungen zwar immer wieder benachteiligt und diskriminiert. Aber ich gehöre zu jenen Leuten, die lieber die Fehler des demokratischen Systems korrigieren, als es zu zerstören.
Sie sind nicht nur politisch konservativ, Sie gelten auch als konservativer Jazzmusiker. Sehen Sie sich selbst so?
Was heisst schon «konservativ»? Dass ich mich um die Jazztradition sorge, dafür spricht meine Musik. Tatsächlich aber haben wir heute grössere Probleme als die Frage, ob meine Musik konservativ sei. Es gibt allerdings eine intellektuelle Szene, die zwar kaum vertraut ist mit künstlerischen Herausforderungen der Musik, diese aber für eigene Ziele in Anspruch nehmen will. Man möchte mit Musik irgendeine Rebellion anzetteln – und diese gleich selber dirigieren.
Tatsächlich hat doch auch Jazz eine rebellische Vergangenheit?
Einige Jazzmusiker wollten auch Rebellen sein. Aber schauen Sie mal, was haben uns die Tausende von Rebellen des Rock’n’Roll gebracht? Was bringen uns die Rebellen des Hip-Hop?
Den USA scheinen Rocker und Rapper etwas gebracht zu haben: Dank ihnen sind die USA eine kulturelle Supermacht.
Umso schlimmer! Schauen Sie mal auf die Qualität dieser Musik – da ist nicht viel. Hören Sie genau hin! Hören Sie auf die Texte! Die sind meist simpel und primitiv.
Da bin ich nicht einverstanden. Es gibt auch sehr talentierte Rapper!
Talent gibt es immer und überall. Es ist die Frage, wie man Talent einsetzt, was man erreichen will, was man den Menschen mitteilt. Wenn nun schwarze Musiker primitive, destruktive Ideen transportieren, die für die Black Community enorm schädlich sind, werden sie vom weissen Publikum immer unterstützt. Es gilt übrigens nicht nur für die schwarzen Rapper, die Stereotypen von Gangstern und Dealern bedienen, sondern auch für Hollywood-Filme, die die Schwarzen oft als Pimps glorifizieren. Rapper schaden der Black Community.
Okay, ich werde das meinen beiden Söhnen zu erklären versuchen – beide sind sie grosse Hip-Hop-Fans.
Ach, man kann den Erfolg von Hip-Hop nicht stoppen, ich weiss. (Er lacht.) Das ist wie mit der Pornografie – wenn die Jungs freien Zugang dazu haben, dann schauen sie halt hin.
Sie sind auch Musiklehrer. Finden Sie noch Studenten, die ihren Idealen folgen?
Ich habe viele Schüler. Das Problem ist aber, dass der Kommerz unterdessen derart in die Kultur eingegangen ist, dass die smartesten Studenten mit Musik vor allem viel Geld machen wollen. Noch gibt es aber ein paar Nonkonformisten, die sich mit Enthusiasmus um die Musik selbst kümmern. Mir ist es wichtig, eine künstlerische Elite zu bilden, die sich nicht korrumpieren lässt durch den Markt.
Sie sind nicht nur ein prominenter Jazzmusiker, Sie haben sich als Trompeter und als Komponist auch in der klassischen Musik einen Namen gemacht. Haben Sie zwei Musikerseelen in der Brust?
Nein! Es gibt nur eine Musikalität. Wenn man komponiert, improvisiert man im Kopf, bevor man es niederschreibt. Und wenn man improvisiert, geht es auch um formale Schlüssigkeit. Man kann das mit Ihren Fragen vergleichen. Es kommt doch nicht darauf an, ob Sie sie ablesen oder ob Sie Fragen frei formulieren.
Wie steht es um die Akzeptanz Ihres kompositorischen Werks? Werden Ihre Stücke auch von europäischen Orchestern gespielt? Kommen diese zurecht mit der Jazz-Phrasierung?
Einige Orchester spielen meine Stücke. Das geht schon. Ich habe alles so notiert, dass man es spielen kann.
Wie steht es um das europäische Publikum? Braucht es ein Verständnis der amerikanischen oder afroamerikanischen Musikgeschichte, um Ihre Musik zu verstehen?
Nein, das glaube ich nicht. Musik ist meistens unmittelbar zugänglich. Das gilt für afrikanische oder indische Musik ebenso wie für klassische Musik oder Jazz. Wenn man tiefer eindringen will in die Kunst, kann man sich dann mit ihrer Geschichte und mit ihren Besonderheiten auseinandersetzen. Es ist wie beim Essen: Man kann sich ein Menu einfach schmecken lassen, man kann sich die verschiedenen Ingredienzien und ihre Mischungen aber auch bewusst machen.
Sie haben vorhin Musikkulturen aus aller Welt angesprochen. Wie steht es um die Idee der kulturellen Aneignung, muss man aufpassen, dass man fremde Musik nicht missbraucht?
Ich glaube nicht an dieses Konzept. Über kulturelle Aneignung zu sprechen, ist eine Möglichkeit, die Zeit zu verschwenden. Es ist ein stupides Konzept. Es ist eine Idee, die von den tatsächlichen Formen des Rassismus ablenkt. Um sich mit dem konkreten Rassismus zu beschäftigen, sollte man sich mit afroamerikanischen Künstlern wie Duke Ellington, Charlie Parker oder John Coltrane auseinandersetzen, die darüber sehr viel zu sagen hatten.