Sie war Werbe- und Modefotografin sowie Fotojournalistin. Und nicht zuletzt Fotografin der Pariser Strassen. Vor hundert Jahren wurde Sabine Weiss geboren. Das Photo Elysée in Lausanne würdigt sie mit einer Retrospektive.
Sie hatte damals zwar eine abgeschlossene Ausbildung als Fotografin, schon mehr als zwanzig Jahre Berufserfahrung sowie immense Erfolge vorzuweisen, die Konkurrenten erblassen lassen konnten. Doch noch 1965 fragte man Sabine Weiss in Frankreich vor laufender Kamera, ob die Fotografie ein passendes Metier für Frauen sei. Sie lächelte und zeigte sich von der despektierlichen und rhetorischen Frage weder überrascht noch in die Ecke gedrängt. Sabine Weiss wusste, dass sie in eine Männerdomäne eingedrungen war und seitdem ihren Platz stets aufs Neue beweisen musste: Sie tat dies mit Nonchalance, aber unbeirrt.
Heute ist zwar klar, dass Frauen nicht nur manch ikonisches Bild hervorgebracht, sondern die Fotografie besonders seit den 1920er Jahren mitgeprägt haben. Doch zu verdanken ist diese Erkenntnis Ausstellungen und Veröffentlichungen der vergangenen Jahrzehnte sowie der gar nicht so alten Disziplin Fotogeschichte.
Geboren als Monique Sabine Weber am 23. Juli 1924 in Saint-Gingolph (Wallis) an der Grenze zu Frankreich, hatte sie den Umgang mit einer Kamera schon als Kind entdeckt und noch als Heranwachsende begriffen, dass Fotografie ihr ureigenes Ausdrucksmittel werden würde. Als ihre Lehrzeit in Genf beendet war und sie 1946 nach Paris zog, konnte sie allenfalls hoffen, sich durchschlagen zu können.
Stunde null
In Paris begann sie mit zweiundzwanzig Jahren bei null. Sie konnte nicht ahnen, dass sie später einmal für ihre Aufnahmen gefeiert werden würde, nämlich 2018 im Centre Pompidou, 2020 und 2021 bei den Rencontres de la photographie in Arles – und derzeit im Photo Elysée in Lausanne, wo ihre Werke in einer Retrospektive gezeigt werden (bis 12. Januar 2025).
Ihrer Leidenschaft gewiss, hat sich Sabine Weiss im Paris der Nachkriegszeit schnell einen Platz erobert. Dazu trug ein Mentor in der Rue Jacob bei, mitten im florierenden Stadtviertel Saint-Germain-des-Prés: Der Fotograf Willy Maywald sorgte dafür, dass Weiss mit «tout Paris» in Berührung kam. Fast vier Jahre währte ihre Zusammenarbeit. Auch die Kollegen Robert Doisneau und Edward Steichen wurden auf Sabine Weiss aufmerksam. Bald schon wurde ihr Name auch in den USA gehandelt.
1950 heiratete Sabine Weiss den amerikanischen Kunsthistoriker und Künstler Hugh Weiss, der ihr auf einer vorsintflutlichen Schreibmaschine die nötigen Korrespondenzen etwa mit dem Art Institute of Chicago tippte. Noch bevor auch andere Museen, etwa das MoMA in New York, sie wahrnahmen, hatten an ihrem Fotojournalismus interessierte Magazine und die Wirtschaft begonnen, ihr Aufträge für Mode- oder Reisereportagen oder Werbung zu erteilen. Neben Arbeiten für die Haute Couture, etwa für Christian Dior, entstanden Porträts von Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur oder Gesellschaft. Weiss setzte Schickes, Mondänes, Exotisches und Innovatives ins rechte Licht.
Immer wieder Kinder
Die Schattenseiten des Lebens blieben Sabine Weiss aber nicht fremd. Hugh und Sabine Weiss wohnten anfangs auf kleinstem Raum; Wasser und Toilette gab es nur im Hof. Dieser diente nach Einbruch der Nacht auch als Dunkelkammer. Von ihrem Zuhause am Boulevard Murat im 16. Arrondissement war es nicht weit zum Stadtrand, wo es entlang der einstigen Befestigungen noch unbebaute und unwirtliche Gelände gab. Zu dem Bohème-Leben gehörten auch ausgedehnte Streifzüge durch andere Quartiere an terminfreien Tagen oder abends.
Dabei galt Sabine Weiss’ Aufmerksamkeit nicht Fassaden, sondern den Passanten im Stadtraum und an der Metrotreppe: Handwerkern, Händlern, Flaneuren, Liebespaaren oder Clochards und immer wieder Kindern. Die Fotografin nannte sie mitunter liebevoll Bengel («gosses») und Rotznasen («morveux»). Sie spielten auf Trottoirs und an Stufen Fangen und mit Karten oder veranstalteten, wenn sie nicht auf Bäume kletterten, kleine Seifenkistenrennen. Ein besonders schelmisch ins Objektiv blickender Junge liess, auf einer Fensterbank sitzend, eng an den Laden gelehnt, spöttisch-vergnügt seine Zungenspitze hervorlugen.
Situationen wie diese hat Sabine Weiss nicht gesucht, sondern geschehen lassen. Die dabei entstandenen Bilder unverhoffter Entdeckungen und Begegnungen blieben lange in Alben und Kartons. Die Fotografin unterschied zwischen Auftragsarbeiten, die teilweise aufwendige Techniken voraussetzten, mit Posen verbunden waren und zur Veröffentlichung führten, und eher für sich entstandenen Bildern, die oft den Charakter von Schnappschüssen hatten.
Solche Werke auszustellen – der reiche Fundus wuchs bis zu ihrem Lebensende im Jahr 2021 auf 200 000 Negative an –, kam ihr nicht in den Sinn. Sie verstand sich primär als Handwerkerin und Zeitzeugin, sprach lieber von ihren Filtern und Objektiven oder den mit einzelnen Bildern verbundenen Anekdoten. Über die Ästhetik, das Spiel von Licht und Schatten oder von Schärfe und Unschärfe sowie die Wahl des effektvollen Ausschnitts liess sie sich nicht aus.
Zu einer Künstlerin wurde sie mehr durch Freunde und Experten, die sie ab den 1970er Jahren zum Zeigen ihrer zu Hause archivierten Schätze in Form eines Buches oder einer Ausstellung drängten. Obwohl ihr Œuvre eine ungeheuer breite und vielfältige Bildwelt aus über sieben Jahrzehnten umfasst, fand sich dabei schnell ein Etikett: «photographie humaniste» – humanistische Fotografie.
Gewiss, Menschliches und Allzumenschliches stehen bei ihr im Mittelpunkt. Doch sprach Sabine Weiss eher davon, sich stets für einen «Moment», eine «Geste», eine «Atmosphäre» interessiert zu haben und dafür, das so Gesehene weiterzugeben.