Brasiliens Wirtschaft ist überraschend stabil. Doch Investoren sind skeptisch. Die Regierung macht zu wenig aus dem Potenzial des Landes.
Eigentlich geht es der brasilianischen Wirtschaft so gut wie lange nicht mehr. Die grösste Volkswirtschaft Lateinamerikas wird in diesem Jahr um 2 bis 2,5 Prozent wachsen. Die Inflation beträgt rund 4 Prozent und ist damit nicht weit vom Inflationsziel der Zentralbank entfernt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 8 Prozent. Das ist nicht wenig, aber es ist die niedrigste Arbeitslosenquote seit 2014. Der Handelsbilanzüberschuss ist historisch hoch. Die Zentralbank verwaltet mit rund 400 Milliarden Dollar eine der grössten Reserven der Welt. Kurzum: Der brasilianischen Wirtschaft geht es so gut wie seit 10 Jahren nicht mehr.
Dennoch machen Investoren einen Bogen um Brasilien: In diesem Jahr haben sie so viel Kapital abgezogen wie seit 40 Jahren nicht mehr. Der brasilianische Aktienindex ist in diesem Jahr meist das Schlusslicht weltweit. Der Dollar wertete gegenüber dem Real zeitweise um 17 Prozent auf. Investoren verlangen immer höhere Zinsen (Spreads) für brasilianische Anleihen, weil das Risiko aus Sicht der Finanzmärkte steigt.
Lula will nicht sparen – er hofft auf mehr Staatseinnahmen
Der Grund für die Diskrepanz zwischen der wirtschaftlichen Realität und der schlechten Stimmung der Investoren: Für den ehemaligen Notenbankchef Gustavo Loyola liegt das zum einen an der chaotischen Kommunikation der Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva mit den Finanzmärkten. Zum anderen beunruhigt die Investoren die mangelnde Haushaltsdisziplin der Regierung.
So sind die Staatsausgaben seit Jahresbeginn um 13 Prozent gestiegen. Eigentlich hat sich die Regierung verpflichtet, die Staatsausgaben in diesem Jahr um nicht mehr als 2,5 Prozent zu erhöhen. Sie hofft weiter auf sprudelnde Einnahmen und will nicht sparen.
So liegt das primäre Staatsdefizit (also ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen) derzeit bei 2,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Der Primärhaushalt ist der entscheidende Indikator dafür, ob ein Staat seine Verschuldung mittelfristig ausweiten oder abbauen wird.
Im Falle Brasiliens sieht es schlecht aus: Unter der Regierung Lula stieg die Schuldenquote von rund 70 auf 77 Prozent des BIP. Die unabhängige Steuerbehörde (IFI) schätzt, dass die Verschuldung Brasiliens bis 2034 auf über 100 Prozent steigen wird. Das ist für ein Industrieland nicht besorgniserregend, für ein Schwellenland wie Brasilien aber zu viel. Denn so muss der Staat immer mehr Schulden zurückzahlen, ohne in Infrastruktur oder Bildung investieren zu können.
Lulas Kritik an der Zentralbank wertet den Real ab
Gleichzeitig greift Präsident Lula immer wieder die Zentralbank wegen ihrer Hochzinspolitik an. Das geldpolitische Komitee will den Leitzins Selic wegen mangelnder Haushaltsdisziplin und anhaltendem Inflationsdruck bei 10,5 Prozent belassen und nicht weiter senken.
Dafür hat Lula kein Verständnis. Er droht, dass sich die Geldpolitik mit dem von ihm in sechs Monaten zu ernennenden Zentralbankpräsidenten grundlegend ändern werde. Solche Äusserungen schwächen den Real zusätzlich. Seit Jahresbeginn hat der Dollar zeitweise um 17 Prozent zugelegt.
Doch es gibt noch andere Gründe, warum die Zukunft Brasiliens aus Sicht der Finanzinvestoren wenig vielversprechend erscheint: Besonders kritisch sehen sie die wenig marktfreundliche, vom Staat dominierte Wirtschaftspolitik Lulas. Sie befürchten, dass Brasilien damit wirtschaftlich ins Hintertreffen gerät.
So stellt Lula den staatlichen Ölkonzern Petrobras wieder in den Mittelpunkt seiner Industriepolitik. Der Konzern soll wieder Raffinerien und Werften betreiben. Eine Politik, die bereits vor 10 Jahren unter der Regierung Lula und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff zu einer schweren Rezession und zum historisch schwersten Korruptionsskandal des Landes geführt hat. Lula ist dabei, diese Fehler zu wiederholen. Die Investoren strafen diese Politik ab. Petrobras hat an der Börse in zwei Monaten 15 Prozent an Wert verloren.
