Die Parteien von Marine Le Pen und Giorgia Meloni haben zugelegt, weil sie näher an die Mitte gerutscht sind. Wer Macht will, muss sich zähmen.
Es schallt durch die westlichen Medien von hier bis Amerika: «Rechts um, Marsch!» Vom sogenannten Rechtsruck berichtet die «Süddeutsche Zeitung», und die ebenfalls nach links tendierende «Washington Post» meldet: «Die extreme Rechte räumt ab im Europäischen Parlament. Selbst der konservative britische «Spectator» unkt: «Es fühlt sich so an, als ob Europa in die dunkelste Zeit unserer Geschichte zurückkehrt.»
Zurück zu Adolf H. und Benito M., zu den Faschisten in Spanien, Österreich, Polen und Ungarn in den zwanziger und dreissiger Jahren? Schrecklich wäre es, ist es aber nicht. Was damals eine «Tragödie» war, um Marx hervorzukramen, ist heute nicht einmal eine «Farce». Die Wahldaten zeichnen ein kalmierendes Bild.
Leichte Verschiebung, aber kein Erdbeben
Die populistische Rechte (ID) hat 9 zusätzliche Sitze geholt, die mittigen Christlichdemokraten 10. Die Koalition der Mitte bleibt. Die tektonischen Platten haben sich etwas verschoben, das Erdbeben war keines, wie die Schwarzseher wähnen. Es erfordert viel Phantasie, um dieses Bild mit den letzten freien Wahlen in Vorkriegsdeutschland 1932 zu verwechseln. Damals haben die Feinde der Demokratie, die Nazis und Kommunisten, die Mehrheit der Sitze im Reichstag kassiert. Knapp drei Monate später war Hitler Reichskanzler.
Betrachten wir nun den Wahlausgang 2024 etwas genauer. Richtig ist, dass die Rechte zugelegt hat und Linke wie Grüne abgeschmiert sind. Nun zu den einzelnen Ländern. Die beste Nachricht ist dabei, dass die harte Rechte in Polen («Recht und Gerechtigkeit») und Ungarn («Fidesz») abgesackt ist. Richtig bleibt dennoch, dass die Rechte in Frankreich (Marine Le Pen) und Italien (Giorgia Meloni) in ihren Ländern die meisten Stimmen abgeschöpft haben. Wieso bloss? Die beiden Frauen haben ihre Parteien Richtung Mitte bugsiert. Die echten Faschisten der Vorkriegszeit hätte das Duo ins Arbeitslager gesteckt.
Im Gegensatz zu ihrem übel beleumdeten Vater Jean-Marie hat Marine Le Pen ihrer Partei, dem Rassemblement national, eine Strategie der «Entdiabolisierung» verschrieben, um in das bürgerliche Lager vorzudringen. Sie verdrängte antisemitische Parteigenossen und Holocaust-Leugner. So gewann sie in den Präsidentschaftswahlen 2022 drei Millionen Stimmen mehr als 2017. Sie wollte das Pariser Klimaschutzabkommen respektieren und keinen «Frexit» fordern. Die Früchte? Nach dem Desaster seiner Koalition in den Europawahlen geriet der französische Präsident Emmanuel Macron in Panik und schrieb Neuwahlen aus.
Giorgia Meloni, Regierungschefin in Italien seit 2022, ist ebenfalls in Richtung Mitte gerückt. Sie entwickelte sich zur treuen Atlantikerin, die dezidiert hinter der Ukraine steht. Vom EU-Austritt will sie nichts mehr wissen. Das Recht auf Abtreibung will sie nicht antasten, gleichgeschlechtliche Ehen passen zwar nicht in ihr Gesellschaftsbild, sind aber okay. Einst gestand sie Mussolini nur «einige Fehler» ein, jetzt betont sie «Werte wie Freiheit und Bürgerrechte». So gewinnt man die Macht. Was nicht nur für Italien gilt. Wer sie will, muss ab in die Mitte.
Dunkler Fleck AfD
Dieses lichte Bild hat allerdings einen dunklen Fleck. Die sich radikalisierende Alternative für Deutschland (AfD) hat in den EU-Wahlen ein Plus von fünf Sitzen geholt. Da diese Wahlen wie überall wenig im Brüsseler Machtgefüge bewirken, spiegeln sie Stimmungen, die kaum etwas kosten, haben doch die Staaten das letzte Wort. Doch ist der Ausgang ein Menetekel für die Grünen und die Sozialdemokraten in der Ampelkoalition. Zusammen haben sie fast elf Prozentpunkte verloren. Der Felsen der Beständigkeit in der Mitte Europas bröckelt.
Lassen wir die AfD-Kirche im Dorf – und zwar aus strukturellen Gründen. Die AfD hat keine Chance, in die Regierung vorzudringen – nicht gegen ein demokratisches Parteienkartell, das durch 80 Prozent der Stimmen abgesichert wird. Im Zweiparteiensystem Amerikas und Englands kann es zu weiten Pendelschlägen kommen, nicht aber in der hiesigen Koalitionsherrschaft.
Gesetzt den irrealen Fall, dass die AfD es schafft, wäre sie eine Partei von mehreren, die einander konterkarieren und zum Kompromiss zwingen. Das System ist Schicksal; es zieht den Radikalen die Zähne. Siehe auch den Rechtsextremisten Geert Wilders, der sich stark zurückhalten musste, um in Den Haag endlich in die Regierung zu gelangen. Doch nicht als Chef.
Was ist der gemeinsame Nenner des Wahlausgangs? Die Leute schätzen die «Wokeness» nicht, ebenso wenig eine Klimapolitik, welche die Preise für Wohnraum und Lebensmittel hochtreibt und ihnen das Auto vermiest. Sie wehren sich per Stimmzettel, was aber nicht faschistoid ist, wie wir Bienpensants befürchten.
Die EU ist Lichtjahre entfernt von den Dreissigern. Europas Gewicht hat im Vergleich zu seiner gloriosen Vergangenheit abgenommen. Die «action» ist nach Amerika gewandert, die Schreckensherrscher leben in China und Russland. Aber im Drögen ruht ein Segen. Die Adolfs und Benitos, die osteuropäischen Faschisten, sind Geschichte. Es regiert die Mitte, die mal etwas nach links, mal nach rechts rutscht. Die Zeit der Rattenfänger ist vorbei. Wer an die Macht will, muss sich zähmen und beugen. Siehe Le Pen und Meloni. Und Mijnheer Wilders.
Josef Joffe, deutscher Publizist, hat an den Universitäten Harvard, Stanford und Johns Hopkins Politik gelehrt.