Sie war ein erfolgreiches Model, eine aufstrebende Sängerin und schuf mit «Me & U» einen Kulthit des 2000er-Pop. Dann soll P. Diddy sie einem Kreislauf von Machtmissbrauch und Gewalt unterworfen haben. Szenen einer Karriere, die vorbei war, bevor sie anfangen konnte.
Cassie, das ist viel Lipgloss, viel Bauchfrei und eine geschmeidige Stimme auf viel Beat. 2006, als ihre Debüt-Single «Me & U» auf MTV hoch und runter lief, galt sie als der nächste grosse R’n’B-Star Amerikas. Doch da war ihre Karriere eigentlich schon gelaufen.
Im selben Jahr lernte Cassie den Musikproduzenten Sean Combs alias P. Diddy kennen. Und aus Cassie, dem aufflackernden Star mit der butterweichen Stimme, wurde Cassie, die Freundin des Musikgiganten P. Diddy.
Nun ist Cassie nach jahrzehntelanger Stille zurück – als Zeugin in einem der grössten Strafprozesse der Musikbranche. P. Diddy wird sexueller Missbrauch und Vergewaltigung in mehreren Fällen vorgeworfen. Cassie tritt als Kronzeugin auf, sie ist eine von insgesamt 120 Klägerinnen und Klägern. Es geht auch darum, inwiefern Cassies verfrühtes Karriereende mit P. Diddys mutmasslichem System der Unterwerfung zusammenhängt.
Aber wer ist Cassie, die ihren Fans als Künstlerin abhandenkam, noch bevor ihre Karriere richtig anfangen konnte?
Das gefragte Model
Einst schrieb die «New York Times», dass Cassies Aufstieg einer Cinderella-Story gleiche. Das war 2007. Die talentierte, bildschöne Cassie war gerade frisch von den Strippenziehern der Musikindustrie entdeckt worden. Sie konnte singen, tanzen, und Model war sie auch noch. Amerika hatte einen neuen Shootingstar.
Dass diese Cinderella-Story einmal ziemliche Abgründe zeigen könnte, ahnte damals niemand.
Casandra Elizabeth Ventura, 1986 geboren, kam aus einfachen Verhältnissen. Schon als Kind träumte Cassie davon, Sängerin zu werden. Sie besuchte eine Schule mit künstlerischem Schwerpunkt, nahm Klavier- und Tanzunterricht, wo sie mit 12 Jahren eine Schul-Oper komponiert haben soll. Eine ehemalige Lehrerin zeichnet das Bild einer Top-Schülerin, ehrgeizig und allseits beliebt.
Mit 12 begann Cassie zu modeln, mit 16 kratzte sie alles Geld zusammen und zog von New London, Connecticut, nach New York City. Dort nahm sie Model-Unterricht, wenig später lief sie auf der New York Fashion Week. Sie arbeitete für Calvin Klein, Adidas, Abercrombie & Fitch. «Sie mögen, dass man nicht genau sagen kann, woher sie kommt. Sie verkörpert Diversität», sagte Cassies Mutter einst über ihre Tochter. Cassies Vater ist Filipino, ihre Mutter schwarz.
2004 lernte sie den aufstrebenden Produzenten und Songwriter Ryan Leslie kennen. Von ihrem Traum, einst eine grosse Musikerin zu sein, erzählte sie ihm nicht, wie sie der «New York Times» einst berichtete. Cassies Mutter musste nachhelfen. Sie drängte ihre Tochter dazu, mehr Zeit in Leslies Studio zu verbringen. Und tatsächlich, Leslie schrieb Cassies ersten Song. «Me & U» verhalf ihr zum Durchbruch und schaffte es auf Platz 3 der amerikanischen Top-100-Charts.
2006 soll P. Diddy «Me & U» in einem Klub gehört haben. Diddy, damals 36, hatte bereits eine Plattenfirma gegründet, mehrere Alben herausgebracht und 1997 mit der Rap-Ballade «I’ll Be Missing You» Musikgeschichte geschrieben. Er lud Cassie in das New Yorker Restaurant «Cipriani» ein. «Ich war so nervös», sagt Cassie der «New York Times». Da war sie 19. Noch am Esstisch habe sie für Diddy singen müssen. Von da an kümmerte sich sein Label Bad Boy Records um Cassies Karriere.
