Italien tut sich schwer mit seiner Vergangenheit. Das zeigt sich im Grossen und im Kleinen: zurzeit an der Via Pisanelli 40 in der Ewigen Stadt, wo einst Giacomo Matteotti wohnte.
Flaminio ist ein hübsches und wohlhabendes Quartier in Rom. Es liegt etwas abseits der grossen Touristenströme, beherbergt aber wichtige Kulturinstitutionen, etwa den von Renzo Piano entworfenen Parco della Musica oder das von Zaha Hadid erbaute Maxxi, das Museum für die Kunst des 21. Jahrhunderts. Etwas näher beim Stadtzentrum liegt die Via Pisanelli, eine von schönen Bäumen gesäumte Strasse mit einigen bemerkenswerten Jugendstilhäusern.
Aus einem der Häuser, der Nummer 40, spazierte am Nachmittag des 10. Juni 1924 Giacomo Matteotti, um sich zum nahen Ufer des Tibers zu begeben. Matteotti wohnte mit seiner Familie im vierten Stock des Gebäudes. Er war der Anführer der italienischen Sozialisten, ein Reformer, kein Revolutionär, umstritten innerhalb der Parteielite, geliebt von seinen Anhängern, gefürchtet vom «Duce», Benito Mussolini. Am 11. Juni sollte er eine grosse Rede im Parlament halten, seit Tagen bereitete er sich minuziös auf den Auftritt vor. Wahrscheinlich war er in Gedanken ganz bei seiner Rede.
Er hat sie nie gehalten – Matteotti wurde an diesem 10. Juni um 16 Uhr 30 am Tiber-Ufer von einer Gruppe faschistischer Schwarzhemden gepackt, schwer verletzt und in ein Auto gesteckt, wo er schliesslich verblutete. Sein Leichnam wurde am 16. August in einem Graben etwas ausserhalb der Stadt entdeckt. Matteottis Tod gilt als Beginn der Diktatur Mussolinis und wird in Italien entsprechend gewürdigt. Zum bevorstehenden 100. Todestag sind Gedenkfeiern und Reden geplant.
Eine sehr italienische Geschichte
Doch Italien tut sich schwer mit seiner Vergangenheit – im Grossen, wenn es um das ungeklärte Verhältnis der Partei von Giorgia Meloni zum Faschismus geht, aber auch im Kleinen, wie sich dieser Tage an der Via Pisanelli zeigt. Es ist eine eigenartige Mischung aus starrem Bürokratismus und unbewältigter Vergangenheit. «Una storia italianissima», eine sehr italienische Geschichte, wie Concetto Vecchio, Autor eines neuen Buches über Matteotti, in der «Repubblica» schreibt.
Sie geht so: Nachdem sich jahrzehntelang niemand um die Erinnerung an den letzten Wohnort Matteottis gekümmert hatte, ergriff einer der Bewohner im Haus Nummer 40 die Initiative. Vor fünfzehn Jahren gab er für 200 Euro eine kleine Tafel in Auftrag, die er mit der Zustimmung der übrigen Bewohner rechts des Eingangs des Palazzo anbringen liess. «Hier wohnte Giacomo Matteotti, als er am 10. Juni 1924 von zu Hause wegging und dem Tod entgegenging», heisst es darauf. Eine würdige Formulierung, aber ohne jeden Hinweis auf Matteottis faschistische Häscher. Man habe damals Angst vor Verunstaltungen und Vandalenakten gehabt, schreibt die «Repubblica». Immerhin: Es gab nun eine Tafel, die die Erinnerung an diese Persönlichkeit aufrechterhielt.
Jahre später, man schreibt den 27. April 2024, trifft an der Via Pisanelli 40 ein Schreiben der kapitolinischen Aufsichtsbehörde für Kulturgüter ein. Man habe entschieden, an dem Gebäude eine neue Gedenktafel anzubringen, aus römischem Travertin, verputzt und matt poliert, achtzig Zentimeter breit, neunzig Zentimeter hoch und drei Zentimeter dick. «In diesem Haus lebte Giacomo Matteotti (1885–1924) bis zu dem Tag, an dem er durch die Faschisten umgebracht wurde. Hundert Jahre später von der Stadt Rom zum Gedenken an den Märtyrer des Sozialismus und der Demokratie hier angebracht.» Auch eine schöne Formulierung, zweifellos, die zudem der Täterschaft Rechnung trägt und vielleicht auch geeignet gewesen wäre, das schlechte Gewissen der Stadt, die den letzten Wohnort eines ihrer wichtigsten Söhne der Neuzeit lange schmählich übersehen hat, zu beruhigen (in einer Stadt zumal, in der es von Gedenktafeln sonst nur so wimmelt).
«Wäre» – denn die Stadt ist gar nicht befugt, gegen den Willen der Eigentümer eine solche Tafel zu montieren. Also bat die Behörde die Eigentümergesellschaft «mit höflicher Dringlichkeit» um eine Stellungnahme zum Vorhaben – nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die bereits vorhandene Platte ihrerseits eigentlich einer Genehmigung bedurft hätte.
Lösung in letzter Minute?
Die Antwort der Eigentümer fiel negativ aus – mit bindender Wirkung für die Stadt, die sich nun fragt, wo der Stadtpräsident Roberto Gualtieri am kommenden 10. Juni überhaupt eine Platte enthüllen soll. Die Bewohner der Via Pisanelli 40 verstehen ihr Votum nicht als politisches Statement, wie sich einer der im Gebäude arbeitenden Rechtsanwälte in den Medien ausdrückte. Vielmehr stören sie sich an den Dimensionen der neuen Tafel, am behördlichen Tonfall – und wohl auch ein wenig daran, dass ihre in Eigeninitiative angebrachte Gedenktafel hätte weichen müssen. Man halte zwei Ehrentafeln für ein und dieselbe Person nämlich für «unangemessen», liess die Stadt die Bewohner wissen.
Der ganze Wirbel in den Medien hat nun dafür gesorgt, dass beide Parteien nach Auswegen suchen. Und weil Italien über eine gewisse Meisterschaft darin verfügt, auch in letzter Minute noch eine schöne Zeremonie zu organisieren, kann man davon ausgehen, dass sich die Stadt und die Eigentümerschaft noch einigen werden.
Die Liegenschaft ist auch so einen Spaziergang wert. Es sei alles noch genau so wie in den zwanziger Jahren, sagt die Dame, die am Eingang sitzt und den Besucher kritisch mustert. Die Treppe, der Aufzug mit brauner Kunstlederbank, die Knopfleiste aus Messing: alles wie damals, am 10. Juni 2024, als Matteotti von hier zum Ufer des Tibers aufbrach.