Eine seltene Investigativ-Recherche einer Pekinger Tageszeitung bringt krasse Missstände beim Transport von Speiseöl ans Licht. Die Regierung ist alarmiert.
Ist in meinem Sojaöl Gift drin? Das fragen sich gerade die Chinesinnen und Chinesen. Öl ist unabdingbar in der chinesischen Küche, pro Jahr und Kopf liegt der Konsum bei neun bis zehn Kilogramm. Der neuste Lebensmittelskandal war deshalb ein kollektiver Schock. Anfang Juli berichtete eine Pekinger Zeitung, dass einzelne Hersteller ihr Speiseöl in ungereinigten Tanklastern ausliefern lassen, in denen bisweilen auch aus Kohle gewonnener Treibstoff transportiert wird.
Erst eine Woche nach den Enthüllungen der «Beijing News» reagierten die chinesischen Behörden und kündigten an, eine Untersuchung der Vorwürfe einzuleiten.
Die Reporter der «Beijing News» hatten im Mai mit ihren Recherchen begonnen. Sie verfolgten stundenlang die Lastwagen des staatlichen Lebensmittelkonzerns Sinograin und konnten so nachweisen, dass die Lastwagen zwischen den einzelnen Transporten häufig nicht gereinigt werden, wohl um Geld und Zeit zu sparen.
Viele Online-Händler bieten kein Speiseöl mehr an
Chinesinnen und Chinesen reagierten empört auf die Enthüllungen. In den sozialen Netzwerken des Landes machten Nutzer Stimmung gegen Sinograin und riefen einander dazu auf, ihr Speiseöl künftig in Hongkong zu kaufen. Viele Online-Händler in China bieten auf ihren Plattformen inzwischen kein Speiseöl mehr an.
Der beschuldigte Anbieter versuchte zunächst, die Verantwortung auf andere abzuwälzen. Sinograin vertreibe sein Speiseöl über Zwischenhändler, teilte das Unternehmen mit. Diese wiederum griffen für den Transport auf externe Speditionen zurück. Ein Lastwagenfahrer erzählte den Reportern der «Beijing News», dass es gängige Praxis sei, die Tanks zwischen den unterschiedlichen Transporten nicht zu säubern.
Es fehlen landesweite Standards
In China gibt es bei der Aufsicht und der Kontrolle von Lebensmitteltransporten nach wie vor massive Lücken. So fehlen etwa bindende Richtlinien und landesweite Standards für den Transport von Speiseöl. China kennt lediglich nicht bindende Empfehlungen, die für den Transport von Speiseöl «spezielle Fahrzeuge» empfehlen.
Auf kaum ein Thema reagiert Chinas Bevölkerung so sensibel wie auf Skandale mit verunreinigten Lebensmitteln, kein Wunder, wenn es an die eigene Gesundheit geht – und die körperliche Unversehrtheit. Während der zweitausender Jahre kamen praktisch im Monatstakt Berichte über mit Schwermetall belastetes Gemüse oder mit Bakterien verseuchtes Fleisch ans Licht.
Unvergessen ist Chinas Melamin-Skandal im Jahr 2008. Der chinesische Marktführer Sanlu mischte dabei Kunstharzstoff in Säuglingsnahrung. Damit wollte der Hersteller einen hohen Proteingehalt des Milchpulvers vortäuschen. Das Melamin führte bei vielen Kindern zu schweren Nierenerkrankungen oder gar Nierenversagen.
Insgesamt erkrankten rund 300 000 Babys
Insgesamt erkrankten rund 300 000 Babys, sechs Säuglinge starben. Die Bilder von weinenden Frauen, die mit ihren erkrankten Babys vor Spitälern stehen, sind vielen Chinesen noch heute präsent.
Chinesinnen und Chinesen machten in den folgenden Jahren einen grossen Bogen um chinesisches Milchpulver. Stattdessen deckten sich die Menschen auf Europareisen massenweise mit Babynahrung ein. Grosse Drogerieketten wie dm und Supermärkte beschränkten daraufhin die Abgabe der Produkte.
Ähnlich dürften die chinesischen Konsumenten auf den jüngsten Skandal reagieren. «Egal was die interministerielle Untersuchung ergibt, der Reputationsschaden ist gewaltig», schreiben die Analysten der auf China spezialisierten Beratungsfirma Trivium. Die Nachfrage nach importiertem Speiseöl werde zunehmen.
Sollten die Ermittlungen der Behörden ergeben, dass die Probleme über Speiseöl-Transporte hinausgehen, wird dies mit grosser Sicherheit zu einem massiven Vertrauensverlust bei den Konsumenten führen. Schnell könnte sich die Wut dann gegen die Regierung richten.
Lebensmittelskandale bergen sozialen Sprengstoff
Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping weiss um den sozialen Sprengstoff, den Skandale um verunreinigte Lebensmittel bergen. Auch deshalb liess die Regierung ab 2012, nachdem Xi an die Macht gekommen war, beispielsweise in offenen Märkten Büros für Lebensmittelkontrolle einrichten. Ausserdem verschärften die Behörden die Bestimmungen für Transport und Lagerung von Lebensmitteln.
Doch das System ist offenbar immer noch lückenhaft. Das grösste Problem besteht darin, dass es in China keine unabhängigen Kontrollinstanzen oder Verbraucherorganisationen gibt. Sämtliche Gremien unterstehen am Ende der Kommunistischen Partei. Das engt den Handlungsspielraum ein.
Vorbei sind auch die Zeiten, in denen mutige Journalisten mit ihren Recherchen Umweltskandale und Missstände wie die Enteignung von Bauern durch Behörden aufdecken konnten. Unter Xi haben die Medien «positive Propaganda» zu liefern und müssen «die öffentliche Meinung korrekt steuern».
Die Publikation kommt zu einem kritischen Zeitpunkt
China-Experten rätseln darum, wie und warum die «Beijing News», die dem Propaganda-Büro der Stadt Peking untersteht, ihre Recherchen so weit treiben und schliesslich veröffentlichen konnte. Zumal die Publikation zu einem denkbar kritischen Zeitpunkt kommt.
Am Montag hat in Peking das sogenannte dritte Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei begonnen, ein hochrangiges Treffen, an dem die Parteispitze über die Politik der kommenden Jahre beraten will.







