Eine Frau hat dem Kulturminister Gennaro Sangiuliano den Kopf verdreht. Seit Tagen lastete die Affäre auf der Regierung von Giorgia Meloni. Am Freitagabend hat der Minister seinen Rücktritt eingereicht. Der Kämpfer gegen die linke «Kulturhegemonie» geht.
Es war Stoff für eine Seifenoper: Ein hohes Regierungsmitglied verliebt sich unsterblich in eine schöne Frau. Er kann nicht mehr ohne sie sein, will sie auch während der Arbeit an seiner Seite wissen und bietet ihr einen Job als persönliche Beraterin an – woraufhin die Sache auffliegt. Beamte aus seinem Ministerium machen ihren Chef auf mögliche Interessenkonflikte aufmerksam, die Ehefrau des Politikers entdeckt die Affäre und stellt ihn zur Rede.
Unter Tränen gesteht der Minister zur besten Sendezeit am Fernsehen seinen Fehltritt, bittet seine Gattin sowie die Regierung um Verzeihung und hofft auf Gnade. Diese wird ihm auf Zusehen gewährt, doch die schöne Frau, der er eben noch den Hof gemacht hat, ist tief verletzt. Sie wendet sich mit weiteren Details an die Öffentlichkeit, publiziert Dokumente und Tonaufnahmen und stellt laufend neue Enthüllungen in Aussicht.
«Sex, lies and videotapes» hätte als Titel für die Soap gepasst. Oder, wie die «Repubblica» vorschlug: «Postings, Videos und Popcorn». Letztgenanntes deshalb, weil die Story beste Kinounterhaltung versprach.
Die Häme ist ihm gewiss
Dabei handelte es sich um eine wahre Geschichte, ja um die grosse Spätsommeraffäre, die Italien seit Tagen in Atem hielt und sich vor einigen der schönsten Kulissen abspielte, die das Land zu bieten hat: Pompei, Polignano a Mare in Apulien, Taormina, Sanremo – wie Bilder belegen, die in den sozialen Netzwerken zirkulieren und deren Echtheit von niemandem bestritten wurde.
Im Zentrum standen zwei Personen: Gennaro Sangiuliano zum einen, 62 Jahre alt. Als Kulturminister in der Regierung von Giorgia Meloni war er oberster Dienstherr über das kulturelle Erbe Italiens, Chef von über zehntausend Beamten, von unzähligen Abteilungen, Aufsichtsbehörden, Museen von internationalem Rang. Dazu früherer Fernsehjournalist bei der RAI, Italiens öffentlichrechtlichem Sender, sowie Autor von Politbüchern, darunter Biografien von Donald Trump, Xi Jinping und Wladimir Putin.
Zum anderen Maria Rosaria Boccia, eine bis vor kurzem unbekannte 41-jährige Frau aus Pompeji mit abgeschlossenem Wirtschaftsstudium, inzwischen als «Kommunikatorin» und Verkäuferin von Hochzeitsmode tätig, wie die Medien berichten, und als Beraterin parlamentarischer Arbeitsgruppen in den Bereichen «korrekte Ernährung und mediterrane Diät».
Kennengelernt hatten sich der Minister und die Ökonomin vor einem Jahr bei der Präsentation in Pompeji, anlässlich welcher die Kandidatur der italienischen Küche für das Unesco-Welterbe angemeldet wurde.
Vieles lag auch nach Tagen medialen Trommelfeuers im Unklaren. Die Frage etwa, ob Sangiuliano die Reisen seiner Begleiterin mit öffentlichen Geldern oder aus seiner eigenen Tasche bezahlt hatte, wie er nicht müde wurde zu betonen; ob Boccia Zugang hatte zu vertraulichen Regierungsdokumenten; ob und inwiefern sich der Minister durch die Affäre überhaupt erpressbar gemacht hat.
Zuletzt wurde der Druck zu gross. Am Freitagabend hat Sangiuliano Regierungschefin Meloni seinen «unwiderruflichen Rücktritt» unterbreitet. Zum Nachfolger soll Alessandro Giuli, der jetzige Präsident des Maxxi in Rom, des nationalen Museums für die Künste des 21. Jahrhunderts, bestimmt werden.
Es ist der vorläufige Schlusspunkt unter eine Geschichte, die dem Minister vor allem eines eingetragen hat: Häme. Genüsslich listeten die Zeitungen alle seine tatsächlichen oder angeblichen früheren Fehler und Misstritte auf: dass er den Nationaldichter Dante Alighieri, der im 13. und 14. Jahrhundert gelebt hat, einmal als Erfinder rechter Politik bezeichnete; dass er das Geburtsjahr von Galileo Galilei nicht kannte; dass er den Times Square in London statt in New York verortete; oder dass er als Juror Bücher prämierte, die er offensichtlich noch gar nicht gelesen hatte.
Kämpfer gegen «kulturelle Hegemonie»
Für die Regierung von Giorgia Meloni kommt die Affäre zur Unzeit. Die Ministerpräsidentin steht vor schwierigen Haushaltsdebatten und möchte eigentlich ihre Grossreformen voranbringen. Einen grösseren Umbau der Regierung will sie unter allen Umständen vermeiden. Denn ein solcher dürfte viel Energie absorbieren und die Spannungen in der Koalition sichtbar machen, die Meloni zuletzt mit Mühe einzudämmen versucht hat.
Sangiuliano war für die Regierungschefin einer ihrer loyalsten und wichtigsten Kollegen. Ihm hatte sie die Aufgabe übertragen, die vermeintliche «kulturelle Hegemonie» der Linken zu brechen. Will heissen: in der Kulturpolitik nach Jahren sozial- und christlichdemokratischer Dominanz die Richtung zu wechseln.
Tatsächlich scheinen sich in der Vergangenheit innerhalb des Ministeriums einige politisch monochrome Fürstentümer gebildet zu haben mit grosszügig entlöhnten Chefs und Entourage – und mit der Konsequenz, dass die Kulturbürokratie, der selbst die Sozialdemokraten den Kampf angesagt haben, immer nur noch grösser geworden ist. Reformen, so sagen Insider, habe es zwar gegeben, aber sie hätten in der Regel die Peripherie betroffen, nie den Wasserkopf in Rom.
Sangiuliano hatte seit seinem Amtsantritt an einigen Stellen Leute ausgewechselt und organisatorische Veränderungen genommen. Doch selbst ihm wohlgesinnte Mitarbeiter sagen, dass er dabei zu zögerlich und zu wenig entschlossen vorgegangen sei, um einen echten Wandel herbeizuführen. Bemängelt wird ausserdem, dass er Spitzenpositionen vor allem mit bürgerlichen Journalisten besetzt habe, Leuten, die über zu wenig Erfahrung in einer grossen Administration verfügten.
Vor allem aber schien der Kulturminister zu wenige ausgefuchste Politprofis an seiner Seite zu haben, die die Brisanz der Affäre mit der «dama bionda», wie die Medien Maria Rosaria Boccia nennen, frühzeitig erkannt und ihn entsprechend beraten hätten.







