Die Zulassung von Freiwilligen aus den Gefängnissen widerspricht dem Selbstverständnis der ukrainischen Armee. Sie erinnert manche an die Praktiken des Wagner-Chefs Prigoschin. Doch die Unterschiede zu Russland bleiben gross.
Mit Gleitbomben hat Russland am Samstagnachmittag einen Baumarkt in Charkiw angegriffen. Mindestens sechzehn Menschen kamen ums Leben, unter ihnen ein Kind. Mehrere Dutzend Personen wurden verletzt. Die ukrainische Millionenstadt wird mehrmals täglich bombardiert, um sie für die Zivilbevölkerung unbewohnbar zu machen. Moskaus Offensive in der Region hat sie während der letzten zwei Wochen noch näher an die Front gerückt.
Die Ukrainer haben diese zwar jüngst zum Stehen gebracht, und auch im Donbass halten sie den endlosen Sturmangriffen mehr oder weniger stand. Doch inzwischen warnt auch Präsident Selenski eindringlich davor, dass Russland bald weitere Frontabschnitte eröffnen und so die überdehnten Verteidiger noch weiter unter Druck setzen könnte. Die Ukraine braucht nicht nur Munition, sondern auch dringend neue Soldaten. Deshalb greift sie auch auf eine äusserst umstrittene Massnahme zurück: Mitte Mai unterschrieb Präsident Selenski ein Gesetz, das erstmals die Rekrutierung von Häftlingen zulässt.
Ein Rekrutierungs-Pool von mehreren zehntausend Mann
Am Mittwoch hat das Bezirksgericht der Stadt Chmelnizki die ersten beiden Gefangenen auf Bewährung freigelassen. Statt ihre Reststrafe abzusitzen, meldeten sie sich freiwillig für die Armee. Die verurteilten Räuber sagten, sie wollten den Tod von Verwandten rächen. Angehörige der Nationalgarde eskortierten sie direkt aus dem Gerichtssaal in ein Rekrutierungsbüro. 3000 solcher Anträge von Strafgefangenen sind laut der stellvertretenden Justizministerin bisher eingegangen.
Der Einsatz von Häftlingen in der Armee erinnert unweigerlich an Jewgeni Prigoschin. Der inzwischen ermordete Chef der russischen Wagner-Paramilitärs tourte 2022 durch die Haftanstalten und köderte Zehntausende mit dem Angebot, sie würden nach sechs Monaten an der Front begnadigt. Selbst Massenmörder waren willkommen. «Natürlich gibt es dazu Parallelen», räumt der ukrainische Justizminister Denis Maljuska denn auch ein. «Aber wir verfolgen einen anderen Ansatz.»
Anders als bei Wagner kommen nicht alle Gefangenen infrage. Ausgeschlossen sind die extremsten Verbrechen – mehrfacher Mord, Vergewaltigung, Pädophilie und schwere Korruptionsvergehen. Eine einzelne Tötung verbaut den Weg in die Armee hingegen nicht. Freiwillige dürfen zum Zeitpunkt ihres Antrags aber höchstens eine dreijährige Reststrafe verbüssen. Zudem müssen sie geistig und körperlich gesund sein.
Auch wenn in den Gefängnissen etwa 27 000 Häftlinge sitzen und 50 000 eine Bewährungsstrafe verbüssen, wird der Rekrutierungs-Pool durch die Restriktionen deutlich kleiner. Die Rede ist letztlich von einigen tausend Mann in den Anstalten, die zum Dienst bewegt werden könnten. Jene, die nur eine kurze Reststrafe haben, haben zudem kaum Anreize für einen Eintritt ins Militär. Ein vom Portal holos.ua befragter Gefängnisangestellter wies darauf hin, dass das Gesetz den Behörden neue Mittel gebe, um die grosse Gruppe der auf Bewährung Freigelassenen einzuziehen.
Der Schatten von Stalins «Strafbataillons»
Eine entscheidende Frage lautet, ob Kiew vorwiegend auf Druck oder Anreize setzt. Pluspunkte sind die gute Entlohnung und die Möglichkeit, den tristen ukrainischen Haftanstalten zu entkommen. Auch der Wille, für das eigene Land zu kämpfen, ist keine Propaganda-Erfindung. Einen Präzedenzfall schuf Selenski ganz zu Beginn des Krieges, als er über 300 Gefangene begnadigte, die kämpfen wollten. Die Staatsanwaltschaft stellte zudem 11 000 Strafverfahren gegen Freiwillige und Mobilisierte ein.
Weniger attraktiv sind die Bedingungen des Dienstes. Wie andere Dienstwillige müssen die Häftlinge einen Vertrag unterzeichnen, der keine automatische Demobilisierung vorsieht. Sie werden auch nicht begnadigt, sondern auf Bewährung in die Obhut des Offiziers übergeben, der die aus Gefangenen bestehende Einheit kommandiert. Dort herrschen strengere Regeln als im Rest der Armee: Für Desertion oder Dienstverweigerung drohen ihnen fünf bis zehn Jahre Gefängnis.
Wie diese Häftlingseinheiten eingesetzt werden, steht noch nicht fest. Der Justizminister gab an, sie würden Verteidigungslinien bauen. Laut Medienberichten kursiert aber auch die Idee, die neuen Truppen an der Front einzusetzen. Aus militärischer Optik wäre das plausibel: Da diese Kampfeinheiten die höchsten Verluste verzeichnen, spüren sie den akutesten Personalmangel. Der lebensgefährliche Dienst ist unbeliebt.
Für Aktivisten wie Oleh Zwili, den Vorsitzenden einer Organisation für die Rechte von Häftlingen, sind solche Überlegungen gefährlich nah an den Strafbataillons Stalins und Prigoschins. Er wolle nicht behaupten, dass die Streitkräfte auf unmenschliche Methoden wie die Erschiessung eigener Truppen und die Verwendung von Häftlingen als Kanonenfutter zurückgreifen würden. Aber die Schaffung einer Kategorie von Soldaten zweiter Klasse sei falsch. «Es soll eine Ehre sein und keine Strafe, das eigene Land zu verteidigen», schreibt Zwili.
Extreme Mittel für den «totalen Krieg»
Als wie kampfbereit und verlässlich sich solche Häftlingseinheiten erweisen, muss sich erst zeigen. Ihre Schaffung widerspricht ein Stück weit auch dem Selbstverständnis der Ukrainer, dass ihre Armee aus Überzeugung und Heimatliebe kämpft. Olena Schuljak, eine Parlamentsabgeordnete von Selenskis Partei, räumte deshalb ein, die Neuerung könne heftige Reaktionen auslösen. «Aber wir können einen totalen Krieg gegen einen Feind mit mehr Ressourcen nur durch die Bündelung all unserer Kräfte überstehen», sagte sie zur Rechtfertigung.
Solche Gedanken müssen sich die russischen Generäle nicht machen. Sie setzen ihre Häftlingseinheiten stets zuvorderst für jene Angriffe ein, von denen kaum jemand zurückkehrt. Seit Prigoschins Tod kämpfen sie in speziellen, sogenannten Sturm-Z-Einheiten der Armee. Die Regelung zur Begnadigung existiert nicht mehr. Dafür haben Gerichte festgehalten, dass Verwundete und die Familien der Gefallenen aus diesen Trupps aufgrund ihres rechtlich minderwertigen Status weniger Anspruch auf Entschädigungen haben.