Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester treffen im Abschlusskonzert des 16. Concours Géza Anda auf drei überraschend unterschiedliche Finalisten. Die Entscheidung der Jury um Martha Argerich ist dennoch eindeutig.
Kaum jemand liebt sie, doch alle wissen: Wettbewerbe können das entscheidende Sprungbrett sein für die noch junge Karriere eines Künstlers. Die Schweiz hat gleich mehrere solcher Sprungbretter im Angebot. Neben dem Concours de Genève gehört der alle drei Jahre in Zürich stattfindende Concours Géza Anda zu den renommiertesten. Die Bedeutung der Schweizer Wettbewerbe dürfte in jüngster Zeit sogar noch gewachsen sein, seit der ARD-Musikwettbewerb von Sparplänen bedroht ist und der Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb vom Putin-Regime vereinnahmt wurde.
Anders als in Genf, das wechselnde Instrumente und Komposition in den Mittelpunkt stellt, beschränkt man sich in Zürich auf das Klavier – dem Namensgeber, dem ungarischen Pianisten Géza Anda, gemäss, der 1976 in Zürich starb. Die Anforderungen an die maximal 32 Jahre alten Bewerber sind hoch. In den vier Ausscheidungsrunden wird nicht nur ein breites Solo-Repertoire verlangt, die Kandidaten müssen überdies bei einer Mozart-Runde Stilgefühl beweisen und sich im Finale in Solokonzerten mit grossem Orchester bewähren. In diesem Jahr erreichten der Lette Daumants Liepins und die beiden Russen Dmitry Yudin und Ilya Shmukler die Endrunde. Die drei Pianisten hätten kaum unterschiedlicher sein können.
Feinsinn und Pranke
Daumants Liepins präsentiert sich mit dem Tonhalle-Orchester unter Paavo Järvi in Beethovens 4. Klavierkonzert als brillanter Feinzeichner. Sein Anschlag wirkt stellenweise fast schwerelos, kaum ein Detail entgeht seinem Blick, die ganze Herangehensweise wirkt frisch, flink, ein bisschen introvertiert, aber bereits eigenständig. Das bei diesem Konzert durchaus heikle Zusammenspiel gelingt präzise. Wer allerdings Ende Mai in der Tonhalle die souveräne Wiedergabe durch Hélène Grimaud erlebt hat, hört auch, was noch fehlt: Liepins verfügt nur über eine recht enge dynamische Bandbreite, und wenn es bei Beethoven richtig zur Sache geht, wird sein Ton im Forte monochrom.
Dass er kein Tastenlöwe, sondern ein subtiler Analytiker ist, unterstreicht Liepins in der obligatorischen Zugabe, der Etüde «2 Lines» von Toshio Hosokawa, der auch Teil der Jury war. Liepins zaubert hier eine wahre Kalligrafie auf die Tasten, die beiden titelgebenden Linien entfalten sich, unabhängig voneinander, immer reicher, bevor sie sich ins Sphärische verflüchtigen. Bei Dmitry Yudin klingt dasselbe Stück völlig anders: viel abstrakter, eher betrachtend als emotional involviert. Einen ähnlichen Eindruck hinterlässt er zuvor schon in Bartóks 2. Klavierkonzert: Yudin ist mit 23 Jahren bereits ein überragender Techniker, den weder die perkussive Rhythmik noch die langen motorischen Passagen zu jenem «Gehämmer» verleiten, für das dieses Konzert berüchtigt ist. Yudins Persönlichkeit als Interpret wird dagegen wenig greifbar.
Unstrittige Entscheidung
Ganz anders wiederum Ilya Shmukler, wie Liepins 29 Jahre alt. Auch er verfügt über die sprichwörtliche «russische Pranke», und wo er sie einsetzt, klingt Edvard Griegs Klavierkonzert fast wie Rachmaninow. Järvi und das Orchester lassen sich von dem Feuerwerk merklich anstecken. Doch Shmukler beherrscht auch das Gegenteil: die Zurücknahme ins Leise, Verinnerlichte. Welche Delikatesse des Anschlags legt er dann an den Tag! In den nuancierten Lichtwechseln wird sogar die so schwer zu treffende nordische Spielart des Impressionismus hörbar, den Grieg vorwegnahm.
Die hochkarätige Jury, der unter anderem Martha Argerich, Lucas Debargue und Robert Levin angehörten, erkennt Shmukler am Ende den ersten Preis zu – er ist zweifellos die vielversprechendste Künstlerpersönlichkeit unter den dreien. Yudin und Liepins teilen sich ex aequo den zweiten Platz.