An der Berliner Ukraine-Wiederaufbaukonferenz hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski um Unterstützung zur Luftverteidigung und zur Energieversorgung gebeten. Ziel der Veranstaltung ist die Vernetzung der Akteure.
Es ist nach Lugano im Sommer 2022 und London im letzten Jahr bereits die dritte Ukraine-Wiederaufbaukonferenz (UCR), die am Dienstag auf dem Berliner Messegelände begonnen hat und noch bis Mittwoch dauert. Und noch immer zerstört die russische Armee Tag für Tag auch zivile Infrastruktur, die schnellstmöglich notdürftig repariert werden muss. In dieser Lage fliessen militärische Hilfe, Unterstützung kurzfristiger Reparaturen und langfristige Wiederaufbaupläne notgedrungen ineinander über.
Mehr «Patriots» nötig
«Der beste Wiederaufbau ist der, der nicht stattfinden muss», sagte denn auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz zum Auftakt der Konferenz. Er verwies auf deutsche Militärhilfen und rief andere Staaten dazu auf, eine deutsche Initiative zur Stärkung der ukrainischen Luftverteidigung zu unterstützen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bekräftigte, dass sein Land zum Schutz seiner Städte und Ballungsräume mindestens sieben weitere Flugabwehrsysteme vom Typ Patriot benötige. Deutschland hat bisher zwei solche Systeme geliefert, ein drittes ist zugesagt.
Damit habe Deutschland Tausende von Leben gerettete, sagte Selenski, der sich wiederholt für den internationalen Beistand bedankte. Ersuchen um weitere Unterstützung trägt er wie schon seit einiger Zeit deutlich diskreter vor als zu Beginn des Krieges. Scholz wiederum beliess es bei der von vielen anderen Rednern wiederholten Formel, man werde die Ukraine so lange unterstützen, wie es nötig sei.
«Energie als Waffe»
An einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz hob Selenski neben der Luftverteidigung vor allem die Energieversorgung als zweiten Bereich hervor, in dem Unterstützung dringend sei. «Energie ist für Russland eine Waffe», sagte er. Durch russische Angriffe seien bereits Produktionskapazitäten im Umfang von 9 Gigawatt zerstört worden. Das entspreche der Hälfte des Spitzenbedarfs im letzten Winter.
Scholz erinnerte an eine im Februar veröffentlichte Schätzung der Weltbank, der ukrainischen Regierung, der EU-Kommission und der Vereinten Nationen, laut der per Ende 2023 über die nächsten zehn Jahre fast 500 Milliarden Dollar für Reparaturen und den Wiederaufbau benötigt würden.
Angesichts dieser Dimensionen müsse auch privates Kapital hinzukommen, betonte unter anderen Scholz. Er wies darauf hin, dass Hunderte deutscher Unternehmen weiterhin in der Ukraine tätig seien und allein im Automobilsektor 35 000 Beschäftigte hätten. Trotz dem Krieg gebe es keinen Abfluss deutscher Investitionen, und das Handelsvolumen sei sogar gestiegen. Der Kanzler sieht darin ein Zeichen, dass die Wirtschaft das künftige Potenzial der Ukraine in Bereichen wie erneuerbare Energien, IT und digitale Dienste sowie Rüstung oder Pharma, erkannt hat.
Selenski drängt EU
Aufgewertet wird der Standort durch die EU-Beitritts-Perspektive, auch wenn diese wohl eher langfristig sein dürfte. Laut Selenski hat die Ukraine indessen die Voraussetzung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erfüllt. Dies sieht auch Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, so: Die Ukraine habe alle vereinbarten Schritte etwa im Bereich Justizreform oder Korruptionsbekämpfung erfüllt, sagte sie in Berlin. Deshalb sei die Kommission der Ansicht, dass die EU die Beitrittsverhandlungen schon Ende Juni aufnehmen sollte.
Von der Leyen hob zudem hervor, dass die EU fast 500 Millionen Euro für dringende Reparaturen im Energiesystem mobilisiert habe und Generatoren sowie Solarzellen liefere. Ziel sei es, die Energieversorgung nicht nur zu reparieren, sondern auch zu dezentralisieren und damit resilienter zu machen.
