Aussenminister zu sein, ist schon auf nationalem Niveau eine schwierige Aufgabe. Auf EU-Level ist sie schier unmöglich. In Borrells Amtszeit ist die Welt eine andere geworden.
Borrell hier, Borrell da, Borrell überall. In den vergangenen knapp fünf Jahren ist kaum ein Tag vergangen, an dem man nicht irgendetwas vom Aussenbeauftragten der Europäischen Union vernommen hat. Von Amtsmüdigkeit ist dem 77-Jährigen nichts anzumerken. Nur: Aktivismus erzeugt nicht zwingend Wirkung – und schon gar nicht Effizienz. Die Aussenpolitik der EU bleibt auch nach seiner fünfjährigen Amtszeit eine Chimäre.
Das hat mit der Person von Josep Borrell zu tun, aber längst nicht nur. Aussenminister zu sein, ist schon auf dem nationalen Parkett eine komplexe und zuweilen undankbare Aufgabe: Die Lorbeeren – oder die Schelte – fährt oftmals der Staatspräsident oder die Premierministerin ein.
Auf europäischer Ebene ist die Aufgabe schier unmöglich. Zwar ist der «Hohe Vertreter für Aussen- und Sicherheitspolitik», wie der Aussenbeauftragte offiziell heisst, von Amtes wegen auch einer der Vizepräsidenten der EU-Kommission. Er trägt zwei Hüte. Weil die Mitgliedstaaten nicht willens sind, in aussenpolitischen Fragen Macht an Brüssel abzugeben, ist Borrells Einfluss aber überschaubar: Die bedeutsamen Entscheidungen müssen von den 27 Staats- und Regierungschefs gefällt werden – einstimmig. «Aufgrund dieser strukturellen, bewusst gewählten Hürden wird die EU immer in einer tieferen Gewichtsklasse agieren, als es ihrer wirtschaftlichen Bedeutung entsprechen würde», sagt Guntram Wolff vom Think-Tank Bruegel.
Gerangel mit von der Leyen
Schafft es der Chefdiplomat also, einen Konsens zwischen den Mitgliedländern herzustellen, ist dies bereits ein Erfolg. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 gelang dies in bemerkenswerter Weise. Die EU anerkannte die überragende Bedeutung des Krieges für ihre eigene Existenz sogleich. Innert kurzer Zeit einigten sich die Mitgliedstaaten auf Sanktionen, Waffenlieferungen, Hilfsgüter und die grosszügige Aufnahme von Flüchtlingen. Das war in erster Linie ein Verdienst der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – die damit gewonnene Autorität hat ihr wesentlich zur zweiten Amtszeit verholfen. Wichtig war aber auch der Einsatz von Josep Borrell. Nicht weniger als 14 Russland-Sanktionspakete hat der Staatenbund auf sein Bestreben hin bereits verabschiedet.
Beim anderen geopolitischen Grossthema, dem Konflikt im Nahen Osten, herrscht innerhalb der EU hingegen die altbekannte Kakofonie. Die Mitgliedländer verurteilten die Hamas-Greueltaten vom 7. Oktober 2023 im Handumdrehen, bei der Beurteilung der israelischen Reaktion tat sich aber ein tiefer Graben auf – zwischen den einzelnen Staaten, aber auch zwischen von der Leyen und Borrell. Es war die Deutsche, die – getreu ihrem politischen Instinkt und ihrer Herkunft – sogleich nach Tel Aviv reiste, nicht der Spanier. Dass sie die israelische Armee nicht explizit an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen erinnerte, sorgte in Brüssel für zusätzliche Kritik.
Borrell wagte es gar, seine Chefin direkt anzugreifen: Die offizielle Position der EU werde von den Staats- und Regierungschefs bestimmt «sowie vom Aussenministerrat, geleitet von mir», sagte er gegenüber den Medien. Mit dem weiteren Verlauf des Krieges wurde sein Tonfall gegenüber dem jüdischen Staat schärfer, unzählige Male forderte er – im Einklang mit den meisten EU-Mitgliedländern – einen Waffenstillstand im Gazastreifen. Als er diesen Sommer die rechtsextremen Kabinettsmitglieder Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich auf die EU-Sanktionsliste setzen wollte, war der Eklat perfekt. Borrell sei ein «Antisemit und Israel-Hasser», beschied ihm Aussenminister Israel Katz und erklärte ihn zur Persona non grata.
