Er ist der erste Flüchtling, der an Leichtathletik-EM auf dem Podest steht, doch am Tag nach dem Triumph über 10 000 m erfährt er, dass er an den Olympischen Spielen nicht für die Schweiz laufen darf. Steckt eine Retourkutsche dahinter?
Tiefer kann ein emotionaler Fall wohl nicht sein: Am Mittwoch wird Dominic Lobalu in Rom im Dress von Swiss Athletics Europameister über 10 000 m. Und kaum ist er am Donnerstag wieder in der Schweiz, kommt der Bescheid vom Internationalen Olympischen Komitee (IOK): An den Sommerspielen in Paris wird er nicht für die Schweiz starten dürfen.
Die Geschichte des im heutigen Südsudan geborenen Sportlers ist kompliziert. Als Kind flüchtete er nach Kenya, dort schaffte er es dank seinem Lauftalent ins internationale Refugee-Team, doch wurde er mehr ausgebeutet als gefördert. 2019 setzte er sich an einem Wettkampf in Genf ab, über Umwege landete er in St. Gallen, wo er in Markus Hagmann einen Trainer, Mentor und Freund fand.
Lobalu gewinnt EM-Gold ohne Schweizer Pass
Der junge Mann wurde zum Weltklasseläufer, und bald setzte sich auch der Verband Swiss Athletics dafür ein, ihm das Startrecht an internationalen Meisterschaften zu ermöglichen. Das brauchte viel Überzeugungsarbeit und Druck, weil Lobalu laut Schweizer Recht frühestens 2031 eingebürgert werden kann. Doch Anfang Mai war die letzte Hürde überwunden, der Weltverband World Athletics gab bekannt, dass Lobalu auch ohne Pass um Medaillen laufen dürfe.
Ob das für die Sommerspiele ebenso gilt, blieb dabei offen, denn der letzte Entscheid dafür lag beim IOK. In der Olympischen Charta heisst es: «Jeder Wettkämpfer bei Olympischen Spielen muss Staatsangehöriger des Landes des NOK sein, das ihn meldet.» Darauf beruft sich die Exekutivkommission des IOK, die aber laut den Ausführungsbestimmungen zum entsprechenden Paragrafen durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, für Lobalu eine Ausnahme zu machen.
Immerhin entschied die Exekutivkommission aber, ein Türchen für den Läufer zu öffnen. Er wird eingeladen, nachträglich noch dem Refugee-Team beizutreten, das bereits vor einem Monat vom IOK für die Spiele in Paris selektioniert wurde und dort unter der olympischen Flagge antreten wird.
Ob Lobalu diese Einladung annehmen wird, ist noch offen. Sein Trainer Hagmann sagt dazu nur: «Wir werden die Option prüfen.» Ähnlich reagiert Swiss Athletics. Verbandspräsident Christoph Seiler zeigt sich wenig erfreut: «World Athletics hat es sich zuvor nicht einfach gemacht und einen bemerkenswerten Entscheid gefällt.» Das IOK ignoriere diesen nun, obwohl die Fachverbände grundsätzlich für die Selektionen bei Olympia zuständig seien. «Wir werden prüfen, ob es eine Rekursmöglichkeit gibt», sagt Seiler.
Der Schweizer Verband hat stets betont, es gehe darum, dem Weltklasseläufer Lobalu zu einem Startrecht an Titelkämpfen zu verhelfen – unabhängig davon, ob er das Schweizerkreuz auf der Brust trage oder nicht. Trotzdem soll geprüft werden, ob ein Start für das Refugee-Team sinnvoll ist. Würde das zum Beispiel bedeuten, dass er auch mit diesem Team im Olympischen Dorf lebt und von einem Trainer betreut wird, den er gar nicht kennt?
Das ist keine unerhebliche Frage, denn Lobalu hat eine sehr enge Beziehung zu seinem Coach Hagmann, er war an den EM in Rom erstmals als Medaillenkandidat am Start, musste sich an sehr viel Neues gewöhnen und lief trotzdem taktisch überragend. Das hatte auch damit zu tun, dass Hagmann unbezahlten Urlaub von seinem Lehrerjob nahm, um den Läufer vor Ort zu betreuen.
Eine Retourkutsche für World Athletics?
Schliesslich stellt sich auch die Frage, weshalb das IOK Lobalu zwar starten lässt, aber nicht für die Schweiz. Er ist mit Abstand der beste Flüchtling der Welt und hat auch an den Olympischen Spielen Medaillenchancen – will das IOK mit seiner Hilfe das Scheinwerferlicht auf das Refugee-Team richten? Oder geht es sogar darum, World Athletics eins auszuwischen?
Das IOK hat entschieden, Sportler aus Russland und Weissrussland unter neutraler Flagge antreten zu lassen. In der Leichtathletik sind sie jedoch nicht startberechtigt, weil der Fachverband diese beiden Länder wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine ausgeschlossen hat. Dieses Ausscheren einer der olympischen Hauptsportarten findet IOK-Präsident Thomas Bach nicht gerade amüsant.
Es könnte also durchaus sein, dass Lobalu zu sportpolitischen Zwecken instrumentalisiert werden soll. Und das hat der Sportler, der als Neunjähriger ansehen musste, wie seine Eltern massakriert wurden, und der nach einer Odyssee in der Schweiz eine Heimat fand, definitiv nicht verdient.