Der Kreml will offenbar noch vor der bevorstehenden Präsidentenwahl einen Prestigeerfolg erzielen. Moskau zählt dabei auf die Offensive in der Donbass-Region. Aber die russischen Verluste sind gewaltig.
Seit bald vier Monaten verteidigen die Ukrainer die Frontstadt Awdijiwka gegen eine russische Angriffswelle nach der anderen. Sie haben dabei im Umland wichtige Verteidigungsstellungen aufgeben müssen, aber die Invasoren nicht auf das Stadtgebiet vordringen lassen. Das hat sich nun geändert. In den vergangenen Tagen konnten sich russische Sturmtruppen am Nord- und am Südrand der weitgehend zerstörten Industriestadt festsetzen.
Ukrainische Kriegsberichterstatter haben deshalb am Sonntag die Alarmglocken schrillen lassen. Der für seine präzisen und gegenüber der Führung in Kiew schonungslosen Analysen bekannte Reporter Juri Butusow sprach von einer kritischen Situation. Die Verteidiger Awdijiwkas brauchten angesichts der feindlichen Übermacht dringend Verstärkung durch frische Kräfte und mehr Munition. Ähnlich äusserte sich der Reporter Andri Zaplijenko; seiner Meinung nach entscheidet sich das Schicksal der Stadt in diesen Tagen.
Von drei Seiten belagert
Awdijiwka ist ein Vorort der bereits seit 2014 russisch kontrollierten Regionalhauptstadt Donezk und hatte vor dem Krieg gut 30 000 Einwohner. Heute liegt Awdijiwka grösstenteils in Ruinen, nur wenige Zivilisten harren noch aus. Das Militär hingegen hat in der von drei Seiten umschlossenen Stadt einige seiner stärksten Verbände stationiert, darunter die mit amerikanischen Bradley-Schützenpanzern ausgerüstete 47. Brigade und die für ihre schlagkräftige Drohnen-Einheit bekannte 110. Brigade. Insgesamt sollen an der Verteidigung etwa 20 000 Militärangehörige beteiligt sein.
Während Monaten gelang es den Ukrainern, die russischen Angriffe zu parieren, indem sie die feindlichen Panzerkolonnen bereits früh auf offenem Feld beschossen. Von Nutzen sind dabei starke Verteidigungsstellungen, beispielsweise das Gelände der früheren Koksfabrik, des einstigen Wirtschaftsmotors der Stadt. Trotzdem konnten die Russen den Belagerungsring immer enger ziehen. Mit den jüngsten Vorstössen beginnt nun wohl eine neue Phase. Es ist mit verlustreichen Strassenkämpfen zu rechnen.
Wie die Karte zeigt, drangen die Russen von zwei Seiten je etwa anderthalb Kilometer vor, bis sie städtisches Gebiet erreichten. Im Süden wateten sie durch einen Abwassertunnel, nahmen das einst vornehme Parkhotel «Kaiserjagd» ein und stiessen von dort zum Stadtrand vor. Auf Überwachungsvideos der Ukrainer ist zu sehen, wie in den dortigen Strassenzügen mit Kamikaze-Drohnen Jagd auf die Eindringlinge gemacht wird.
Im Norden hatten die Russen lange versucht, die Stadt weiträumig zu umgehen und auf diese Weise einzukesseln. Weil das nicht gelang und sie an der gut zu verteidigenden Bahnlinie abgewehrt wurden, versuchen sie es nun mit einem Frontalangriff, vorbei an der Koksfabrik und einer 60 Meter hohen Abraumkippe, die einst bei der Kohleförderung entstand und nun als militärische Stellung dient. Mit dem erfolgreichen Vorstoss sind die Russen jetzt nur noch etwa anderthalb Kilometer vom Stadtzentrum und der ukrainischen Hauptversorgungsroute entfernt.
Trotzdem steht der Fall Awdijiwkas wohl nicht unmittelbar bevor. Offenbar haben sich in den beiden Wohnvierteln erst kleinere Einheiten festgesetzt. Die Ukrainer haben immer noch die Chance, sie von dort zurückzuschlagen. Zudem sind nicht nur die Verteidiger durch die Kämpfe zermürbt, sondern auch die Angreifer.
In russischen sozialen Netzwerken häufen sich die Klagen über schlechte Führung, Munitionsmangel und ungenügenden Schutz vor den ukrainischen Kamikaze-Drohnen. In einem vom ukrainischen Geheimdienst abgehörten Telefonat schimpft ein russischer Soldat darüber, dass nicht einmal etwas unternommen werde, um die seit mehr als einem Monat ausserhalb Awdijiwkas liegenden Leichen zu bergen. Man überlasse sie den Füchsen zum Frass.
Zweifellos hat Russland in der Schlacht um Awdijiwka bereits Tausende von Todesopfern erlitten, aber genaue Zahlen sind nicht bekannt. Einfacher zu quantifizieren sind die Verluste an Material, da sie auf Drohnenvideos gut sichtbar sind. Ein Mitarbeiter der Analyse-Plattform «Oryx» kommt auf dieser Grundlage zum Schluss, dass Russland in den Kämpfen um Awdijiwka seit dem 9. Oktober 203 Kampfpanzer sowie 342 Schützenpanzer und Gefechtsfahrzeuge verloren hat. Das ist das 13-Fache der dokumentierten ukrainischen Verluste.
Wie die untenstehende Grafik zeigt, wurden zu Beginn der Operation im Herbst besonders viele russische Panzerfahrzeuge zerstört, worauf die Angriffe vorübergehend abebbten. Seit Mitte Dezember sind sie jedoch wieder voll entbrannt, was sich in Woche für Woche hohen Verlustzahlen spiegelt.
Moskau opferte dem Kampf um eine Kleinstadt somit eine Menge von Kampfpanzern, die den Gesamtbestand mittelgrosser europäischer Armeen übersteigt. Das ergibt militärisch keinerlei Sinn. Präsident Putin scheint jedoch der Überzeugung zu sein, sich das leisten zu können.
Vor wenigen Tagen betonte er bei einem öffentlichen Auftritt, wie wichtig die Front bei Awdijiwka sei. Zugleich pries er eine Soldatengruppe, die heldenhaft 19 Häuser eingenommen habe. Die Vermutung liegt nahe, dass der Kreml vor den Wahlen Mitte März unbedingt einen Prestigeerfolg erringen will. Putins Wiederwahl steht zwar ausser Frage, aber eine russische Flagge im Zentrum von Awdijiwka würde den Kreml-Propagandisten die Arbeit erleichtern.