Nicht nur in Japan gibt es Kinder oder junge Erwachsene, die eines Tages beschliessen, nicht mehr aus ihrem Zimmer herauszukommen. Hikikomori heisst der totale Abbruch des Kontakts mit der Aussenwelt und zeugt von tiefem Leid. Die Gründe dafür sind komplex.
Sich völlig zurückziehen, ganz allein sein, den sozialen Zumutungen entfliehen: Hikikomori, ein Begriff aus Japan, beschreibt ein Phänomen extremer sozialer Isolation, bei der sich Menschen über einen längeren Zeitraum, manchmal über Jahre hinweg, vollständig aus der Gesellschaft zurückziehen. Das Wort setzt sich zusammen aus den japanischen Wörtern «hiku» (zurückziehen) und «komoru» (sich einschliessen). Der Rückzug ins eigene Zimmer bedeutet in vielen Fällen einen Abbruch des Kontakts mit der Aussenwelt und bringt nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Aussenstehenden eine Vielzahl von Problemen mit sich.
Der Begriff Hikikomori wurde in den neunziger Jahren vom japanischen Psychologen Saito Tamaki geprägt. Er beschreibt eine Verhaltensweise, bei der Betroffene sich mindestens sechs Monate lang freiwillig von sozialen Aktivitäten, Arbeit, Schule und zwischenmenschlichen Beziehungen fernhalten. Doch warum tun Menschen sich und anderen das an? Gerade in einer Gesellschaft wie der japanischen, wo sich insbesondere ältere Menschen oft einsam fühlen?
Die Erkenntnis, dass Hikikomori nicht nur in Japan vorkommt, hat sich mittlerweile etabliert, auch wenn die Erscheinungsform sowie der Umgang damit sich je nach kulturellem Kontext sehr unterschiedlich zeigen können. Während der Begriff beispielsweise in Südkorea ähnlich gehandhabt wird wie in Japan, wird in westlichen Ländern Hikikomori häufig als eine extreme Form sozialer Angst oder Depression angesehen.
Angriffen zuvorkommen
Betrachtet man die komplexen Zusammenhänge von Individuum und Gemeinschaft, zeigt sich rasch, dass die Diagnose einer sozialen Phobie hier vermutlich zu kurz greift. Denn häufig sind die Gründe für den totalen Rückzug in einen sicheren Kokon im Zusammenleben und in den sozialen Strukturen zu finden. Besonders in Japan, wo bereits ab dem Vorschulalter enorm viel Wert darauf gelegt wird, sich in gesellschaftlichen Situationen angemessen zu verhalten.
So wertvoll diese Sozialisierung ist, so belastend kann sie für Personen sein, die aus irgendwelchen Gründen Mühe haben, mit den sozialen Codes klarzukommen. Denn auf herausstehende Nägel wird eingeschlagen, wie ein japanisches Sprichwort besagt. Wer auffällt, macht sich zum Ziel von Angriffen – diese können von disziplinarischen Massnahmen bis zu Mobbing reichen. Leistungsschwächere Kinder und Jugendliche, aber auch andersdenkende und sehr schüchterne sind oft betroffen. Mobbing kann auch als Ventil gesehen werden, um Druck abzulassen in einer stark leistungsorientierten Gesellschaft. Neid und mitunter auch die Furcht davor, selbst zum Opfer zu werden, lassen Mobber auf immer grausamere Ideen kommen.
Japanische Eltern von Schulkindern können ein Lied davon singen. Die Tochter kommt ohne die Turnkleider zurück, dem Sohn wurde der Schirm entwendet – und schon schrillen die Alarmglocken. Könnte dies der Anfang sein, gut vertuschte kleine Perfiditäten, die mit der Zeit zum sozialen Ausschluss des eigenen Kindes führen?
Es mögen scheinbar unbedeutende Vorfälle sein, die Eltern zur höchsten Alarmstufe führen. Vergegenwärtigt man sich, dass kurz vor Schulbeginn nach den Sommerferien die Suizidrate unter Teenagern regelmässig deutlich erhöht ist, wird diese Besorgnis verständlich. In anderen Fällen weigern sich die Betroffenen, wieder und weiter zur Schule zu gehen, um ihren Peinigern nicht mehr begegnen zu müssen.
Die Schulbehörden sind sich des Problems bewusst, das sich seit der Pandemie noch einmal zugespitzt hat. 2022 war in Japan ein trauriges Rekordjahr mit über einer halben Million Mobbingfällen mit zum Teil gravierenden körperlichen und seelischen Schäden, wobei angenommen wird, dass die Dunkelziffer erheblich höher ist.
Sozialer Rückzug und sich einschliessen – doch «komori» hat noch eine weitere Bedeutung: «voll sein». Gerade bei jungen Menschen auf ihrem von vielen Fragen gepflasterten Weg ins Erwachsenwerden kann es vorkommen, dass sie buchstäblich genug haben von Gesellschaft, Verpflichtungen, den hoch angesetzten Standards, denen es zu genügen gilt. Doch das Alleinsein geniesst keinen hohen Stellenwert im eng getakteten Alltag von Japans Schulkindern und Jugendlichen, die häufig noch bis spätabends zusätzlich zum regulären Unterricht in Paukschulen büffeln. Wer allein sein möchte, nicht «issho ni» (zusammen) mit allen anderen etwas unternehmen möchte, kann rasch einmal als Sonderling erscheinen.
Der Weg zurück
Das Phänomen des Hikikomori, des sich zurückziehenden Individuums, verweist daher nicht nur auf das Leiden des Einzelnen, sondern auch auf eine Gesellschaft, in der Konformität und soziale Normen nicht nur das Zusammenleben erleichtern, sondern es auch zur Hölle machen können.
Wie können Menschen wieder zurückfinden in eine Gesellschaft, der sie sich oft über Monate oder gar länger entzogen und entfremdet haben? Denn auch wenn es Beratungsstellen gibt, wie bringt man die betroffene Person dazu, solche Hilfsangebote anzunehmen und sich auf eine Interaktion einzulassen?
Mit dieser Schwierigkeit in der Forschung sieht sich auch Michele Pizzera konfrontiert, der sich an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) als einer von wenigen Forschern in der Schweiz mit dem Thema befasst. Ein Weg ist die Welt der Online-Games und der Otaku-Kultur, die vielen Hikikomori eine alternative Welt bietet, in der sie zwar direkte soziale Interaktionen vermeiden, aber dennoch einen gewissen Kontakt zur Aussenwelt aufrechterhalten können.
Hikikomori ist ein komplexes gesellschaftliches und psychologisches Phänomen, das sowohl durch individuelle als auch durch kulturelle Faktoren geprägt ist. Es erfordert ein tiefes Verständnis und koordinierte Bemühungen auf individueller, familiärer und gesellschaftlicher Ebene, um Betroffene zu unterstützen und ihnen eine Rückkehr in die Gemeinschaft zu ermöglichen.
Dass gerade die virtuelle Welt einen Zugang für Unterstützung bei der Rückkehr in die Gemeinschaft ermöglichen soll, mag paradox klingen. Doch einen Versuch ist es wert. Hikikomori mag in seiner spezifischen Ausprägung ein japanisches Phänomen sein – doch als Barometer für zunehmenden Druck, der auf einer jüngeren Generation lastet, zeigt es auch eine Problematik auf globaler Ebene an.
Natürlich gibt es auch in Japan positiv besetzte Ausdrücke für das Alleinsein, wie zum Beispiel «hitori ni naru» – für sich sein. Vielleicht wäre es an der Zeit, diesem Bedürfnis nach Me-Time positiver zu begegnen.