Die Regierung Meloni verteidigt die Auslagerung von Asylverfahren nach Albanien gegen Einsprachen der Justiz. Das ist keine Zwängerei, sondern politisch klug.
Grösser hätte die Frustration für die italienische Regierung kaum sein können. Mit riesigem finanziellem und politischem Aufwand hat diese alle Vorbereitungen getroffen, um Migranten mit praktisch aussichtslosen Asylanträgen nach Albanien verlegen zu können. Damit sollen die Verfahren beschleunigt und illegal Einreisende ohne realen Asylgrund abgeschreckt werden, weil sich die Reise nach Italien nicht lohnt.
Und jetzt das. Kaum waren vergangene Woche die ersten 16 Migranten mit einem Kriegsschiff nach Albanien überführt, musste Rom sie gleich wieder nach Italien zurücknehmen. Ein italienisches Gericht hat dies am Freitagabend angeordnet – auf der Basis eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Oktober.
Es braucht die Rückeroberung der Asylpolitik
Viele europäische Medien berichteten am Wochenende nicht ohne Schadenfreude über den Flop. Was, so der Tenor, soll die kostspielige Zwängerei, die ja offensichtlich gegen europäisches Recht verstösst und bloss die rechtsnationale Klientel der Regierungsparteien mit nutzloser Symbolpolitik zufriedenstellen soll? Diese Sichtweise ist verbreitet, aber falsch.
Meloni hat mit ihrer Initiative den Unmut in der italienischen Bevölkerung über die unerwünschte Einwanderung aufgenommen. Das Albanien-Projekt ist der Versuch der Regierung, nicht einfach zu kapitulieren, sondern mit neuen Ansätzen die Kontrolle wiederzuerlangen. Und die rechtskonservative Ministerpräsidentin gibt nicht auf. Ihr Kabinett hat am Montagabend beschlossen, die Kompetenzen italienischer Gerichte durch ein Dekret einzuschränken.
Das ist zu begrüssen. In immer mehr Mitgliedländern sind jüngst Regierungen an die Macht gekommen, welche die Wünsche der Bevölkerung ernster nehmen: Sie wollen die Kontrolle über die Einwanderung und Niederlassung ausländischer Staatsbürger wiedererlangen. Die Niederlande und Polen kündigten an, das europäische Asylrecht zeitweise auszusetzen. Litauen legalisierte Pushbacks an der Grenze zu Weissrussland. Finnland nimmt praktisch keine Asylanträge an der russischen Grenze mehr an. Deutschland hat Grenzkontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raums eingeführt. Die letzte britische Regierung hat jahrelang versucht, den Missbrauch des Asylrechts durch illegal über den Ärmelkanal einreisende Personen zu bekämpfen, indem diese nach Rwanda deportiert werden sollten.
Überall stossen diese Regierungen auf Hürden, die ihnen die Justiz in den Weg stellt. Das europäische Asylrecht ist durch Gesetzgebung und Rechtsprechung auf unterschiedlichen Ebenen zu einem Dickicht herangewachsen, das den Staaten und Regierungen kaum mehr Handlungsspielräume ermöglicht. Und ständig kommen neue Urteile und Hindernisse hinzu, welche die Politik einschränken. Die Überstellung von 12 der 16 italienischen Migranten nach Albanien wurde von dem italienischen Gericht als unzulässig eingestuft, nachdem der EuGH im Oktober die Definition sicherer Herkunftsländer enger gefasst hatte. Das führte dazu, dass die für Albanien vorgesehenen beschleunigten Asylverfahren in diesen Fällen nicht umsetzbar sind.
Streiten ist besser als kapitulieren
Dass die italienische Regierung das anders sieht, spielt für die Richter keine Rolle. Fragwürdig ist auch ein am selben Tag publiziertes Urteil, in dem der EuGH einfach festlegte, dass Frauen aus Afghanistan grundsätzlich Anspruch auf Asyl haben, weil sie in der Heimat als Mitglieder der sozialen Gruppe Frauen generell der Gefahr von sexueller Diskriminierung oder Gewalt ausgesetzt sein könnten. Auch diese Ausweitung des Anspruchs auf politisches Asyl kann man anders sehen, doch die Mitgliedländer haben nichts dazu zu sagen.
Meloni sucht nun ihren Weg über Dekrete durchzusetzen, die erwartbar eine Eskalation juristischer Auseinandersetzungen nach sich ziehen werden. Das ist gut so, denn auf diesem Weg der Eskalation werden die Schmerzgrenzen der Asylpolitik ausgelotet. Von hier aus gibt es drei alternative Wege, von denen nur einer zu empfehlen ist. Erstens können bestimmte Rechtsnormen einfach nicht mehr durchgesetzt werden. Pushbacks an Osteuropas Aussengrenzen werden mittlerweile weitgehend als Tatsache hingenommen, obschon sie in vielen Fällen gegen den Buchstaben des europäischen Asylrechts verstossen.
Zweitens können sich Länder aus der europäischen Rechtsprechung durch einen Austritt verabschieden. Dazu war der Austritt Grossbritanniens aus der EU ein erster Schritt. Derzeit wird in der Konservativen Partei Grossbritanniens intensiv über den Austritt aus dem Europarat diskutiert, damit die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs in Strassburg die britische Asylpolitik nicht weiter einschränken kann.
Die dritte Variante ist ein partielles Zurückbuchstabieren des europäischen Asylrechts, das wieder an die Bedürfnisse der Mitgliedländer und ihrer Wähler angepasst werden muss. Diesen Königsweg sollten die EU und der Europarat beschreiten – im eigenen Interesse.