Die israelische ESC-Teilnehmerin befindet sich in einer Zerreissprobe zwischen der Angst, das Falsche zu sagen – und dem Drang, über das Wichtige nicht zu schweigen. Eine Momentaufnahme.
In den letzten Augenblicken des Gesprächs scheint sich in der jungen Frau etwas zu verschieben. Das Lächeln, das während 19 Minuten um Yuval Raphaels Mund spielte, verschwindet. Dringlichkeit ersetzt die Professionalität. Die Zeit sei gleich um, mahnen die PR-Leute, die ausserhalb des Bildschirmausschnitts sitzen.
Raphael spricht schnell: «Bevor wir das Interview beenden, möchte ich noch etwas sagen: Alle Geiseln müssen nach Hause kommen. Jetzt.» Dann wird der Bildschirm schwarz. Das Gespräch ist beendet. Kein Nachfragen mehr möglich.
Die grosse Angst
Yuval Raphael nimmt für Israel am Eurovision Song Contest in Basel teil. Sie rechne «zu 100 Prozent mit Buhrufen vom Publikum», sagte sie vor einiger Zeit am israelischen TV. Eine realistische Einschätzung.
Für die Israel-Gegner ist Yuval Raphael das Aushängeschild eines Landes, dessen Armee in Gaza Zehntausende Menschen getötet hat und dessen Präsident vom internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehle gesucht wird. Ein Aushängeschild wie eine Zielscheibe. Mehrere offene Briefe, unterzeichnet unter anderem von Nemo, fordern ihren Ausschluss vom Wettbewerb. Protest- und Boykottaufrufe gegen die ESC-Teilnahme Israels schallen von allen Kanälen. In Basel sind Demonstrationen angekündigt, und das Sicherheitsdispositiv ist massiv.
Entsprechend in Sorge ist der öffentlichrechtliche israelische Sender KAN – dessen Delegation Raphael auch nach Basel begleiten wird –, dass er doch noch von dieser inszenierten europäischen Kulturallianz ausgeschlossen werde. Nicht nur die Zeit, auch die Themenwahl für das Gespräch mit der Israelin waren darum eng begrenzt: keine Politik, keine Fragen zum 7. Oktober. Es solle einzig um die Musik gehen, hiess es – wie beim ESC auch.
Während 19 Minuten sitzt die 24-jährige Sängerin professionell interessiert vor dem Bildschirm. Für Israel den Eurovision Song Contest in Basel zu gewinnen, würde ihr «die Welt bedeuten», sagt sie im Video-Call. Und: Ihr ESC-Song, «New Day Will Rise», spreche ihr aus dem Herzen, weil er von Hoffnung und Einheit erzähle. Dann bricht die letzte Minute des Gesprächs an.
Raphael streckt in ihrem Stuhl vor der Kamera den Rücken durch. Nun sieht man, dass sie eine gelbe Schleife am Revers trägt – das Symbol für die Solidarität mit den Opfern des 7. Oktober, zu denen auch sie selbst gehört. Dieser letzte Moment wird zu einer Miniatur der Zerreissprobe, die viele in Israel fühlen: Da ist die Angst, das Falsche zu sagen – und zugleich der Drang, über das Wichtige nicht zu schweigen.
Sprechen kann heilen
In der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober tanzt Yuval Raphael, damals 22 Jahre alt, mit ihren Freunden am Nova-Festival in den Sonnenaufgang. Gegen 6 Uhr 30 fliegen die ersten Raketen aus Gaza über das Festivalgelände. Raphaels Warn-App blinkt nun dauernd. Doch wer in Israel aufwächst, kommt um eine vertrauensvoll-abgestumpfte Schicksalsergebenheit kaum herum. Raketen am Himmel sind hier manchmal häufiger als der Vollmond.
Von dem, was auf die ersten Raketen folgt, erzählen sieben Überlebende im Dokumentarfilm «Saturday October 7». Yuval Raphael ist eine von ihnen. Bereits zwei Monate nachdem es geschehen ist, spricht sie auch in der Schweiz bei Pressekonferenzen, Gedächtnisanlässen und in Interviews über den Horror der Hamas.
Auf ihrer Tour gegen das Vergessen findet Raphael sich im Dezember 2023 zum Beispiel im Zürcher Realgymnasium Rämibühl ein – unter den Zuhörern ist auch ein Journalist der NZZ. Über das Geschehene zu sprechen, kann helfen, keine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. Das weiss Raphael von ihrer Mutter, einer Psychotherapeutin. Die Tochter sagt, sie konfrontiere sich bewusst mit ihren Ängsten und mit den Erinnerungen.
«Während der Woche, die sie in der Schweiz verbrachte, erzählte sie ihre Geschichte etwa zwanzig Mal. Man konnte dabei zusehen, wie mit jedem Erzählen etwas mehr aufbrach bei ihr», sagt Ron Guggenheim, Mitinitiant der Initiative Yellow Umbrella, die Raphael Ende 2023 in die Schweiz holte. Er erinnert sich an eine starke junge Frau, die nicht davor zurückschreckte, sich zu positionieren.
Gegenüber den Tamedia-Zeitungen sagte Raphael 2023, sie wisse nicht, ob ein Waffenstillstand zur Freilassung weiterer Geiseln führen könnte. «Ich weiss nur, dass man Terroristen nicht vertrauen kann.»
Nun, keine zwei Jahre später, ist der 7. Oktober beim Interview mit Raphael tabu – die Fragen könnten die junge Frau retraumatisieren, erklärt das Management. Dass es Raphael selbst ist, die mit ihrem Statement zum Schluss erneut an das Geschehene erinnert, kann eine Strategie sein, die eigene Botschaft zu platzieren, ohne danach unangenehme Fragen beantworten zu müssen. Es zeigt aber vielleicht auch, wie knapp unter der professionellen Oberfläche das Trauma liegt.
