Die gegenwärtigen Unruhen dürften enden, wie das in Grossbritannien üblich ist: durch den Einsatz von Polizei, Schnellgerichten und hohe Gefängnisstrafen. Üblich wäre auch, dass die politische Nachbearbeitung der Ursachen ausbleibt – das wäre ein Fehler.
Grossbritannien wird seit einer Woche erschüttert durch Unruhen und Strassengewalt in zahlreichen Städten. Die Regierung, die in den Sommerferien weilenden Politiker und die Polizei wurden durch den unvermittelten Gewaltausbruch überrumpelt. Doch mittlerweile zeigt sich die Regierung entschlossen und bereit zum Gegenschlag, der die Unruhen beenden soll. Premierminister Keir Starmer teilte am Dienstagabend nach Besuch eines Treffens des Krisenstabs der Regierung mit, 6000 Polizisten mit Anti-Riot-Ausrüstung stünden bereit, um neu aufkeimende Krawalle rasch zu ersticken.
Scharfe Rhetorik der Regierung
Jeder, der an den Unruhen teilnehme, werde vor Gericht geführt und hart bestraft werden, so Starmer. Nachdem bis am Wochenende trotz heftigen Gewaltausbrüchen erst 100 Festnahmen vermeldet worden waren, ist die Zahl bis am Mittwoch auf über 400 geschnellt. Das lässt auf eine verbesserte Organisation der Polizei schliessen sowie auf die erfolgreiche Suche nach Verdächtigen durch die Analyse von Überwachungsvideos. Am Dienstag wurde auch bereits der erste Krawallmacher in einem Strafgericht verurteilt und namentlich genannt. Der 18-jährige Jugendliche aus dem nordenglischen Bolton muss für zwei Monate ins Gefängnis, nachdem er zwei Polizeiwagen beschädigt hatte. Am Mittwoch folgten an verschiedenen Gerichten weitere hohe Haftstrafen zwischen zwei und drei Jahren gegen Männer, die sich der Teilnahme an den Unruhen sowie der Gewalt gegen Personen oder versuchter Brandstiftung schuldig gemacht hatten.
Die verstärkte Drohkulisse zeigte am Mittwoch bereits Wirkung. Es zeigten sich deutlich weniger gewaltbereite Randalierer auf englischen Strassen. Gleichzeitig wurden sie in verschiedenen Städten durch friedliche Gegendemonstrationen mit Tausenden Teilnehmern zurückgedrängt.
Die erst vor einem Monat angetretene Labour-Regierung setzt auf «die volle Kraft des Gesetzes», wie Starmer sagte. Sie sucht die Randalierer abzuschrecken. Damit folgt sie dem Willen der breiten Bevölkerung: Chaos und Gewalt auf britischen Strassen werden nicht geduldet – unabhängig von allfälligen politischen Motiven und Hintergründen. Wer dagegen verstösst, wird hart bestraft und weggesperrt. Das spiegelt sich im breiten Support, den die Regierung vonseiten der Opposition und der Medien erhält.
Breiter politischer Konsens
Von den Konservativen gibt es kaum Widerspruch, höchstens Kritik, dass die Polizei nicht härter und schneller durchgreife. Selbst die sich gerne bissig und volksnah gebende nationalkonservative Boulevardzeitung «Daily Mail» stellt sich voll hinter den Law-and-Order-Ansatz des Labour-Premierministers. Sie schreibt von den Krawallmachern bloss als «rechtsextremen Schurken». Auf deren Ausländer- und islamfeindliche Forderungen geht sie kaum ein – obschon das Blatt normalerweise nicht zimperlich ist mit Kritik an Einwanderung, Asylwesen und Islamismus.
Auch in der Regierung ist keine Bereitschaft erkennbar, sich auf eine Debatte über die politischen Ursachen der Krawalle einzulassen. Starmer spricht nur von Kriminellen, die bestraft werden müssten, ohne auf politische Forderungen einzugehen. Er folgt damit dem üblichen Muster britischer Regierungen im Umgang mit Krawallen.
Die letzten schweren Unruhen, die das Land erschütterten, brachen im Sommer 2011 in London aus. Auslöser waren Proteste gegen übermässige Polizeigewalt gegenüber Schwarzen in einem strukturschwachen Viertel Ostlondons. Die Hintergründe der Proteste spiegelten reale politische Probleme – der ungleiche Polizeieinsatz, die relative Armut, der schwierige Einstieg Jugendlicher aus der Unterschicht in den Arbeitsmarkt nach der Finanzkrise. Doch auch der damalige konservative Premierminister David Cameron sprach nur von Kriminalität und antisozialem Verhalten, die hart bestraft werden müssten. Auch er hatte die Politik und die Bevölkerung geeint hinter sich.
