Europa kann sich nicht mehr auf den grossen Bruder Amerika verlassen. Was heisst das für seine Verteidigung?
Wie viel braucht es, bis wir Europäer bereit sind, einen scharfen Blick in den Spiegel zu werfen? Viel, jedenfalls wenn es um die Verteidigung des Kontinents geht. Die Vorstellung, sie den Amerikanern zu überlassen, hat sich im letzten Jahrzehnt kaum bewegt – obwohl die Welt jetzt eine andere ist.
2018 am Nato-Gipfel in Brüssel half es wenig, dass Präsident Trump sagte, er werde «sein eigenes Ding machen», wenn die Europäer nicht mehr in ihre Verteidigung investierten. Die Regierungschefs verstanden das zwar als Austrittsdrohung, aber sie nahmen Trump nicht ernst.
Keine vier Jahre später überfiel Putin die Ukraine. Die Europäer bieten ihm seither zwar die Stirn, unterstützen das angegriffene Land mit Geld und Waffen und nehmen Flüchtlinge auf. Doch unterdessen sitzt Joe Biden im Weissen Haus, ein standfester Transatlantiker. So bleibt verteidigungspolitisch vieles beim Alten. Trotz der Rede von der «Zeitenwende».
In die Selbstverteidigung jedenfalls wird wenig investiert. Nur 11 der 31 Nato-Staaten geben heute die zugesicherten 2 Prozent des Inlandprodukts für die Verteidigung aus. Zwar wenden diese Staaten zusammen dreimal so viel Geld fürs Militär auf wie die Russen. Aber es wird falsch investiert: Von der gemeinsamen Rüstungsbeschaffung und der militärischen Aufgabenteilung – Voraussetzungen für die Verteidigungsfähigkeit – sind die Europäer so weit entfernt wie je.
Auf die USA wetten wird riskant
Doch jetzt steht wieder Trump vor der Tür und poltert. Gefragt, ob er den Europäern bei einem Angriff der Russen beispringen würde, will er einem Spitzenpolitiker gesagt haben: «Ich würde euch nicht verteidigen. Ich würde sie sogar ermutigen, mit euch zu machen, was zum Teufel sie wollen. Ihr müsst endlich zahlen!» Mit dem letzten Satz jedenfalls hat er recht.
Eigentlich muss man ihm für seinen Ausfall sogar dankbar sein. Denn er macht klar: Es ist unvernünftig, sich in Zukunft einfach auf den grossen amerikanischen Bruder zu verlassen. Und das gilt, ob Trump der nächste Präsident wird oder nicht.
«Politico» macht dazu die richtige Rechnung: Es wäre verrückt, schreibt das Portal, wenn Europa seine Sicherheit in Zukunft alle vier Jahre in die Hände von 50 000 amerikanischen Wechselwählern legen würde. Die entscheiden nämlich, ob ein Isolationist oder ein Transatlantiker ins Weisse Haus einzieht. Europa muss also strategisch autonom werden.
Nur, schafft es das? Der politische Diskurs jedenfalls verändert sich. Bei dem Treffen des sogenannten Weimarer Dreiecks (Polen, Deutschland, Frankreich) am Montag war die Diagnose einhellig: Mit Putin im Kreml und Trump vor dem Weissen Haus muss die EU auch eine Verteidigungsunion werden. Nicht als Alternative zur Nato, aber als deren starkes europäisches Standbein. Die drei Länder sehen sich denn auch als Vorreiter der Verteidigung in der Union und als Klammer zwischen Ost und West.
Den strategischen Kompass neu richten
Doch realpolitisch sind viele Herausforderungen ungelöst. Nur schon die drängendste Aufgabe: die Abwehr der Niederlage der Ukraine. In deren Notwendigkeit sind sich Paris und Berlin zwar grundsätzlich einig, aber der Beitrag der Franzosen ist beschämend klein.
Das Trio will auch die Rüstungspolitik koordinieren. Doch die grossen Projekte, das neue Kampfflugzeug, der neue Kampfpanzer, kommen nur schleppend voran. Immer wieder stehen nationale Wirtschaftsinteressen im Weg. Und auch die Frage, ob die EU Geld aufnehmen soll, um aufzurüsten, spaltet – wen wundert es – Franzosen und Deutsche.
Schliesslich ist eine strategische Autonomie Europas nur dann vollständig, wenn Europa über seinen eigenen Atomschirm verfügt. Doch davon ist es technologisch und politisch weit entfernt – und bleibt von Amerika abhängig. Und doch stimmt es: Der strategische Kompass muss schleunigst neu gerichtet werden. Das gilt für alle Europäer, also auch die Schweiz.