Seine Partei bejubelt den Richterspruch von Strassburg als Sieg über den Kapitalismus. Der SP-Ständerat Daniel Jositsch hält ihn für «ausserordentlich gefährlich». Das sei ein Steilpass für die SVP.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Beschwerde der Klimaseniorinnen gutgeheissen und bei Grünen und Sozialdemokraten Freude ausgelöst. Teilen Sie die Zustimmung?
Nein, ich halte das Urteil für falsch. Das Gericht hat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) weiterentwickelt, weil es weiss, dass sie sich de facto nicht ändern lässt. Damit greift es in den Bereich des Gesetzgebers ein und macht Politik.
Weshalb lässt sich die EMRK nicht ändern?
Dafür braucht es Einstimmigkeit unter allen Mitgliedstaaten, was unrealistisch ist. Diese hohen Hürden hat man bewusst geschaffen, weil man die Menschenrechte so absichern wollte, dass alle dahinterstehen können. Es ging also um Folter oder Meinungsäusserungsfreiheit – und nicht um Klimapolitik.
Ist es nicht die Aufgabe der Justiz, Recht weiterzuentwickeln?
Nein, das ist die Aufgabe der Politik. Gerichte müssen Gesetze interpretieren. Aber es ist nicht das erste Mal, dass der EGMR darüber hinausgeht.
Und wo liegt der Unterschied zwischen Interpretation und Weiterentwicklung?
Man muss sich das Gesetz wie eine Trainerhose vorstellen. Diese passt auch noch, wenn Sie fünf Kilo zunehmen. Aber irgendwann geht das nicht mehr. Genau so ist es hier. Es ist unmöglich, den Inhalt dieses Urteils mit dem Wortlaut der EMRK-Bestimmung über das Recht auf das Privatleben in Einklang zu bringen. Sie fänden auf der Strasse kaum jemanden, der hier einen Zusammenhang sehen würde. Der Gerichtshof geht deshalb zu weit. Ich sehe aber noch ein zweites Problem.
Und zwar?
Man kann nicht ein einzelnes Land für ein globales Problem verantwortlich machen. Der Gerichtshof stellt zwar richtig fest, dass mehr für den Klimaschutz getan werden muss. Doch seine Lösung funktioniert nicht: Selbst wenn die Schweiz, gestützt auf das Urteil, sofort jeglichen CO2-Ausstoss verbieten würde, würde sich das Weltklima höchstens unmerklich verbessern. Dass sich das Urteil auch noch gegen die Schweiz richtet, finde ich besonders heikel.
Weshalb?
Die Schweiz ist eine direkte Demokratie. Der Bundesrat hat ja ein CO2-Gesetz verabschiedet und damit eigentlich getan, was der Gerichtshof nun verlangt. Doch das Gesetz wurde vom Volk abgelehnt. Ich finde es äusserst problematisch, dass der EGMR diesen Volksentscheid übersteuert. Das schadet auch der Akzeptanz des Gerichtshofes.
Das Urteil des Gerichtshofes fiel trotzdem eindeutig aus. Nicht weniger als 16 der 17 Richter des EGMR hiessen die Klage der Klimaseniorinnen gut. Wie erklären Sie sich das?
Es ist das Selbstverständnis der Richter, das zu diesem fragwürdigen Urteil geführt hat. Wir haben es mit einem Gericht zu tun, das sich in der eigenen Aufgabenkompetenz massiv überschätzt.
Mit welchen Folgen?
Ich weiss nicht, ob die Selbstbestimmungsinitiative der SVP, die vor ein paar Jahren deutlich abgelehnt wurde, heute nicht doch eine Chance hätte. Und jetzt steht die Schweiz vor Verhandlungen mit der EU über die Weiterentwicklung der bilateralen Verträge. Dabei wird der Einfluss des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) eine entscheidende Rolle spielen. Das Klima-Urteil wird die Stimmung beeinflussen – auch wenn es der EGMR und nicht der EuGH gefällt hat. Die Gegner der Verträge werden sagen: Da sieht man, wie die europäischen Gerichte mit der Schweiz umspringen.
