Der Goalie hat in den Wochen vor der EM für ihn unübliche Fehler begangen. Doch die Diskussion kennt kein Mass.
Vielleicht muss man bei Muhammad Ali beginnen, um zu begreifen, in was für einer Situation sich der Fussballgoalie Manuel Neuer befindet. Ali, der selbsterklärte grösste Boxer der Geschichte, war nicht nur ein Virtuose im Ring und ein blendender Selbstvermarkter – er war ein Meister des Comebacks. Auch deshalb wurde er zur Legende. Bloss überspannte Ali den Bogen, indem er sich in den Ring wagte, als er den Zenit längst überschritten hatte.
Auch Manuel Neuer hat nicht nur ein Comeback hinter sich. Es gibt nicht wenige Experten, die ihn für den besten Torhüter der Fussballgeschichte halten. Jüngst bezeichnete ihn sein Mitspieler im Nationalteam, der Stürmer Kai Havertz, als solchen. Stehe Neuer im Tor, dann gebe dies allen ein anderes Gefühl. Solche Sätze sind immer wieder zu hören in diesen Tagen, kurz bevor das deutsche Team am Freitagabend im Eröffnungsspiel der Europameisterschaft auf Schottland trifft.
Neu sind die Debatten um Neuer nicht
Neuer ist zweifellos ein Revolutionär. Er hat die Grenzen des Spiels verschoben, indem er zum elften Feldspieler wurde, der Gefahren weit vor dem Tor beseitigte. Neuer, der Libero, der «Sweeper Keeper», wies den Weg zu einer neuen Interpretation des Goalie-Spiels, das den Spielraum buchstäblich erweiterte und die Position damit gewaltig aufwertete: Aus dem Goalie wurde ein Fussballer, der das Privileg hat, den Ball mit den Händen greifen zu dürfen.
Ihn als ein Monument des modernen Fussballs zu beschreiben, ist keineswegs untertrieben. Dennoch wird über keinen anderen deutschen Spieler intensiver diskutiert, seitdem der Bundestrainer Julian Nagelsmann sich entschieden hat, Neuer die Position der Nummer eins nach einer langen Verletzungspause erneut anzuvertrauen.
Ganz neu ist die Diskussion nicht. Seit Jahren geht es immer wieder darum, wie es um Manuel Neuer bestellt ist; der Vorwurf, er zehre von seinem Renommee, wird immer wieder erhoben. Tatsächlich haben die Kritiker neuerdings gute Argumente auf ihrer Seite, seit Neuer im letzten Oktober nach einer fast zehnmonatigen Verletzungspause, die ein Sturz während einer Skiwanderung erzwungen hatte, ins Tor des FC Bayern zurückkehrte.
Seitdem lieferte er bisweilen erratische Auftritte ab, die angesichts seiner Qualität nur schwer zu erklären sind. Es kann vorkommen, dass Neuer innerhalb eines Spieles atemberaubend interveniert – sich aber nur ein paar Minuten später spektakulär verschätzt.
Die Aussetzer wurden mehr, je näher die EM rückte
Es begann in Madrid, als die Bayern 1:2 verloren und im Halbfinal der Champions League ausschieden. Neuer hatte prächtig gehalten, nicht wie ein 38-Jähriger, sondern wie ein Keeper auf dem Höhepunkt seines Könnens. Als Vinícius Júnior in der 86. Minute auf das Tor kickte, sah es eher nach einem Versuch aus Verlegenheit aus – doch Neuer liess diesen Ball abprallen, und Real glich aus.
Es waren Ausfallerscheinungen, die sich häuften, je näher das Turnier rückt – diese an Joe Biden gemahnenden Aussetzer, bei denen Neuer das Gegenteil von dem tut, was eigentlich angebracht wäre. Es ist gar nicht auszuschliessen, dass Manuel Neuer sich selbst ein Rätsel ist.
Seine Leistung ist das eine. Die Diskussion darum ist das andere. Der Bundestrainer Julian Nagelsmann wollte sie am liebsten ganz schnell beenden: Neuer stehe im Tor, und damit basta. Nur: Die Diskussion wäre nicht so, wie sie ist, wenn es keine Vorgeschichte zwischen Nagelsmann und Neuer gäbe. Als Nagelsmann Trainer im FC Bayern war, sorgte er dafür, dass Neuers Vertrauter Toni Tapalovic als Goalie-Trainer abgelöst wurde. Das geschah während Neuers Rekonvaleszenz. Nachdem Nagelsmann bei den Bayern entlassen worden war und Nationaltrainer geworden war, legte er sich nach Neuers ansehnlichem Comeback überraschenderweise schnell auf ihn als Nummer eins fest. Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona hatte das Nachsehen.
