Die chinesischen Streitkräfte führen in der Taiwanstrasse eine rätselhafte Übung durch. Sie zeigt, dass Chinas Militär trotz «Säuberungen» an der Spitze handlungsfähig ist.
Regelmässig führt Chinas Volksbefreiungsarmee Grossmanöver in der Taiwanstrasse und rund um die Insel Taiwan durch. Seit dem Besuch der damaligen Speakerin des amerikanischen Repräsentantenhauses Nancy Pelosi in Taipeh im August 2022 hielt Peking vier solche Übungen mit grossen Flottenverbänden ab.
Peking präsentierte diese Manöver, bei denen zum Teil mit scharfer Munition geübt wird, immer als Reaktion auf angebliche Provokationen der taiwanischen Seite: Nach dem Besuch von Pelosi war es ein Zwischenstopp der damaligen taiwanischen Präsidentin Tsai Ing-wen in den USA im März vergangenen Jahres, dann die Amtseinsetzung des neuen Präsidenten Lai Ching-te diesen Mai und Lais Rede zum taiwanischen Nationalfeiertag im Oktober. Immer begleiteten laute Propagandasalven die militärischen Aktivitäten.
Nicht so beim Grossmanöver, das seit Montag stattfindet. Taiwans Verteidigungsministerium vermeldet einen starken Anstieg der militärischen Aktionen Chinas, setzt seine Truppen in Alarmbereitschaft – und Peking schweigt.
Glaubt man den taiwanischen Angaben, so handelt es sich beim chinesischen Aufgebot um die grösste Kriegsflotte seit der Krise in der Taiwanstrasse von 1996. Damals hatte Peking versucht, vor den ersten freien Präsidentschaftswahlen in Taiwan das Stimmvolk einzuschüchtern.
Manöver in einem riesigen Gebiet vor der chinesischen Küste
Rund 90 Schiffe der chinesischen Marine und Küstenwache sollen laut der Nachrichtenagentur Reuters, die sich auf ungenannte Beamte im taiwanischen Sicherheitsapparat berief, am Dienstagmorgen im Einsatz gewesen sein. Die Einheiten sollen über ein grösseres Gebiet verteilt sein und nicht in einem engen Ring um die Insel Taiwan, wie bei früheren Grossmanövern.
An einer Pressekonferenz erklärte ein hochrangiger Geheimdienstoffizier im taiwanischen Verteidigungsministerium, dass die Volksbefreiungsarmee mit dieser breiten Aufstellung zu signalisieren versuche, dass sie fähig sei, bei einem Konflikt Streitkräfte anderer Länder daran zu hindern, Taiwan zu Hilfe zu kommen.
Der genaue Umfang des chinesischen Manövers bleibt im Moment unklar. Die Zahlen im offiziellen täglichen Briefing des taiwanischen Verteidigungsministeriums sind deutlich tiefer als jene, die von taiwanischen Beamten kolportiert werden: Demnach wurden am Dienstag 21 und am Mittwoch 19 Schiffe der chinesischen Marine und Küstenwache in Gewässern rund um Taiwan gesichtet.
Der Unterschied könnte damit zu erklären sein, dass Taiwan zusätzlich Informationen von anderen Ländern erhalten hat, weil sich das Manöver über ein grösseres Gebiet erstreckt, als Taiwan selber überwachen kann. Am Montag hatte Peking sieben Flugverbotszonen deklariert, die sich über mehr als 1500 Kilometer vor der Küste der Provinzen Fujian und Zhejiang erstrecken. Solche Zonen sind meist ein Zeichen, dass Militärmanöver bevorstehen.
Seither geben sich chinesische Beamte aber zugeknöpft: Man ergreife die «notwendigen Massnahmen», um die Souveränität des Landes zu verteidigen, und werde «separatistische» Aktivitäten nicht dulden, hiess es am Mittwoch aus Peking lediglich.
