Gerade erst war der Profi des FC Barcelona zum Stammgoalie im DFB-Team aufgerückt. Nun wird sogar über die Rückkehr von Manuel Neuer spekuliert.
Kann eine Nachricht katastrophaler sein für einen Fussballspieler? Der vollständige Riss der Patellasehne im Knie – so lautete die Diagnose, die Marc-André ter Stegen, der deutsche Nationaltorhüter, am Montag erhalten hat. Sein Klub, der FC Barcelona, kommunizierte das Resultat der Untersuchung detailliert und offensiv. Was daraus für den Torhüter folgen werde, so die Katalanen, werde bald bekanntgegeben.
Die Schwere der Verletzung korrespondiert jedenfalls nicht mit dem Eingreifen eines Gegenspielers. Ter Stegen verletzte sich ohne Fremdeinwirkung, als er einen hohen Ball gegen Villarreal abfangen wollte. Damit erlebt ter Stegen ein Déjà-vu: Wegen einer Operation an der Patellasehne konnte er mit der deutschen Nationalmannschaft 2021 nicht an der EM teilnehmen.
❗ [MEDICAL NEWS]
Tests carried out on the first team player, Marc ter Stegen confirm that he has a complete rupture in the patella tendon in his right knee. On Monday afternoon he will undergo a surgical process and once complete a new update will be released. pic.twitter.com/V00BNZRQOI
— FC Barcelona (@FCBarcelona) September 23, 2024
Die Folgen für Marc-André ter Stegen sind gravierend: Da ist zum einen die lange Ausfallzeit im Klub, manche Prognosen sprechen von vielen Monaten, eher von einem Ausfall für die gesamte Saison. Und da ist natürlich seine Position im Nationalteam, für das er bereits 42 Spiele absolviert hat, jedoch erst zwei Auftritte als unumstrittene Nummer eins – in der Nations League gegen Ungarn und gegen die Niederlande. Überzeugend allemal, aber im Grunde war ter Stegen in dieser Rolle ein Debütant: Jahrelang stand er im Schatten von Manuel Neuer, der nach langer Bedenkzeit seinen Rücktritt aus dem Nationalteam bekanntgegeben hat.
Insofern ist es bestimmt kein zu grosses Wort, von einer Tragödie für den Sportler zu sprechen. Lothar Matthäus, gewiss kein sentimentaler Mann, bekannte in seiner Kolumne für einen TV-Sender, ihm seien «die Tränen gekommen», als er von der Nachricht gehört habe. Ter Stegen, der verhinderte Nationaltorhüter.
Droht ter Stegen das Schicksal des ewigen Zweiten?
Das Schicksal der vermeintlich ewigen Nummer zwei wäre vermutlich ein wenig erträglicher gewesen, wäre die Karriere seines grossen Konkurrenten Neuer nicht immer wieder von langen Verletzungspausen unterbrochen worden, in denen ter Stegen hoffen konnte. Mehrfach verletzte sich Neuer am Fuss, schon zur Weltmeisterschaft 2018 kehrte er mit wenig Spielpraxis ins Nationalteam zurück. Insgesamt versäumte Neuer in den Jahren seit 2017 ganze 155 Pflichtspiele – sein letzter Ausfall nach der Weltmeisterschaft in Katar dauerte ein knappes Jahr.
Ein Konkurrenzkampf mit dem sechs Jahre älteren Neuer war es für ter Stegen im Grunde nie. Denn wann immer die Dinge sich für ihn zum Besseren zu wenden schienen, kam ter Stegen eine Verletzung in die Quere. Als Neuer im Oktober letzten Jahres nach endlos erscheinender Absenz zurückkehrte und vollkommen ungewiss war, in welcher Verfassung er sich präsentieren würde, zog sich ter Stegen eine Rückenverletzung zu.
Doch selbst wenn einen der beiden das Pech nicht verfolgte, hatte Neuer stets das bessere Ende für sich. Wann immer der FC Bayern auf den FC Barcelona traf, präsentierte sich der Münchner Torhüter in Galaform, wohingegen ter Stegen nicht immer ganz sattelfest wirkte.
