Die Regierung von Donald Trump hat angekündigt, dass sie ihre Razzien gegen illegal eingereiste Migranten in Chicago beginnen werde. Nun schicken manche Familien ihre Kinder aus Angst nicht mehr zur Schule, einige Erwachsene bleiben der Arbeit fern.
Pilsen ist eines der typischen Latino-Viertel in Chicago. Normalerweise würde es an diesem aussergewöhnlich lauen und sonnigen Januarnachmittag die Bewohner nach draussen ziehen. Aber die Trottoirs sind menschenleer. Die Leute haben Angst. Seit Sonntag führen Agenten der Polizei- und Zollbehörde ICE in Chicago auf der Suche nach illegal eingereisten Migranten Razzien durch. Die Regierung von Präsident Trump hat erklärt, Chicago sei «Ground Zero» für die angekündigten Massenabschiebungen.
«Warum machen sie die Razzien nicht in den Gefängnissen?»
Geschätzte 300 000 Sans-Papiers leben in der Millionenstadt. Bis vor kurzem war das kaum ein Thema. Chicago gilt als «sanctuary city». Das heisst, solange jemand nicht straffällig wird, kümmert sich die Polizei nicht um den Aufenthaltsstatus der Bewohner. Aber seit dem neuerlichen Amtsantritt von Trump, der versprochen hat, alle «Illegalen» zurückzuschaffen, weht ein anderer Wind. Eine Kollision zwischen der republikanischen Regierung in Washington und dem demokratischen Gouverneur des Gliedstaats Illinois, J. B. Pritzker, sowie dem linken Bürgermeister von Chicago, Brandon Johnson, zeichnet sich ab.
«Das Problem ist, dass alles so undurchsichtig ist», sagt Maria Perez von der Non-Profit-Organisation Southwest Collective. «Einmal heisst es, die Beamten hätten es nur auf kriminelle Immigranten abgesehen, aber dann sagt die Pressesprecherin des Weissen Hauses, aus ihrer Sicht seien alle Ausländer ohne gültige Dokumente kriminell. Damit schürt man eine diffuse Angst.» Perez hätte nichts dagegen, wenn man die Kriminellen aufgreifen würde. Aber sie befürchtet, dass das nur ein Vorwand oder ein erster Schritt ist. «Wenn es ihnen ernst ist, warum gehen sie dann nicht in die Gefängnisse und deportieren die wirklich schweren Verbrecher?»
Nicht einmal über die Zahl der Festgenommenen herrscht Klarheit. Am Dienstag verkündete ICE auf Social Media, seit Sonntag habe man landesweit mehr als 2000 Papierlose verhaftet – in Chicago allein mehr als 100 –, ohne Angabe, wie viele von ihnen Kriminelle waren. Unter der Biden-Regierung waren es im letzten Jahr landesweit etwa 310 pro Tag gewesen. Wenn es wirklich «nur» 2000 seit Sonntag waren, wäre das nicht völlig aussergewöhnlich. Aber vielleicht waren es auch viel mehr.
Die Kinder gehen sicherheitshalber nicht zur Schule
An diesem Morgen verteilt Maria Perez Nahrungsmittel an Hilfsbedürftige. Sie erhält diese gratis von den Supermärkten, weil das Haltbarkeitsdatum knapp abgelaufen ist. Eine der Empfängerinnen ist Rosa, die ihren Familiennamen vorsichtshalber nicht nennen will. Sie wohnt im unteren Stock eines schäbigen Häuschens in Garfield Ridge. Vor drei Jahren ist sie mit ihrem Mann und den drei Kindern aus Venezuela gekommen. Sie hat Asyl beantragt und wartet nun auf den Bescheid. Die drei Kinder von sechs, sieben und elf Jahren rennen durch die Wohnung. Die Eltern haben Angst, sie zur Schule zu schicken; nun sind sie seit Montag zu Hause. Vorsichtshalber gehen sie nicht einmal zum Spielen nach draussen.