Grossmanöver sind der «neue Normalzustand»
Bei der Beurteilung des Manövers müsse man sich die Entwicklung der letzten Jahre vor Augen führen, sagt Christopher Sharman, der Direktor des China Maritime Studies Institute am U. S. Naval War College: «Seit dem Besuch von Nancy Pelosi wurden die chinesischen Manöver mit jedem Mal grösser und komplexer.»
So seien im Spätsommer 2022 14 Schiffe der chinesischen Marine im Einsatz gewesen, beim Manöver vor knapp zwei Monaten waren es 34 Einheiten der Marine und Küstenwache. Und Chinas Luftwaffe überfliege fast täglich die Mittellinie in der Strasse von Taiwan, was sie vor dem Sommer 2022 praktisch nie getan habe, sagt der ehemalige amerikanische Marineattaché in Peking. Es herrsche seither ein «neuer Normalzustand».
Dass die chinesische Militärführung das jüngste Manöver nicht angekündigt und mit einem gut klingenden Namen versehen habe (die beiden vorherigen Übungen dieses Jahr hiessen Joint Sword 2024 A und B), dürfe man nicht überbewerten. «Peking will damit seine Absichten vertuschen und die internationale Aufmerksamkeit verringern», erklärt Sharman. Was zähle, sei, dass die Volksbefreiungsarmee mit jedem Manöver Erfahrung sammle.
Auch der Zeitpunkt des Manövers ist für Sharman von Bedeutung. Im Dezember sind die Gewässer um Taiwan häufig von Stürmen und hohem Wellengang geprägt – lange ging man davon aus, dass China in den Wintermonaten vor einem Angriff auf Taiwan zurückschrecken würde. «Manch ein chinesischer Seemann dürfte im Moment mit Seekrankheit kämpfen», sagt Sharman, «aber die Marine der Volksbefreiungsarmee kann demonstrieren, dass sie ganzjährig einsatzbereit ist.»
Laut taiwanischen Angaben war das chinesische Manöver seit langem in Planung, seit mehr als zwei Monaten seien die konkreten Vorbereitungen gelaufen. Darum könnte der Adressat des Manövers weniger Taiwan, sondern die USA sein – ein Warnruf an die sich konstituierende Regierung von Donald Trump, die ihre Taiwan-Politik erst noch genau ausformulieren muss.
Korruptionsfälle lähmen die Volksbefreiungsarmee nicht
Für Sharman zerstreuen die regelmässigen Grossmanöver Spekulationen, dass die Volksbefreiungsarmee nach wiederholten Korruptionsfällen in den obersten Chargen operativ gelähmt sein könnte. Erst vor zwei Wochen wurde der Armeeführer Admiral Miao Hua wegen schwerer «Disziplinarverstösse» suspendiert – was Korruption bedeutet.
Miao war Mitglied der zentralen Militärkommission, dem höchsten verteidigungspolitischen Gremiums Chinas, das direkt dem Partei- und Staatschef Xi Jinping untersteht. «Natürlich schickt ein Korruptionsfall auf dieser Ebene Schockwellen durch den Militärapparat», sagt Sharman. Und nun gerieten auch enge Vertraute von Miao ins Visier der Korruptionsjäger, etwa Verteidigungsminister Dong Jun. Ein Bericht der «Financial Times», wonach gegen Dong bereits Untersuchungen laufen sollen, wurde vom Verteidigungsministerium bisher vehement dementiert.
Auffallend ist für Sharman, dass die in der zentralen Militärkommission verbliebenen Generäle entweder Kampferfahrungen aus dem kurzen Krieg mit Vietnam 1979 hätten oder im Kommando der Zentralen Militärregion gedient hätten. Dieses ist für Taiwan zuständig.
«Xi Jinping behält also jene Generäle um sich, deren Wissen in einem Konflikt um Taiwan besonders wichtig wären», folgert Sharman. Denn Xi habe klargemacht, dass er militärische Optionen für eine Eroberung Taiwans haben wolle. Regelmässige Grossmanöver helfen, diese Optionen zu erarbeiten.