Am Morgen das Grauen
Um 7 Uhr durchbrechen die Terroristen der Hamas am 7. Oktober den Grenzzaun zwischen Gaza und Israel. Laut israelischen Untersuchungsberichten wussten sie nichts von dem Musikfestival. Sie brauchen etwas mehr als anderthalb Stunden, um sich neu zu organisieren: Elite-Kämpfer sollen das Festival mit seinen jungen, feiernden Menschen angreifen.
Raphael und ihre Freunde suchen gegen 8 Uhr Schutz in einem Migunit, einem öffentlichen Luftschutzbunker am Strassenrand. Gemacht für zehn Menschen, drängen sich dort bald etwa 50. Der Migunit bietet Schutz für Angriffe aus der Luft, nicht für solche von der Strasse. Eine Tür gibt es nicht. Die Menschen im Innern sind den Gewehrsalven und Handgranaten der Hamas ausgeliefert. Der Schutzraum wird zum Massengrab.
Raphael sitzt in der hintersten Ecke des Schutzraumes. Alle, die ihr folgen, werden für sie zu einer menschlichen Schutzmauer. Während des ersten Beschusses hält Raphael die Hand einer jungen, schluchzenden Frau. Als die Gewehrsalven verklingen, weint die Frau nicht mehr. Sie ist tot. Ihr Kopf fällt auf Raphaels Schulter. Wenn Motorengeräusche von der Strasse erklingen, wissen die Menschen im Schutzraum: Die Terroristen sind zurück. Dann stellen sie sich tot. Geschossen wird dennoch. Als eine Granate den Körper eines Mannes zerfetzt, spritzt dessen Blut wie Wasser aus einer Duschbrause auf Raphael.
Raphaels Geschichte kann mit Videoaufnahmen von Festivalbesuchern und von den Terroristen, die sich selbst filmten, rekonstruiert werden. Von den 4000 Festivalbesuchern werden 364 auf dem Gelände umgebracht. Andere werden auf der Flucht gejagt und sterben auf der Strasse. Zahlreiche weitere werden zum Teil schwer verletzt. 40 Menschen verschleppt die Hamas als Geiseln nach Gaza. Erst um 14 Uhr 30, sechs Stunden nachdem die Hamas in das Festival voller junger Menschen eingedrungen ist, kommt die israelische Armee und beendet das Massaker.
Von den etwa 50 Menschen, die im Bunker Schutz suchen, überleben elf. Zwei Monate später, im Schulhaus Rämibühl, sagt Raphael: «Am Ende musste ich über die Leichen der anderen steigen, um in die Freiheit zu kommen.» In ihrem Kopf und den Beinen stecken bis heute Granatsplitter. Die Angst dagegen habe sie aus ihrem Körper verbannt: «Ich habe nicht überlebt, um nicht mehr zu leben.»
Vom Weiterleben
Musik helfe ihr, sich mit den eigenen Gefühlen zu verbinden, sagt Raphael nun im Video-Call. Eine ihrer liebsten Kindheitserinnerungen: Es ist Abend in Genf, wo die Familie Raphael hinzog, als Tochter Yuval sechs Jahre alt war. Die Tür zum Kinderzimmer steht einen Spalt breit offen. Aus dem Wohnzimmer klingen Stimmen und früher oder später immer auch Singen.
«Meine Eltern haben oft Freunde eingeladen. Es wurde viel gelacht, und irgendwann sangen sie hebräische Lieder.» Im Bett liegt das Mädchen, das Yuval Raphael einst war, und fühlte sich geborgen, «obwohl ich kaum jemanden kenne, der schlechter singt als meine Mutter – entschuldige, Mama», sagt Raphael und lacht. Noch ist das Gespräch locker und gelöst.
Als Raphael neun Jahre alt war, zog die Familie aus der Schweiz weg. Nun begleitet die Mutter ihre Tochter zurück in die einstige Heimat. «Meine Mutter ist ein Teil meiner ESC-Delegation. Das ist auch wichtig. Sie ist die Person, der ich mich am verbundensten fühle.» Der Rest der Familie und auch die Freunde werden den ESC daheim in Israel schauen. «Meine Familie reist im Moment nicht viel», sagt Raphael. Zu den Gründen mag sie nichts sagen. Stattdessen erzählt sie, wie sie 2015 erstmals eine Austragung des Eurovision Song Contest gesehen habe. Seit da will sie hin.
Zwischen Realität und PR
Raphaels Ticket nach Basel war ihr Sieg am Musikwettbewerb «The Rising Star». Zwei der vier Erstplatzierten sind Überlebende des Überfalls vom 7. Oktober. Daniel Wais überlebte das Massaker im Kibbutz Be’eri; sein Vater wurde an Ort und Stelle ermordet, die Mutter als Geisel nach Gaza verschleppt und dort getötet.
Dass in dem Wettbewerb zwei junge Musiker mit einer solchen Geschichte bis ganz nach vorne kamen – auch das mag strategische Gründe haben. Für die israelische Bevölkerung sind die Betroffenen im Rampenlicht Symbole für eine Wunde und deren langsame Heilung.
Im Video-Call sagt Raphael über ihren ESC-Song: «Eine Zeile lautet: ‹Alle weinen, weine nicht alleine.› Wir alle haben Hochs und Tiefs, da gemeinsam durchzugehen, ist besser als allein.» Im Finale von «Rising Star» sang Raphael «Dancing Queen» der einstigen ESC-Gewinner ABBA. Den Auftritt widmete sie «allen Engeln» – allen Menschen, die am Nova-Festival umgebracht wurden.