Nach den USA vollzieht auch Deutschland eine Kehrtwende. Bisher hatten sie aus Furcht vor Moskaus Nuklearpotenzial davon abgesehen. Doch der Angriff auf Charkiw beeinflusst das Kalkül des Westens.
Nach einigem Zögern haben die USA und Deutschland der Ukraine die Verwendung von westlichen Waffen gegen russisches Territorium erlaubt. Damit kann Kiew den Gegner nun auch ausserhalb seines Staatsgebiets entschiedener bekämpfen. Bisher hatte es seine modernsten Artillerie-, Raketen- und Luftverteidigungssysteme nur gegen Ziele im Donbass, in der Südukraine und auf der Krim einsetzen dürfen. All diese Regionen hat Moskau besetzt.
Die Entscheidung aus Washington und Berlin bedeutet eine dramatische Kehrtwende. Präsident Joe Biden hatte das Verbot eines Einsatzes amerikanischer Waffen gegen die Nuklearmacht Russland immer wieder als Mittel zur Vermeidung eines dritten Weltkriegs bezeichnet. Auch Deutschland fürchtete stets, solche Angriffe bärgen ein kaum kalkulierbares Eskalationsrisiko. Es war Russlands Angriff auf die Region Charkiw, der zum Umdenken führte.
Die Ukrainer können nun Charkiw verteidigen
Bevor Russland dort am 10. Mai eine neue Front eröffnete, hatten die Ukrainer wochenlang der gegnerischen Truppenkonzentration direkt an der Grenze zugeschaut. Ausser selbst entwickelten Drohnen standen ihnen aber keine Gegenmittel zur Verfügung. Als die Russen schliesslich einfielen, fiel diesen die Schaffung einer Pufferzone relativ leicht, da sie praktisch ungestraft von ihrem Staatsgebiet aus die Grenzregion bombardieren konnten. Sie setzten dafür nicht nur ihre Artillerie ein, sondern auch die gefürchteten Gleitbomben, die sie aus dem eigenen Luftraum abfeuerten – nicht zuletzt gegen die Metropole Charkiw. Sie töteten dort seit Jahresbeginn Dutzende von Zivilisten.
Als Folge baten die Ukrainer ihre Verbündeten vor drei Wochen um eine Lockerung der Restriktionen. Laut amerikanischen Medien begannen kurz darauf intensive Gespräche zwischen dem Weissen Haus und der amerikanischen Militärführung, die Druck auf Biden machte, seine Politik zu ändern. Zudem führten die Amerikaner Konsultationen mit den europäischen Nato-Mitgliedern durch, um sich abzustimmen.
Zumindest öffentlich machte Biden aber eher den Eindruck eines Getriebenen. Während das Weisse Haus das Verbot von Angriffen gegen russisches Territorium immer wieder bestärkte, sprachen sich in den letzten Tagen nicht weniger als zehn europäische Staaten für den Einsatz westlicher Waffen aus. Selbst Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz betonte das ukrainische Recht auf Selbstverteidigung.
Aus Washington hiess es am Donnerstag schliesslich, die Ukraine solle ausschliesslich militärische Ziele im Nachbarland angreifen, wenn von dort ein unmittelbarer Angriff drohe. Dabei darf sie moderne Raketenartillerie wie die deutschen Mars II oder die amerikanischen Himars nutzen, aber keine Langstreckenraketen des Typs Atacms. Laut Washington sollen die ausländischen Waffen nur der unmittelbaren Verteidigung dienen. Auch ist der Einsatz zumindest vorläufig auf die Umgebung der Region Charkiw beschränkt, eine Regelung, die auch Berlin übernommen hat.
Kampfjets und Marschflugkörper gegen Russland
Ob diese von Washington gezogenen Linien fix bleiben, ist zweifelhaft. Die westlichen Staaten lassen bei ihrer Interpretation jedenfalls einigen Spielraum. So zieht Russland gegenwärtig auch an der Grenze zur ukrainischen Oblast Sumi Truppen zusammen. Diese liegt neben Charkiw, doch die USA lassen offen, ob sie unter die Restriktionen fällt. Zudem hat Kiew laut der «Washington Post» auch die Erlaubnis erhalten, Patriot-Abwehrraketen gegen Kampfflugzeuge und Marschflugkörper über russischem Territorium einzusetzen.
Andere Staaten gehen noch weiter. So lässt Dänemark zu, dass die kurz vor der Lieferung stehenden F-16-Kampfjets russische Ziele beschiessen. Frankreichs Präsident Macron meinte, sein Land habe nichts dagegen, wenn von ihm gelieferte Waffen gegen Raketenstellungen in Russland eingesetzt würden. Grossbritannien hat die Restriktionen für die Verwendung seiner Marschflugkörper des Typs Storm Shadow ebenfalls aufgehoben. Somit können die Ukrainer auch ohne amerikanische Atacms Ziele bis zu 250 Kilometer im Landesinneren und damit zahlreiche wichtige Installationen treffen.
Good step in the right direction. Hopefully the lifting of the sanctuary around Kharkiv is the first in a series of changes to allow Ukraine to strike all substantial military targets supporting Russia’s invasion of Ukraine.
Many airfields & known military objects are in range. pic.twitter.com/m4gBa6I2Zz
— George Barros (@georgewbarros) May 30, 2024
Sofern die westlichen Länder liefern, bedeutet dies, dass Kiew nun erheblich grössere Möglichkeiten zur Verteidigung besitzt. So haben die meisten Gleitbomben eine Reichweite von 60 Kilometern, während Charkiw 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt.
Ein weiteres grosses Problem für die Ukrainer war, dass die Russen in der Region auch die Kampfdrohnen des Typs Lancet frei gegen Artilleriesysteme einsetzen konnten und den Verteidigern grosse Verluste zufügten. Nun können diese die Lancet-Abschussrampen wie in anderen Frontabschnitten mit Himars-Raketenwerfern bekämpfen.
Wie reagiert Russland?
Die grosse Unbekannte ist Russlands Reaktion. Moskau hat nach Erweiterungen der westlichen Militärhilfen für Kiew immer wieder mit dem nuklearen Säbel gerasselt, zuletzt vor zehn Tagen mit taktischen Übungen in unmittelbarer Nähe zur Ukraine. Am Dienstag mahnte Wladimir Putin, eine «konstante Eskalation» führe zu ernsthaften Konsequenzen. Am Freitag drohte der Hardliner und ehemalige Präsident Dmitri Medwedew Nato-Mitgliedern mit Atomschlägen.
Auch wenn die zunehmende Involvierung des Westens in den Ukraine-Krieg ein Eskalationsrisiko birgt, dürfte auch den Russen klar sein, dass eine nukleare Antwort keine Option darstellt. Zudem stellt sich die Frage, ob Moskau überhaupt einen Unterschied macht zwischen seinem legitimen Staatsgebiet und den völkerrechtswidrig annektierten Territorien, die es ganz selbstverständlich dazuzählt. Aus dieser Perspektive stellen die nun erfolgten Entscheidungen des Westens keine entscheidende Eskalation dar. Sie weiten aber das Kriegsgebiet zusätzlich aus – als Antwort auf Russlands Angriffe gegen Charkiw.