Anschläge und eine neue Flüchtlingswelle aus Weissrussland lassen Polens Regierung die Rezepte ihrer Vorgänger übernehmen. Dabei kann sie auf Rückendeckung anderer Länder zählen – und hofft auf Geld der EU.
Ende Mai haben Migranten an einem einzigen Tag drei polnische Grenzwächter mit Messern und einer zerbrochenen Flasche attackiert. Ministerpräsident Donald Tusk handelte nach kurzem Zögern nun rasch: Seine Regierung richtet an der Grenze zu Weissrussland eine Sperrzone ein. Seit Dienstag dürfen unbefugte Personen einen 200 Meter bis 2 Kilometer breiten Grenzstreifen entlang der Grenze nicht mehr betreten.
Die harte Massnahme ist die Reaktion auf eine aus Minsk und Moskau gesteuerte Flüchtlingswelle. «Jeden Tag und jede Nacht wird ein Beamter angegriffen», sagte Tusk bei einem martialisch inszenierten Besuch der Grenze vor Militärgerät. «Das ist organisierte hybride Kriegsführung, um den polnischen Staat und ganz Europa zu destabilisieren.»
Wieder gleich viele Migranten wie 2021
Damit übernimmt der liberalkonservative Politiker sowohl die Sprachregelung als auch die Methoden der nationalistischen Vorgängerregierung. Diese wurde 2021 durch Tausende von Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika überrascht, die plötzlich im spärlich besiedelten Nordosten Polens auftauchten. Die Regierungspartei PiS schickte 21 000 Soldaten, riegelte die Grenze ab und baute eine Mauer. Sie rechtfertigte das mit Russlands hybrider Kriegsführung. Die damalige Opposition kritisierte die Politik hart.
Die Lage entspannte sich für eine Weile. Doch bereits 2023 verdoppelte sich die Zahl der versuchten Grenzübertritte im Vergleich zum Vorjahr wieder. Momentan sind es laut den polnischen Behörden etwa 400 Personen pro Tag – das entspricht den Zahlen vom Herbst 2021. Die meisten von ihnen stammen aus Nordafrika und dem Nahen Osten und reisen über Moskau nach Europa. Laut Polens Aussenminister Radoslaw Sikorski verfügen 90 Prozent von ihnen über russische Visa.
Dass es sich um verzweifelte Menschen handelt, die mit falschen Versprechen an die EU-Aussengrenze gelockt werden, räumt Warschau ein. «Wie in jedem Krieg gibt es unschuldige Opfer», sagt Sikorski. «Aber es gibt kein Menschenrecht, zu leben, wo man will. Staaten und Staatengruppen wie die EU haben das Recht, ihre Grenzen zu kontrollieren.»
Auch wenn die heutige Regierung für sich in Anspruch nimmt, eine humanere Migrationspolitik zu betreiben, setzt sie weiterhin auf Pushbacks. Diese hatte ebenfalls ihre Vorgängerin eingeführt – trotz Gerichtsbeschlüssen, die sie für illegal erklärten. Über 6000 Fälle gab es im zweiten Halbjahr 2023. Dafür steckt Tusk von seinen linken Verbündeten zwar Kritik ein, und auch Kulturschaffende bezichtigen ihn der Weiterführung einer unmenschlichen Politik. Doch er gewann im letzten Herbst auch deshalb die Wahlen, weil er sich in der Migrationspolitik als Hardliner gab. Kurz vor der Europawahl wird er das nicht ändern.
Die Migranten haben zusätzlich das Pech, dass Russland sie als eines von verschiedenen Mitteln benutzt, um Unsicherheitsgefühle im Osten der EU zu verstärken. Seit Monaten häufen sich in Polen die Meldungen über Sabotageakte. Die Regierung verstärkte deshalb kürzlich die Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen von Rzeszow, der für die Militärhilfe an die Ukraine zentral ist. Auch hinter dem Grossbrand in einem Warschauer Einkaufszentrum Mitte Mai sieht sie Moskaus Hand.
Ein Einzelphänomen stellen die mutmasslichen Attacken in Polen nicht dar. Auch die baltischen Staaten sowie Finnland und Norwegen sehen sich als Opfer von Russlands hybrider Kriegsführung. Helsinki erlebt eine ähnliche Migrationswelle wie Warschau und will Pushbacks ebenfalls legalisieren. Die sechs Länder planen zudem den Aufbau einer gemeinsamen «Drohnenmauer» an ihren Grenzen zu Russland. Unbemannte Flugobjekte sollen diese besser überwachen und so nicht nur den Schmuggel und die illegale Migration, sondern auch militärische Provokationen eindämmen.
Das Gefühl der Bedrohung, das Russlands Invasion der Ukraine in den östlichen Nato-Staaten ausgelöst hat, lässt wenig Raum für Zwischentöne und hat zu einer generellen Abschottung und Militarisierung an den Ostgrenzen geführt. Polen agiert hier einmal mehr als Vorreiter: Ende Mai verkündete die Regierung, sie werde bis 2028 die Abschnitte zu Weissrussland und Russland auf 700 Kilometern mit einer Verteidigungslinie befestigen.
Dieser sogenannte East Shield sei das grösste militärische Bauwerk in Polen seit 1945, sagte der Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz. Er kombiniert technische Überwachungsmittel mit mehreren hintereinander angelegten Barrieren aus Metallzäunen, Panzersperren und Minenfeldern. Die Regierung schliesst deshalb auch einen Austritt aus der Ottawa-Konvention über die Ächtung von Personenminen nicht aus. Für die Kosten von umgerechnet knapp 2,3 Milliarden Franken will sie auch EU-Gelder beantragen. Brüssel hat sich bisher dazu nicht geäussert.