Das Gericht bemängelt, dass die Schweiz zu wenig tut, um das von ihr ausdrücklich mitgetragene Pariser Klimaabkommen zu erfüllen. Ist diese Kritik nicht berechtigt?
Ich bin der Letzte, der sich gegen die Einhaltung von Klimazielen wehrt. Aber wenn ein internationales Gericht versucht, auf die Klimapolitik in einem demokratischen Land Einfluss zu nehmen, ist das kontraproduktiv. Wenn Sie die Klimapolitik verändern wollen, müssen Sie versuchen, die Leute davon zu überzeugen. Juristisch lässt sich das nicht durchsetzen.
Es gibt weltweit viele Klimaklagen, die sehr wohl Einfluss auf die Politik haben. Wie beurteilen Sie dies im gegenwärtigen Fall?
Ich glaube, es wird kaum Folgen haben. Der Klimaschutz ist ja schon heute ein wichtiges Politikum – und die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sind, wie sie sind.
Hat das Urteil wenigstens Auswirkungen auf die Staaten, die dem EGMR angeschlossen sind?
Auch davon gehe ich nicht aus. Theoretisch könnte nun jede Organisation in Europa Klage einreichen. Doch dann würde einfach festgestellt, dass ganz Europa zu wenig im Klimaschutz unternimmt. Aber das ist keine neue Erkenntnis. Das Problem beim Klima ist ein anderes.
Welches?
Ich beobachte die Entwicklung seit der Klimakonferenz in Rio vor zweiunddreissig Jahren. Damals dachten alle, dass die Staaten nun zusammensitzen und das Klimaproblem lösen werden. Doch zeigte sich, dass der politische Wille dazu fehlt – obwohl die Lösungen in der Klimafrage längst existieren. Jeder Staat versucht, seinen Beitrag möglichst klein zu halten. Es ist die Folge davon, dass der Klimaschutz, gerade wenn er mit Kosten verbunden ist, in der breiten Bevölkerung auf wenig Akzeptanz stösst. Unser Einsatz muss sich deshalb auf das politische Feld konzentrieren.
Wie kann die Schweiz verhindern, dass es in Zukunft wieder zu solchen Urteilen kommt?
Diese Frage werden wir an der nächsten Sitzung der Rechtskommission des Ständerats diskutieren. Einige Stimmen fordern nun den Austritt aus der EMRK. Ich halte das für einen sehr radikalen Schritt. In der gegenwärtigen politischen Situation müssen wir die Menschenrechte eher stärken. Aber die Schweiz sollte als Vertragsstaat im Ministerkomitee des Europarates vorstellig werden und klarmachen, dass es so nicht geht. Die Kompetenz des Gerichts bei der Umsetzung muss auf den Kerngehalt der Menschenrechte beschränkt werden.
Warum soll die Schweiz nicht aus dem Europarat austreten? Was bringt ihr die Mitgliedschaft in diesem Gremium?
Der Nutzen für die Schweiz ist tatsächlich klein. Aber die EMRK wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Kraft gesetzt aus der Überzeugung, dass die Bürgerinnen und Bürger im Notfall auch vor dem eigenen Staat geschützt werden sollen. In der Schweiz ist das nur selten nötig, da die Menschen ihre Rechte innerstaatlich einfordern können. In anderen europäischen Staaten kann dieser Schutz jedoch nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Tritt die Schweiz als Hüterin der Menschenrechte aus, wäre das möglicherweise ein Signal an solche Staaten, das Gremium ebenfalls zu verlassen.
Ihre Position weicht damit von jener Ihrer Partei deutlich ab. Der SP-Chef Cédric Wermuth bezeichnet das Urteil im Gegensatz zu Ihnen als «erfrischend frech».
Man kann das Urteil als Parteipräsident politisch begrüssen. Hätte der EGMR jedoch geurteilt, dass Ausländer ohne Verfahren ausgewiesen werden können, hätte Wermuth das Gegenteil gesagt und die SVP hätte von einem erfrischenden Urteil gesprochen. Mir geht es aber ohnehin nicht um eine politische Wertung, sondern um eine institutionelle. Unter dem Strich bringt das Urteil Rückschritte im Gefüge des europäischen Rechts. Da wurde eine Grenze überschritten, die ausserordentlich gefährlich ist.