Der «Dschungel» überfällt den «Garten»
Der Vorfall passt ins Bild des Top-Diplomaten, der oft ziemlich undiplomatisch agiert. Verschiedentlich hat der redselige Katalane öffentlich Position bezogen, obwohl sich die Mitgliedstaaten noch uneinig waren. «Im Bestreben, die Ansichten aller 27 Länder zu vereinen, veröffentlichte Borrell zuweilen Statements, welche die Uneinigkeit noch befeuerten», sagt Steven Blockmans vom Centre for European Policy Studies.
Seine Befürworter attestieren ihm freilich visionäre Züge, da manche seiner Versuchsballone später tatsächlich Fahrt aufnahmen – etwa als er der Ukraine frühzeitig versprach, Kampfjets zu liefern. Oder als er schon vor Jahren anregte, auch in aussenpolitischen Belangen statt des Einstimmigkeits- das Mehrheitsprinzip anzuwenden. Obwohl es noch ein weiter Weg ist, tragen gewichtige Länder das Bestreben nun mit.
Wer viel – und frisch von der Leber – spricht, gerät auf dem diplomatischen Parkett schnell ins Schleudern. Mehrere Fauxpas bleiben von Borrell in zweifelhafter Erinnerung: Ein Grossteil der Welt sei ein «Dschungel», der den «Garten» überfallen könnte, sagte er 2022 – was ihm als eurozentrischer Neokolonialismus angelastet wurde. Nachdem die Spanierinnen die Fussball-WM gewonnen hatten, freute er sich darüber, dass sie gelernt hätten, «so gut wie Männer zu spielen». Geradezu legendär ist der komplett missglückte Auftritt vom Februar 2021, als er sich vom russischen Aussenminister Sergei Lawrow öffentlich demütigen liess.
Immerhin sei das Fiasko in Moskau ein Weckruf gewesen, der den Europäern Russlands Verachtung für den Westen vor Augen geführt und Borrells fortan kompromisslose Haltung geformt habe, sagt ein EU-Diplomat. Gleichzeitig beschädigte der Aussenbeauftragte sein Ansehen nachhaltig. Auf der Plattform X gibt es einen populären Satire-Account namens «Ist die EU betroffen?», der sich über die unzähligen Betroffenheitsäusserungen Borrells und anderer EU-Spitzenbeamten lustig macht. Denn: Konkrete Folgen hatten seine schriftlichen und mündlichen Verurteilungen sozusagen nie.
Kann Kallas mehr ausrichten?
Die Welt ist in Borrells Amtszeit eine andere geworden, in fast jeder Hinsicht eine gefährlichere. Dass die EU – mit Ausnahme ihrer Haltung zum Ukraine-Krieg – aussenpolitisch weiterhin kein einflussreicher Akteur ist, kann wegen der strukturellen Mängel nur bedingt dem Chefdiplomaten angelastet werden. Seine Vorgängerinnen waren nicht erfolgreicher und zudem weniger sichtbar.
Allerdings fällt Borrells Bilanz auch dort bestenfalls durchzogen aus, wo die EU am meisten Einfluss haben sollte: auf dem Westbalkan, also vor der eigenen Haustüre. Doch insbesondere der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo schwelt weiter und ist jüngst sogar eskaliert. Die EU-Diplomatie scheint machtlos dagegen. Den Streitparteien fehlt wegen des blockierten Beitrittsprozesses der Anreiz zur Kompromissbereitschaft.
«Borrell hat sich bemüht. Aber er hinterlässt zahlreiche offene Baustellen», fasst Blockmans zusammen. Über mehr Instrumente wird voraussichtlich auch seine estländische Nachfolgerin Kaja Kallas nicht verfügen. Die machtpolitisch beschlagene und erklärte Putin-Gegnerin hat immerhin den Vorteil, das «unmöglichste Amt der EU» unbelastet antreten zu können.