Auch wenn Wiederaufbau derzeit eine Sisyphusarbeit ist, weil stets neue Zerstörungen hinzukommen: Viele Konferenzteilnehmer betonen, dass er nicht erst nach Kriegsende beginnen könne. Derzeit gehe es zunächst darum, wie die internationale Gemeinschaft und die Ukrainer sicherstellen könnten, dass das wirtschaftliche und politische System nicht kollabiere, sagt Achim Steiner, Leiter des UN-Entwicklungsprogramms, im Gespräch.
Auch gebe es 3,7 Millionen Binnenvertriebene, die sich eine neue Existenz aufbauen müssten. Oft genüge ein Kredit oder ein Zuschuss von ein paar tausend Euro, um ihnen die Wiederaufnahme ihrer früheren Tätigkeit als Handwerker, Friseur oder Betreiber einer Autowerkstätte am neuen Ort zu ermöglichen und damit zum Bleiben zu veranlassen.
Vernetzung als Ziel
Obwohl viel über Geld gesprochen wird: Die Wiederaufbaukonferenz ist keine Geberkonferenz, in der es um neue Hilfszusagen geht. Stattdessen will das Treffen mit rund 2000 Teilnehmern, darunter auch Bundesrat Ignazio Cassis, internationale Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vernetzen. Zur Konferenz gehört denn auch eine Halle, in der sich wie an einer Messe Unternehmen und ukrainische Gemeinden vorstellen.
Unter den Ausstellern sind auch einzelne Schweizer Unternehmen. Erst nach Kriegsbeginn in der Ukraine tätig geworden ist die in Freienbach domizilierte Global Clearance Solutions (GCS), die sich als weltweit führender Lösungsanbieter im Bereich der Entschärfung explosiver Bedrohungen beschreibt. In der Ukraine ist sie mit rund drei Dutzend Mitarbeitern präsent, sie liefert Minenräumsysteme aus und führt Trainingsprogramme durch. Bereits seit 25 Jahren vor Ort und trotz Krieg weiterhin operativ tätig ist das Familienunternehmen Rehau, das unter anderem Fensterprofile herstellt und den Sitz in Muri bei Bern hat.
Von Berlin auf den Bürgenstock
Die Berliner Wiederaufbaukonferenz bildet den Auftakt zu einem Dreisprung, der in der zweiten Wochenhälfte an den G-7-Gipfel in Italien führen und am Wochenende mit der Ukraine-Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock seinen Abschluss finden wird. Auf dem Bürgenstock gebe es noch keine Verhandlungen über ein Ende des Krieges, denn dafür müsste der russische Präsident Putin «erkennen lassen, dass er bereit ist, seinen brutalen Feldzug zu beenden und Truppen zurückzuziehen», sagte Scholz in Berlin. Doch vielleicht könne ein Weg aufgezeigt werden, «wie ein Einstieg in einen Prozess gelingen könnte, bei dem eines Tages auch Russland mit am Tisch sitzt». Wann die Zeit dafür reif sei, entscheide einzig und allein die Ukraine.
Laut Selenski ist die Tatsache, dass die Konferenz überhaupt stattfindet, bereits ein Ergebnis. Denn es sei sehr schwierig, die Partner und ihren Zusammenhalt nicht zu verlieren und den Zusammenhalt mit Nicht-Partnern zu schaffen.
Rücktritt eines führenden Reformers im Streit
mij. Nur einen Tag vor Beginn der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz hat der bekannte Reformer Mustafa Najjem seinen Rücktritt als Leiter der Staatsagentur für Wiederaufbau und Infrastrukturentwicklung eingereicht. Der ehemalige Journalist, der 2013 mit einem Facebook-Post die Maidan-Revolution losgetreten hatte, begründete den Schritt damit, dass ihm der ukrainische Regierungschef die Teilnahme an der Konferenz verwehrt habe. Seine Agentur kämpfe seit Monaten mit massiven Budgetkürzungen und bürokratischen Hürden, die ihre Arbeit praktisch verunmöglichten.
Die Resignation schlägt in Kiew und westlichen Hauptstädten einige Wellen, da Najjem einer der wichtigsten internationalen Ansprechpartner für Wiederaufbauprojekte war. Seine Agentur war unter anderem für den Schutz der Energieinfrastruktur verantwortlich, die Russlands Angriffe jüngst stark beschädigt haben. Najjems Effizienz als Manager war umstritten. Ein weiterer wichtiger Grund für die Spannungen zwischen ihm und Präsident Selenskis Umgebung dürften aber Machtkämpfe und Eifersüchteleien sein.