Polen hat pro Kopf am meisten Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Die grosse Solidarität weicht allerdings zunehmend der Skepsis – auch wegen der Mentalitätsunterschiede zwischen den Nachbarvölkern.
Der Kinderwagen hat zwei goldene Flügelchen und die Mutter viel Elan. Denn die junge Frau schiebt ihre Babywanne ohne Rücksicht ins überfüllte Warschauer Tram. Kaum hat sie sich Platz erobert, laufen Schwester und Grossmutter herbei und spielen mit dem Jüngsten. Eigentlich nichts Besonderes, wäre da nicht das Gejauchze auf Ukrainisch. Denn in Polen ist es üblich, sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln leise zu unterhalten. Drei Haltestellen weiter ist die Demonstration des neusten Kinderwagen-Gags vorbei: Die Ukrainerinnen steigen aus. «Uff, endlich wieder Ruhe», seufzt ein älterer Fahrgast.
Solidarität von unten
Seit Februar 2022 sind die öffentlichen Verkehrsmittel in Polen, und insbesondere in Warschau, überfüllter denn je. Es ist auch deutlich lauter geworden, und neben Polnisch hört man häufig Russisch und Ukrainisch. Das sind Folgen davon, dass Polen seit der russischen Invasion im Nachbarland rund 2 Millionen Ukrainer aufgenommen hat.
Die Bilder von Suppenküchen entlang der Grenze und Flüchtlingstrecks mit Haustieren gingen um die Welt. Die Solidarität war gross und zunächst auch andauernd: In den ersten Kriegstagen haben Hunderttausende Polen Flüchtlinge zu Hause beherbergt und verköstigt. Bis heute kennt niemand die Zahl der spontan Aufgenommenen. Bekannt ist einzig, dass es kaum staatliche Flüchtlingsunterkünfte brauchte. Polens Solidarität war von unten erwacht, gestützt durch zum Teil ad hoc gegründete Nichtregierungsorganisationen.
Nach einem Kriegsjahr in der Ukraine sollen laut einer mobilfunkbasierten Zählung sogar 3,17 Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen in Polen gelebt haben, fast jeder zwölfte Einwohner. Im Laufe der Zeit wanderten indes viele Ukrainer aus Polen nach Westeuropa ab. Inzwischen sind noch 953 000 ukrainische Flüchtlinge in Polen gemeldet. In absoluten Zahlen ist Polen in der EU damit das zweitgrösste Aufnahmeland, hinter Deutschland mit 1,33 Millionen und vor der Tschechischen Republik, wo 356 000 Menschen aus der Ukraine leben sollen.
Viele Gründe für die Ermüdung
Laut einer Umfrage des führenden Meinungsforschungsinstituts CBOS vom März 2022 waren 94 Prozent der Polen und Polinnen für die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge. Diese grosse Zustimmung hielt sich über ein Jahr lang bei rund 80 Prozent. Die Solidarität mit den Nachbarn war deutlich grösser als mit anderen Flüchtlingen: Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise an der weissrussisch-polnischen Grenze im Herbst 2021 waren nur 48 Prozent der Polen bereit, Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten, Asien oder Afrika aufzunehmen.
Doch etwas mehr als zweieinhalb Jahre nach der russischen Invasion im Nachbarland bröckelt Polens grosse Ukraine-Solidarität. In der jüngsten CBOS-Umfrage vom September befürworteten nur noch 53 Prozent die Aufnahme vom Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, 40 Prozent der Befragten waren dagegen. Bemerkenswert ist, dass bei Frauen die Skepsis grösser ist als bei den Männern. Laut CBOS ist diese Trendwende vor allem auf den sogenannten Getreidestreit, also die Beimischung ukrainischen Getreides zu polnischem Mehl und den dadurch resultierenden Preiszerfall heimischer Produkte, zurückzuführen. Doch die Ursachen für die Ermüdung der Polen sind vielschichtiger.
Es sind vor allem Alltagserfahrungen, die die beiden auf den ersten Blick kulturell und sprachlich so ähnlichen Bevölkerungsgruppen zunehmend gegeneinanderstellen. So beklagen sich polnische Lehrer etwa über einen viel autoritäreren Umgang ukrainischer Eltern mit ihren Kindern. Dieselbe Klage hört man auch oft von Kinderspielplatz-Besuchern. Polnische und ukrainische Eltern und Kinder geraten dort aneinander. Dass Mentalität und Erziehung in den beiden postsozialistischen Staaten unterschiedlich sind, merkt man auch bei Restaurantbesuchen oder beim Einkaufen. «Mehl- und Milchpackungen aufs Band legen, nicht stellen!», herrscht die russischsprachige Kassiererin aus der Ostukraine in der Chata Polska, dem typischen westpolnischen Supermarkt, die Kunden an. Im Dienstleistungssektor ist man einen solchen Umgangston nicht gewohnt.