Das Album, das nie kam
Erst schien alles phantastisch zu laufen. Noch 2006 kam Cassies erstes Album heraus. P. Diddy versuchte Cassie zur nächsten Rihanna hochzujazzen und handelte sie als Prinzessin seines Labels. Nach ein paar eher unbeholfenen Auftritten nahm er sie in Schutz. «Ich begleite sie bei ihrer Entwicklung», sagte er MTV. Er wisse ihre Nervosität gar zu schätzen, «Ich fand das irgendwie süss, um ehrlich zu sein». Cassie war «Diddy’s Girl», wie das Männermagazin «GQ» schrieb.
P. Diddy und Cassie wurden ein Paar. 2009 erschien mit «Must be love» ein gemeinsamer Song, eine sanfte Liebesballade. In einem von Sonnenlicht gefluteten Video rappt P. Diddy cool und verliebt, Cassie räkelt sich in Unterwäsche an der Wand und flüstert: «I know this must be love. Baby it must be love.» Doch hinter den Kulissen soll sich die Cinderella-Geschichte da bereits verdüstert haben.
Die Medien berichten von einer On-Off-Beziehung. Und auch Cassies Karriere wirkte in dieser Zeit mal on, mal off. Sie debütierte als Schauspielerin in Tanzfilmen («Step Up 2: The Streets», 2008, oder «Honey 3: Dare to Dance», 2016) und trat in romantischen Komödien auf («The Perfekt Match», 2016). Aber das angekündigte zweite Album blieb aus, und ihre Musikkarriere geriet ins Stocken.
Der Prozess
Lange Zeit blieb es still. 2018 trennte sich das Paar nach elfjähriger Beziehung. 2019 verliess Cassie P. Diddys Label und gründete mit Ventura Music ihr eigenes. Im selben Jahr heiratete sie Alex Fine, ihren früheren Personal-Trainer, und wurde Mutter zweier Kinder. Bekannte berichten der «New York Times», Cassie hätte sich ganz auf ihre Familie konzentriert, sich immer weiter zurückgezogen. In ihren seltenen Interviews spricht sie über ihre Schwangerschaft. Über P. Diddy verliert sie kein Wort.
Erst 2023 kehrte Cassie in die Öffentlichkeit zurück, diesmal vor Gericht. Sie reichte Klage gegen P. Diddy ein. Sie wirft ihrem Ex-Partner einen jahrzehntelangen Kreislauf von Missbrauch, Gewalt und Sexhandel vor.
Weitere Frauen meldeten sich. Combs stritt alles ab. Er schlug vor, die Sache aussergerichtlich zu regeln und bot Cassie 20 Millionen Dollar. Die Klage wurde fallengelassen. Doch Cassies Klage löste eine bundesweite Untersuchung aus, und im Mai 2025 wurde Sean Combs verhaftet.
Der Gerichtsprozess begann diese Woche. Cassie, heute 38 und hochschwanger, sagte als Kronzeugin aus. P. Diddy wird vorgeworfen, Venturas Leben und Karriere tiefgreifend kontrolliert zu haben – und das bereits ab 2006, als sein Label Cassie unter Vertrag nahm.
Cassie war die Erste, die öffentlich von den sogenannten «Freak-offs» sprach. P. Diddy habe sie mit Drogen sediert, sie zu Sex mit anderen Männern gezwungen, sie dabei gefilmt und mit den Videos erpresst. P. Diddy, so die Anklage, soll Cassie die Möglichkeit eines beruflichen Aufstiegs als Gegenleistung für ihre Teilnahme an immer extremeren sexuellen Szenarien in Aussicht gestellt haben, was er als «Freak-Offs» bezeichnete.
Die Anwälte von Sean Combs bezeichnen die Beziehung zwischen Combs und Ventura als «toxisch», «komplex» und «dysfunktional». Sie versuchen geltend zu machen, dass es auf beiden Seiten Untreue gegeben habe, dass alle sexuellen Arrangements einvernehmlich erfolgt seien. Combs sei ein Swinger, aber kein Sexualstraftäter.
Ventura berichtet während ihrer Aussage von wiederholter körperlicher Gewalt, die 2018 in einer Vergewaltigung kulminiert haben soll. Am Mittwoch, ihrem zweiten Vernehmungstag, las Cassie eine SMS vor, die sie 2017 an P. Diddy schickte: «You treat me like you’re Ike Turner». Diddy erinnere sie an Ike Turner, Tina Turners Mentor und späterer Ehemann. In ihrer Autobiografie schildert Turner, wie sie von ihrem Mann geschlagen, missbraucht, vergewaltigt und gefoltert worden sei.