Auch sonst sind die Aussichten düster, vor allem für die Industrie. Anders als viele grosse Schwellenländer hat Brasilien eine starke industrielle Basis. Doch die Unternehmen investieren immer weniger. Die Investitionsquote der Industrie ist seit zwei Jahren negativ. Bei den derzeit weltweit wichtigen Wachstumstreibern wie künstliche Intelligenz, Data Science, Halbleitertechnologie oder in der Informatik spielen brasilianische Unternehmen international keine bedeutende Rolle.
Auch die Hoffnungen auf Nearshoring wurden enttäuscht: Noch vor kurzem war die Wirtschaft zuversichtlich, dass Brasilien von der weltweiten Verlagerung wirtschaftlicher Wertschöpfungsketten weg von China hin zu den westlichen Ländern profitieren würde. Doch anders als etwa in Mexiko haben sich in Brasilien kaum neue Industrien angesiedelt, um vom Zugang zum amerikanischen Markt zu profitieren.
Die einzigen, die massiv investieren, sind chinesische Firmen
Lediglich chinesische Automobilhersteller und Zulieferer haben eine Investitionsoffensive gestartet. Mehrere Unternehmen bauen derzeit Fabriken und setzen auf den lokalen Markt und auf Brasilien als Standort für Exporte nach Südamerika.
Dennoch bleibt die Frage, woher in Brasilien die notwendigen Produktivitätssteigerungen der Volkswirtschaft kommen sollen – wenn man von der hochmodernen Landwirtschaft und vielleicht noch vom Bergbau absieht. Denn Brasiliens Bevölkerungswachstum ist rückläufig. Vom demografischen Bonus – wenn die wirtschaftlich aktive Bevölkerung schneller wächst als die Zahl der Inaktiven (Rentner und Kinder) – wird Brasilien nicht mehr profitieren.
Dennoch hat Brasilien im internationalen Vergleich einige strategische Vorteile. So wird Brasilien seine Position als globaler Lieferant von Nahrungsmitteln in Zukunft weiter ausbauen. Bei Soja, Fleisch, Zucker, Mais und Kaffee gehört Brasilien zu den weltweit führenden Lieferanten.
Auch bei Industrierohstoffen hat Brasilien grosses Potenzial: Neben Eisenerz liefert das Land viele wichtige Bergbauprodukte, von Niob bis Lithium. Auch als Erdölproduzent wird die Bedeutung Brasiliens in der Welt zunehmen. Heute ist Brasilien das achtgrösste Förderland der Welt. Vor der Küste sollen weitere Vorkommen erschlossen werden.
Gleichzeitig bezieht Brasilien bereits heute einen wesentlichen Teil seines Stroms aus nachhaltigen Quellen. Damit ist das Land ein attraktiver Standort für Industrien, die ihre Produktion mit grüner Energie betreiben wollen – etwa Stahl oder Chemie.
Brasilien hält sich neutral im geopolitischen Konflikt
Ein weiterer Standortvorteil ist die geopolitisch neutrale Positionierung des Landes durch die Regierung Lula: Das Land hält Äquidistanz zu den geopolitischen Machtpolen China und USA. Mit beiden Weltmächten wird gehandelt und verhandelt. Zwar wird die Neutralität Brasiliens vor allem in Europa kritisiert. Doch der Handel mit Europa schrumpft. Europäische Unternehmen investieren nur zögerlich in Brasilien.
Anderthalb Jahre nach seinem hoffnungsvollen Amtsantritt ist Lula international nicht mehr der angesehene Staatsmann, der er in seiner ersten Amtszeit (2003 bis 2010) war. Mit seiner einseitigen Parteinahme für Russland, Venezuela und zuletzt Palästina hat er im Westen viele Sympathien verspielt – aber keine neuen verlässlichen Freunde gewonnen. Wirtschaftlich dürfte sich seine Haltung kurzfristig aber nicht negativ auswirken.
Aber Brasilien macht zu wenig aus den Vorteilen, die sich aus den geopolitischen Verschiebungen der letzten Jahre ergeben. Die Regierung Lula verspielt diese Trümpfe, weil sie wirtschaftspolitisch auf die Rezepte der Vergangenheit für die Probleme der Gegenwart setzt.
Zudem sind Politik und Justiz dabei, einige hässliche Kapitel der jüngeren Vergangenheit Brasiliens im Nachhinein auszulöschen.
Inzwischen sind alle Urteile aus den Korruptionsermittlungen Lava-Jato vom Obersten Gerichtshof aufgehoben worden, meist wegen angeblicher Verfahrensfehler. Auch die milliardenschweren Entschädigungszahlungen der beteiligten Unternehmen wurden revidiert. Die Justiz erweist Brasilien damit einen Bärendienst. Die schwindende Rechtssicherheit ist auch ein Grund für das Fernbleiben von Investoren.