Die ukrainischen Flüchtlinge gelten jedoch als fleissig und leicht im Arbeitsmarkt integrierbar. Zwei von drei hatten Ende 2023 einen Job. Laut der OECD ist dies ein Spitzenwert unter den Aufnahmestaaten. Inzwischen werden viele Service-Bereiche von Ukrainern beherrscht, denn es handelt sich oft um Arbeit, die wenig Vorkenntnisse erfordert. Zudem gibt es in Polen Hunderte von ukrainischen Firmen und Tausende IT-Spezialisten. Nicht alle der Beschäftigten kamen in den letzten zweieinhalb Jahren nach Polen. Denn bereits vor der russischen Invasion zählte das Land mindestens eine Million ukrainische Gastarbeiter.
Kindergeld für Kinder, die nicht mehr da sind
Parteien des rechten Spektrums haben die Stimmung schnell aufgenommen. Sie erinnern neuerdings vermehrt an die historischen Traumata, die das ukrainisch-polnische Verhältnis prägen. Dazu gehören die ethnischen Säuberungen ukrainischer Nationalisten im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet Wolhynien oder die Greueltaten ukrainischer SS-Einheiten im Warschauer Aufstand 1944.
Zudem bearbeiten sie den Sozialneid. Die rechtsextreme «Konföderation» behauptet, dass ukrainische Flüchtlinge in dem seit Jahren überlasteten Gesundheitssystem angeblich viel schneller Arzttermine bekämen als Einheimische. Auch erhielten sie kostenlose Kinderkleider und Nahrungsmittel und würden die Mieten in die Höhe treiben. Allerdings hatten Demonstrationen unter dem Motto «Stoppt die Ukrainisierung Polens!» wenig Zulauf.
Dies ist nicht zuletzt Gegenmassnahmen der Regierung zu verdanken. Schon die konservative Regierung von «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) erleichterte den Flüchtlingen früh die unbürokratische Abgabe von Sozialversicherungsnummern (PESEL) mit dem Präfix UKR für Ukraine, sie schränkte aber die umstrittenen Gratis-Bahnbillette bald wieder ein. Zudem leitete sie die genauere Prüfung von Kindergeldzahlungen an Ukrainer ein. Schon damals gab es Gerüchte, dass diese weiter geleistet wurden, obwohl die Familien in die Ukraine zurückgekehrt waren.
Die seit einem Jahr regierende Mitte-links-Koalition unter Donald Tusk hat den Bezug des Kindergeldes 500+ für ukrainische Flüchtlingsfamilien diesen Herbst mit der Unterrichtsteilnahme verknüpft. Zudem will sie den Status von ukrainischen Studenten überprüfen: Insbesondere Privatuniversitäten sollen genauer hinschauen, ob die dort eingeschriebenen Ukrainer und Ukrainerinnen wirklich studieren oder ihren Status für andere Aktivitäten missbrauchen.
Feiernde Ukrainer wecken Misstrauen
Dass der Wind gedreht hat, spürt auch eine ukrainischstämmige Stadtbeamtin, die lange vor der russischen Invasion nach Polen gekommen ist. Auf dem Höhepunkt der ukrainischen Flüchtlingswelle im März 2022 wurde die Fünfzigjährige sofort von der Stadt eingestellt. «Inzwischen heisst es in den Chefetagen der Stadtverwaltung, man sollte eher verstecken, dass ich eine Ukrainerin sei», erzählt die Frau in bitterem Ton. Auch sei die örtliche Verwaltung zurückhaltend geworden bei Hilfsinitiativen für Ukrainer und Ukrainerinnen. Die Frau, die ihren Namen nicht öffentlich machen möchte, hilft wieder vermehrt privat, so wie ihr Engagement für die ukrainischen Flüchtlinge begonnen hatte. Ähnlich sind die grossen Anlaufstellen für Ukraine-Flüchtlinge von exponierten Orten in den Stadtzentren in die Hinterhöfe verschwunden.
Sichtbar werden die Ukrainer bisweilen abends, meist auf den historischen Marktplätzen polnischer Grossstädte. Es sind vor allem junge Männer, die sich im Zentrum von Rzeszow, Poznan, Warschau oder Lublin versammeln. Sie singen, viele sind etwas beschwipst, doch keiner ist aggressiv. Dennoch höhlen auch sie die Solidarität vieler Polen aus. «Die Russen erobern den Donbass, und die Ukrainer feiern bei uns in Polen», heisst es.
Das einst überaus solidarische Nachbarland oszilliert zu Beginn des dritten Kriegswinters zwischen Realismus und offenem Misstrauen. Laut CBOS befürworten inzwischen 67 Prozent der Polen die zwangsweise Überstellung von wehrpflichtigen Männern an die ukrainischen Behörden. Nur jeder fünfte Pole lehnt eine solche Zwangsmassnahme ab. In der Grenzstadt Przemysl bereitet man sich dennoch auf eine neue Flüchtlingswelle in diesem Winter vor.