Perez gibt Rosa einen Zettel mit Empfehlungen, wie sie sich verhalten soll, wenn ein ICE-Agent an die Türe klopft. «Du bist nicht verpflichtet, die Türe zu öffnen», erklärt sie. «Wenn er einen richterlich unterschriebenen Durchsuchungs- oder Haftbefehl hat, soll er ihn unter der Türe hindurchschieben. Dann musst du ihn hereinlassen. Aber du bist nicht verpflichtet, Fragen zu beantworten. Du kannst ihm sagen, du möchtest zuerst mit einem Anwalt sprechen.»
«Mein Mann arbeitet in der Fabrik», sagt Rosa. «Es ist gefährlich. Zu Hause ist er einigermassen in Sicherheit, aber auf dem Arbeitsweg kann er jederzeit festgenommen werden.» Aber sie haben keine Wahl, sie sind auf den Lohn angewiesen. Rosa selbst hat bis vor kurzem als Uber-Fahrerin gearbeitet, aber nun muss sie wegen der Kinder zu Hause bleiben. Der Lohn des Mannes reicht nicht zum Überleben, sie sind auf die Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Ihre grosse Sorge ist, dass die Familie getrennt wird. «Deshalb fahren wir am Morgen alle zusammen mit meinem Mann zur Fabrik, und am Abend holen wir ihn ab», sagt sie. «Jeden Tag haben die Kinder Angst, dass sie ihren Vater nicht wiedersehen.»
Sie selbst erschrecke jedes Mal, wenn das Telefon klingle oder jemand an die Türe klopfe, sagt sie.
Werden sie ausgeschafft, gehen sie ins Nichts zurück
Sie erzählt von einer Cousine, die am Montag festgenommen und gleich nach Kolumbien ausgeschafft worden sei; obwohl sie nie straffällig geworden sei. «Sie war in einem Laden, als die Beamten kamen und ihre Dokumente verlangten. Sie hatte nur die Bestätigung ihres Chefs dabei, dass sie arbeitet. Das reiche nicht, sagten sie und nahmen sie mit.»
Rosa sagt, sie habe von Anfang an Angst gehabt, in die USA zu gehen. Aber als ihr Mann seine Arbeitsstelle verlor, verkauften sie das Auto und das Haus, um die Reise hierher zu bezahlen. «Wenn wir jetzt deportiert werden, haben wir nichts mehr in Venezuela. Nicht einmal eine Familie.» Denn ihre Eltern sind nach Kolumbien gegangen.
Corina ist eine Freundin von Rosa und auf Besuch. Sie ist 36 und stammt ebenfalls aus Venezuela. Sie lebt als Alleinerziehende mit ihren zwei Kindern, einem 6- und einem 16-jährigen Jungen, in der Nähe. Der Ältere besucht eine Highschool. Die Mutter hat zwar Angst, denn es ist ein weiter Schulweg, aber er möchte keinen Tag in der Klasse verpassen. «Er ist ehrgeizig», sagt Corina. Sie selbst ist krank – Krebs – und auf einen Herzschrittmacher und Medikamente angewiesen. Sie hat eine Chemotherapie hinter sich und hofft, dass ihre Situation sie vor einer Ausweisung schützen wird.
«Die Migranten nehmen niemandem Jobs weg»
Shelly Ruzicka arbeitet für die NGO Arise Chicago, die sich um die Rechte von Arbeitern kümmert, insbesondere von solchen ohne Arbeitsbewilligung. Die Politologin weist darauf hin, wie sehr eine Stadt wie Chicago auf diese Schwarzarbeiter angewiesen sei. «Es ist ja nicht so, dass diese Migranten den Einheimischen die Jobs wegnehmen, was immer wieder suggeriert wird», sagt sie. «Erstens ist die Arbeitslosenquote tief, die Betriebe suchen verzweifelt nach Mitarbeitern. Zweitens sind die Amerikaner oft gar nicht bereit, die Arbeiten zu verrichten, die von undokumentierten Migranten zu einem Minimallohn erledigt werden. Würde man sie alle deportieren, bräche die Wirtschaft zusammen.»
Perez und Ruzicka sind sich einig, dass millionenfache Abschiebungen weder machbar noch ethisch vertretbar noch für irgendwen nützlich wären. Sie argumentieren zwar eher aus Sicht der Betroffenen, liegen damit aber auf derselben Linie wie viele Ökonomen und Unternehmer, die vor den katastrophalen Folgen solcher Massnahmen für die Wirtschaft warnen.