Hartes Vorgehen gegen Randalierer
Die diesjährigen Unruhen dürften ähnlich enden wie jene von 2011. Damals herrschte mehrere Nächte lang Anarchie auf Londoner Strassen, die sich rasch in weitere Viertel und in einige andere Städte ausbreitete. Die Polizei war überfordert. Geschätzte 15 000 überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene randalierten. Über 2500 Geschäfte wurden laut einem Regierungsbericht geplündert, über 200 Familien mussten umgesiedelt werden, weil ihre Wohnungen abgebrannt wurden oder unbewohnbar wurden, fünf Personen verloren im Zuge der Unruhen ihr Leben.
Erst als die Regierung 9000 Polizisten aus dem ganzen Land zusammenzog und Ostlondon praktisch besetzte, konnte das Gewaltmonopol des Staates wiederhergestellt werden. Unterstützt wurde die Polizei durch die Justiz, welche die Täter in nächtlichen Sitzungen verurteilte. Über 2100 Personen wurden in der Folge verurteilt. Das Strafmass lag im Durchschnitt bei 17 Monaten Gefängnis; es war mehr als viermal so hoch wie bei ähnlichen Straftaten in früheren Jahren. Die meisten Verurteilungen erfolgten wegen Einbruchs und Diebstahls – das Motiv der Plünderungen hatte einen hohen Anteil an der damaligen Gewalt. Fast 90 Prozent der den Gerichten vorgeführten Randalierer waren jünger als 25 Jahre. Ebenso viele waren männlich, die meisten stammten aus ärmeren Vierteln und Bevölkerungsschichten.
Noch weiss man sehr wenig über die diesjährigen Randalierer in den überwiegend nordenglischen Städten. Abgesehen von politischen Aufwieglern gegen Einwanderer und Muslime dürfte es sich auch diesmal um einen grossen Anteil von Mitläufern, Unzufriedenen und gelangweilten Jugendlichen handeln, die sich von der Politik nicht repräsentiert fühlen und lange aufgestauter Wut ihren Lauf lassen. Viele dürften auch einfach der Versuchung des Moments nicht widerstehen können. Sie wären gut beraten, die Geschichte der Londoner Riots von 2011 zu studieren und zu Hause zu bleiben.
Die Politik ignoriert die Probleme
Als die Krawalle 2011 vorbei waren, konzentrierte sich die Politik auf den Wiederaufbau der verwüsteten Hauptstrasse des Londoner Viertels Tottenham und anderer Orte. Der traditionelle englische Geist der Nachbarschaftshilfe, der sich beim Aufräumen nach den Verwüstungen zeigte, wurde gefeiert. Die Innenministerin Theresa May versprach, die Polizei werde künftig bei Kontrollen Schwarzer mehr Zurückhaltung üben, um den Eindruck der Diskriminierung zu vermeiden. Analysen über Armut und soziale Vernachlässigung versandeten bald.
Die Gefahr ist gross, dass sich dieses Muster auch diesmal wiederholen wird. Das wäre ein Fehler. Die gegenwärtigen Unruhen haben einen klaren politischen Konnex. Der Unmut gegen die extrem starke Einwanderung der letzten Jahrzehnte ist vor allem in den strukturschwachen Regionen Nordenglands gross. Er hat schon dem vom politischen Establishment bekämpften Brexit-Referendum von 2016 zum Erfolg verholfen. Seither nahm der von der Regierung bewusst geförderte Einwanderungsdruck weiter erheblich zu. Verstärkend kommt in diesen strukturschwachen Regionen das verbreitete Gefühl der Vernachlässigung und des Vergessenwerdens durch die ferne nationale Politik in London hinzu. Es wäre eindeutig falsch, die Randale bloss auf einige rechtsextreme Hetzer und Rassisten zurückzuführen.
Der frühere konservative Premierminister Boris Johnson hatte dieses Gefühl wahrgenommen und 2019 in einen grossen Wahlsieg umgemünzt. Doch auch er nahm die Menschen und ihre Probleme im Norden nicht ernst und liess seinen grossspurigen Versprechungen keine Taten folgen. Die Strafe war eine katastrophale Wahlniederlage der Tories Anfang Juli. Eine der grössten Herausforderungen der neuen Labour-Regierung wird es sein, hier andere Akzente zu setzen, die bei den Bürgern auch wirklich ankommen.