Die Festnahmen werfen ein neues Schlaglicht auf die Spannungen zwischen Ost und West.
Lange noch hatte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron um einen Dialog mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin bemüht. Er lud ihn an die Côte d’Azur ein, als die meisten westlichen Staatschefs bereits einen Bogen um Putin machten. Er fuhr im Februar 2022 nach Moskau und setzte sich mit ihm an die Schmalseite des legendär gewordenen langen Besprechungstischs. Auch nach Putins Entscheidung zum grossen Krieg gegen die Ukraine führte er die regelmässigen Telefonate weiter.
Diese Zeiten sind schon lange vorbei. Seit Macron angefangen hat, über Nato-Bodentruppen für die Ukraine zu sinnieren, hat sich das Verhältnis aber nochmals deutlich abgekühlt. Zu den Feierlichkeiten des D-Day in der Normandie wurde eine russische Delegation wieder ausgeladen. Zwei Festnahmen in Paris und in Moskau, die offiziell nichts miteinander zu tun haben, aber auffälligerweise kurz nacheinander erfolgten, belasten die Beziehungen nun zusätzlich.
Schlag gegen informelle Diplomatie
Am Donnerstag teilte das russische Ermittlungskomitee mit, ein französischer Bürger sei in Moskau unter dem Verdacht festgenommen worden, er sammle seit Jahren militärtechnische Informationen über die russischen Streitkräfte und bedrohe damit die Sicherheit Russlands. Zudem hätte er sich als «ausländischer Agent» beim Justizministerium registrieren lassen müssen, habe dies aber unterlassen. Als Beweis verbreitete die Behörde ein Video, das zeigt, wie der Beschuldigte von Sicherheitskräften in Zivil auf der Terrasse eines Cafés überrascht und abgeführt wird. Am Freitag ordnete ein Moskauer Bezirksgericht Untersuchungshaft an.
Nach allem, was bekannt ist, handelt es sich bei dem Festgenommenen um den 48-jährigen französischen Politologen Laurent Vinatier, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Russland, dem Kaukasus und besonders auch mit Russlands Beziehungen in die muslimische Welt beschäftigt. Vinatier ist Mitarbeiter der Schweizer Nichtregierungsorganisation Centre for Humanitarian Dialogue in Genf, die auf Expertenebene eine Art von informeller Diplomatie betreibt – in Zeiten, da die offiziellen Kanäle ihre praktische Bedeutung verloren haben.
Vinatier reiste seit Jahren nach Russland, nahm an Konferenzen teil – auch nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine – und publizierte Schriften und Bücher, unter anderem über Tschetschenien. Der fortgesetzte Austausch mit russischen Gesprächspartnern und damit die eigentliche Mission, die seiner Tätigkeit zugrunde liegt, scheint ihm nun zum Verhängnis geworden zu sein. Der ihm vorgeworfene Straftatbestand ist zwar nicht mit dem ungleich schwerwiegenderen Vorwurf der Spionage gleichzusetzen, der den amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich vor mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft gebracht hat. Aber auch er kann ein Strafmass von bis zu fünf Jahren Lagerhaft zur Folge haben.
«Sammeln von Informationen über die militärische Tätigkeit Russlands» lässt sich breit auslegen und kann jeden betreffen, der sich journalistisch oder wissenschaftlich mit russischer Sicherheitspolitik befasst und dafür in Russland und mit Russen zu tun hat. Pikant und willkürlich ist auch die Beschuldigung, Vinatier habe sich nicht als «ausländischer Agent» registriert. Bis anhin gibt es kaum Fälle von Ausländern, die offiziell zu «ausländischen Agenten» erklärt wurden. Vor Gericht gestand Vinatier ein Versäumnis ein und entschuldigte sich.
Sprengsatz im Hotelzimmer
Kurz bevor Vinatiers Festnahme bekanntgeworden war, hatten die französischen Behörden in Paris einen 26-jährigen russisch-ukrainischen Doppelbürger aus dem Donbass in Gewahrsam genommen. Der Mann hatte sich bei der Explosion eines Sprengsatzes in seinem Hotelzimmer in Roissy-en-France beim Pariser Flughafen Charles de Gaulle Verbrennungen im Gesicht und an der Hand zugezogen und liegt zur Behandlung im Spital. Bei der Durchsuchung seines Zimmers stiess die Polizei auf falsche Dokumente und auf Material, mithilfe dessen weitere Sprengsätze hätten hergestellt werden können.
Wie französische Medien berichten, soll der Mann im Donbass die russische Seite unterstützt und zwei Jahre lang in der russischen Armee gedient haben. Er war vorher nie aufgefallen. Er bestreite die Absicht, Anschläge auf französischem Boden geplant zu haben, heisst es. Die Behörden nehmen den Vorfall aber sehr ernst – kurz vor der Europawahl und vor den Olympischen Spielen in Paris im Juli. Als Ziele werden militärische Objekte und Waffentransporte im Zusammenhang mit Frankreichs Unterstützung der Ukraine vermutet.
Erhärtet sich dieser Verdacht und auch eine Verbindung zu russischen Strukturen, fügte sich das ins Bild mutmasslich russisch inspirierter Sabotageversuche in Europa, vor denen europäische Sicherheitsbehörden warnen. In Deutschland und in Polen wurden in den vergangenen Monaten mehrere Personen festgenommen, die im Verdacht stehen, für Russland Sabotageakte geplant zu haben. Frankreich scheint stärker ins Visier Moskaus geraten zu sein. Die Festnahme des Wissenschafters Vinatier in Moskau gleichsam als Geisel dürfte dazu dienen, Paris auf besonders perfide Weise zusätzlich politisch unter Druck zu setzen.