Je länger die Demokraten zuwarten, umso eher schwinden die Chancen für einen neuen Kandidaten. Und das ausgerechnet gegen einen Donald Trump, der nach dem Attentat auf einer Welle der Sympathie reitet.
Nach seinem katastrophalen Auftritt in der Debatte gegen Donald Trump am 27. Juni richteten sich alle Augen der politisch interessierten Welt auf Präsident Joe Biden. Jeder Schritt, jedes Wort wurde von Millionen Bürgern, Journalisten, Wirtschaftsführern, Finanzinvestoren, Lobbyisten und Politikern scharf beobachtet, bewertet und auf die Frage hin analysiert, ob er es noch kann: vier weitere Jahre für den ältesten Präsidenten in der amerikanischen Geschichte. Trotz härtestem Widerstand Bidens und dem Ausbleiben weiterer Fauxpas im Ausmass dieser Debatte schien sich die Überzeugung in der Öffentlichkeit und der Demokratischen Partei von Tag zu Tag zu festigen: Er kann es nicht mehr.
Immer mehr Abgeordnete, Senatoren, selbst ein Schwergewicht wie die frühere langjährige Speakerin im Abgeordnetenhaus, Nancy Pelosi, rückten allmählich von Bidens Kandidatur ab. Das Vertrauen schwand, dass die Partei mit dem gebrechlichen Präsidenten im Wahlkampf gegen seinen nicht viel jüngeren, aber kraftstrotzenden Herausforderer Trump bestehen kann.
Die Zeit für einen Wechsel drängt
Trump verhielt sich taktisch ungewöhnlich diszipliniert, indem er seine Medienpräsenz kontrollierte, so dass sich die Qualen des Konkurrenten in voller Herrlichkeit in den Medien abspielen konnten. Doch diese Woche sollte wieder ganz Trump gehören. Der Konvent der Republikanischen Partei in Milwaukee wird ihren Anführer vier Tage lang jeweils zur Primetime der Fernsehanstalten feiern. Das wäre genau der richtige Moment für die Demokraten gewesen, Bidens Verzicht bekanntzugeben und eine oder mehrere Alternativen zu präsentieren. Neue Kandidaten hätten Trump die Show gestohlen, Hoffnung für ihre Wähler verbreitet und die lähmende Ungewissheit verkürzt. Die Wahl ist schon am 5. November; jeder Tag, an dem sich eine neue Kandidatin oder ein neuer Kandidat den Wählern präsentieren könnte, wäre Gold wert.
Doch nichts dergleichen geschah. Statt eines neuen Hoffnungsträgers der Demokraten dominiert nun Trump die Medien als strahlender Überlebender eines Mordanschlags. Während die Demokraten weiterhin zerrissen und unschlüssig dastehen, stellt sich die Republikanische Partei geschlossen hinter ihren Kandidaten. Es gibt keine Misstöne, keine Zweifel. Ausgerechnet Trump ruft grosszügig zu Einigkeit von Partei und Nation auf. Selbst seine letzte Widersacherin, Nikki Haley, wird am Konvent auftreten und ihren Sympathisanten signalisieren, dass eine Stimme für Trump in Ordnung ist.
Schlimmer könnte es für die Demokraten kaum kommen. Doch in ihren Reihen gibt es zumindest einen, der diese Entwicklung mit grosser Genugtuung verfolgt: Joe Biden. Dank dem Schuss eines zwanzigjährigen Einzelgängers auf Trump beherrschen die Ereignisse vom Samstag alle Medien. Die Zweifel am demokratischen Präsidentschaftskandidaten und der Widerstand gegen ihn sind völlig in den Hintergrund gerückt. Selbst in der Partei sind die Kritiker stiller geworden.
Die Demokraten nähern sich der Kapitulation
Biden kann sich dank dem Attentat in seiner Lieblingsrolle präsentieren, für die er vor vier Jahren zum Präsidenten gewählt wurde: Als altväterlicher Versöhner, der selbst für seinen schärfsten Rivalen, den er kurz zuvor noch als Diktator beschimpft hat, betet. Als Präsident, der die Nation zu Einigkeit und Mässigung aufruft. Diese Rolle hat er am Wochenende gut erfüllt. Kann man so einen Mann stürzen? Ausgerechnet jetzt?
Sollte die Demokraten der Mut und Elan verlassen, worauf derzeit vieles hindeutet, machen sie einen grossen Fehler. Mit jedem Tag, mit dem sie die schwierige Entscheidung hinausschieben, schwinden die Chancen für eine neue Kandidatin oder einen neuen Kandidaten, das Vertrauen der Wähler zu gewinnen. So tragen sie das gewaltige Risiko, dass Bidens Altersschwäche mit dem nächsten Stolpern oder dem nächsten Versprecher in die Schlagzeilen zurückkehren wird. Und das ausgerechnet gegen einen Donald Trump, der nach dem Attentat auf einer Welle der Sympathie reitet.
Geben die Kritiker Bidens sturem Beharren nach und fallen sie in Resignation, kommt das einer Kapitulation der Partei im Wahlkampf nahe. Nicht nur deren Anhänger, das ganze Land hat mehr verdient: einen echten Wettbewerb um die Präsidentschaft.