Vermutlich weiss man nur im Hause ter Stegen, wie gross der Frust des Barça-Torhüters ist. Dass er diesen nicht öffentlich formuliert, seit Monaten kein einziges Mal Ansprüche gestellt hat und auch angesichts der jüngsten Aussetzer Neuers nicht einmal Unverständnis geäussert hat, kann ihm gar nicht hoch genug angerechnet werden.
Es ist eine sehr deutsche Diskussion
Die Diskussion um Manuel Neuer ist auf vielfältige Weise eine ziemlich deutsche. Zum einen streiten die Deutschen gerne über die Position der Nummer eins, da sie sich traditionell als eine sogenannte Torwartnation begreifen. Es gab legendäre Fehden wie diejenige von Toni Schumacher und Uli Stein und die von Oliver Kahn und Jens Lehmann.
Neuers Widersacher ter Stegen wird in Barcelona zwar seit einem Jahrzehnt geschätzt, aber seine Leistung wird auch ein wenig verklärt, was daran liegen mag, dass die Fussballfans in Deutschland eher selten Spielen aus La Liga zuschauen. Dann könnten sie erkennen, dass der Mann, den sie als Ablösung für Manuel Neuer fordern, keineswegs fehlerfrei ist.
Eine ziemlich deutsche Diskussion ist sie auch deshalb, weil sich das Land mit wirklich grossen Figuren schwertut. Alles muss nivelliert werden, mindesten abgewertet – das war so bei Franz Beckenbauer, bei Lothar Matthäus und auch bei Boris Becker. Manuel Neuer ist der Fussballer, der in den letzten zwei Jahrzehnten alle anderen deutschen Spieler überragt hat – es wirkt, als falle die Missgunst seiner Landsleute nun umso härter auf ihn zurück.
Falls er es sich zumuten möchte, kann Neuer, ungeachtet aller berechtigten Kritik, sonderbare Sachen über sich lesen: beispielsweise, dass er sein letztes passables Turnier 2016 gespielt habe, dass er 2018 an der WM, 2021 an der EM und auch zuletzt in Katar an der Weltmeisterschaft allenfalls mässige Leistungen erbracht habe. Ein Gegentor gegen Japan wurde ihm dort angekreidet – ein wuchtiger Schuss aus drei Metern Distanz unter die Torlatte. Die Begründung: Neuer habe sich nicht richtig positioniert.
Sepp Maier gibt Rückendeckung
Gegen solchen Unfug ist dann kein Kraut gewachsen, wenn er auf allen Kanälen Widerhall findet. Zumal all die beckmesserischen Abrechnungen Neuers tatsächlich sensationelles Comeback nach einer Fussverletzung ausser acht lassen: Den Champions-League-Sieg 2020 gegen Paris Saint-Germain haben die Bayern ihrem Torhüter zu verdanken, und zwar in solchem Masse, dass der PSG-Trainer Thomas Tuchel wegen Neuers Leistung von Wettbewerbsverzerrung sprach.
Torhüter sind per se einsame Leute. Aber Neuer erhält immerhin Unterstützung. Nicht nur von Kai Havertz oder Maximilian Mittelstädt («Wenn Manuel Neuer keine Sicherheit ausstrahlen kann, wer sonst?»), sondern auch von einem, der recht genau weiss, in welcher Situation sich der Goalie befindet: Sepp Maier. Die Diskussion, sagte Maier zur «Abendzeitung», käme «zur Unzeit» – man dürfe Neuers Klasse nicht leichtfertig infrage stellen.
1974, als das deutsche Team vor der Weltmeisterschaft im eigenen Land stand, hatte der Schalker Norbert Nigbur die Rolle von Marc-André ter Stegen inne. Maier, die Nummer eins, war keineswegs unumstritten. Am Ende waren es seine Paraden im Halbfinal und im Endspiel, die Deutschland den Weltmeistertitel sicherten.