Ter Stegen ertrug die Rolle des zweiten Goalies, der in einem der grössten Klubs der Welt als Captain eine herausragende Rolle spielt, mit einer geradezu bewundernswerten Loyalität. Erst als sich Neuer im Dezember 2022, kurz nach dem Ausscheiden der Deutschen an der WM in Katar, das Schienbein brach, formulierte ter Stegen in Abwesenheit des Weltmeisters von 2014 seine Ansprüche offensiver.
Herausfordernd ist die gegenwärtige Situation nicht bloss für den Sportler, sondern auch für das Nationalteam. Denn nun gilt es, die seit Jahrzehnten relativ fahrlässig behauptete These zu belegen, dass Deutschland ein Land der Torhüter ist. Nach dem Rückzug des Monuments Neuer und seines international in vielen Champions-League-Auftritten erfahrenen Stellvertreters wird sich erst noch zeigen müssen, wie es um die deutsche Spezialposition tatsächlich bestellt ist.
Ist Deutschland wirklich das Land der Torhüter?
Der Glaube an die Überlegenheit deutscher Torhüter ist tief verwurzelt – und speist sich vor allem daraus, dass in manchen Phasen zwei Torhüter von ausserordentlicher Qualität bereitstanden, die zu den besten der Welt zählten. Selbst der im Rückblick als übermächtig erscheinende Sepp Maier hatte in Norbert Nigbur und Wolfgang Kleff harte Konkurrenten. Legendär ist die Rivalität von Toni Schumacher und Uli Stein, der einst aus dem WM-Quartier der Deutschen flog, weil er den Teamchef Franz Beckenbauer einen «Suppenkasper» nannte. Ein wenig gesitteter ging es zwischen Oliver Kahn und Jens Lehmann zu, der den Mann, den sie den «Titanen» nannten, aus dem deutschen Tor verdrängte.
In Anbetracht solcher Konkurrenzverhältnisse kann dasjenige von ter Stegen und Neuer als geradezu entspannt bezeichnet werden – was allerdings auch daran liegt, dass Neuer nicht nur in Deutschland, sondern auch im Weltfussball eine Ausnahmestellung einnimmt. Und so sollte es auch niemanden verwundern, dass die Diskussion, ob eine Rückkehr des langjährigen Captains denkbar ist, bereits begonnen hat.
Denn Neuer, so war zu vernehmen, hatte ursprünglich einen anderen Plan als den sofortigen Rücktritt: Er wollte anfangs im Nationalteam ein bisschen kürzertreten und die Partien in der Nations League auslassen und dann später wieder die alte Position einnehmen. Auf grosse Gegenliebe dürfte ein solches Ansinnen nicht gestossen sein. Denn es wäre gegenüber ter Stegen nicht zu vertreten gewesen. Nun aber stellt sich die Situation wieder ganz anders dar.
Der Stuttgarter Nübel könnte aufrücken
Bereit stehen der Frankfurter Kevin Trapp als bisherige Nummer zwei und die Nummer drei, der Hoffenheimer Oliver Baumann – sowie der Stuttgarter Alexander Nübel. Letzterer ist de iure ein Profi des FC Bayern, er ist nach Stuttgart ausgeliehen, und es hat ganz gewiss seinen Grund, dass er nicht in München spielt. Allerdings ist Alexander Nübel mit 28 Jahren nicht nur der jüngste, er ist unter den genannten Kandidaten auch der beste Fussballer – sowohl technisch als auch vom Spielverständnis her ist er den Konkurrenten überlegen. Diese Eigenschaft schätzt der Nationaltrainer Julian Nagelsmann sehr, weswegen eine Nominierung Nübels nicht überraschen würde.
Die Deutschen könnten schon sehr bald erkennen, dass es mit dem Ruf der sogenannten Torhüternation nicht ganz so weit her ist, wie sie es sich über Jahre hinweg eingeredet haben. Zumal die Konkurrenten auch nicht schliefen. Oder, wie es Sepp Maier formulierte: «Schauen Sie mal die Brasilianer an. Früher haben die einen reingestellt und dann haben sie gesagt: ‹Wir sind so gut – wenn die anderen vier schiessen, dann schiessen wir fünf.› Und jetzt haben sie auch super Torhüter.»
Einen Effekt wird der lange Ausfall ter Stegens sicher haben: In Deutschland wird künftig wohl ein wenig nüchterner auf die eigenen Torhüter geblickt.