Mit ihren endlosen Sturmangriffen erringen die Russen nur kleine Gebietsgewinne. Sie setzen deshalb auf Zermürbung. Die Ukraine schlägt zurück – trotz widersprüchlichen Signalen aus den USA.
Flach ist die Landschaft östlich der umkämpften ukrainischen Kleinstadt Tschasiw Jar. Unerbittlich flach. Bei jedem Angriff rücken Russlands Panzer und Fusssoldaten kilometerweit über offene Felder vor, unter dem Auge feindlicher Drohnen. Videos zeigen das stets gleiche Resultat: Die Verteidiger zerstören ein Fahrzeug nach dem anderen. 1160 Stück haben die Russen laut einem Mitarbeiter der Analyseplattform Oryx seit Oktober an diesem Frontabschnitt verloren.
In den letzten Tagen hat Moskau die Attacken auf das strategisch bedeutsame Tschasiw Jar wieder verstärkt. Seine Truppen dringen immer wieder in Aussenbezirke vor, können diese aber bis anhin nicht halten. Doch die Ukrainer wissen aus bitterer Erfahrung in Bachmut und Awdijiwka, dass immer neue Wellen nachkommen. «Unsere Verteidiger halten die Stellung, aber sie sind sehr erschöpft», schreibt ein Veteran. Es ist ein Zustand, der auf viele ukrainische Truppen zutrifft.
Chasiv Yar, yesterday, a Russian mechanized column attempted to storm the eastern part of the city.
Ukrainian forces immediately spotted the column as it left Bakhmut, putting heavy ATGM, FPV, and artillery fire onto it as it crossed 3 miles of open ground. pic.twitter.com/t15UbnkGO4
— OSINTtechnical (@Osinttechnical) May 18, 2024
Die Ukrainer haben wieder Munition
Angesichts des Drucks durch Russlands Übermacht und ihrer eigenen Personalknappheit halten sich die Ukrainer dennoch erstaunlich gut. Zwar bleibt die Lage im Donbass gefährlich, doch sie hat sich jüngst etwas stabilisiert. So rückt der Angreifer nach einigen Geländegewinnen westlich von Awdijiwka kaum mehr vor. Manche Beobachter glauben, hier zeige sich endlich die verbesserte Versorgung Kiews mit Munition.
Auch der Präsident Selenski meinte am Freitag, erstmals seit Februar 2022 gebe es keine Beschwerden von Brigaden über knapp gewordene Artilleriegeschosse. Kämpfer in der Region Charkiw relativierten diese optimistische Aussage allerdings rasch: So bestätigte ein unter dem Pseudonym «Kriegsforscher» schreibender Marinesoldat zwar, dass seine Einheit über Munition verfüge. Die Russen hätten aber deutlich mehr. Der Kommandant einer Artillerieeinheit der 57. Mechanisierten Brigade bezifferte die feindliche Überlegenheit mit fünf zu eins.
Seine Truppe gehört zu jenen, die nach Wowtschansk im Norden von Charkiw verlegt wurde, um den jüngsten russischen Einfall dort zu stoppen. Die Kleinstadt bleibt umkämpft, doch die Ukrainer halten sie trotz Versorgungsproblemen weiter. Wie heftig die Schlacht tobt, zeigte sich jüngst, als die Ukrainer das aufgegebene Stadtspital bombardierten, das die Russen laut Angaben aus Kiew zu ihrer temporären Basis gemacht hatten.
💥 Ukrainian Air Force bombed Russian fascists who occupied the main hospital building in Vovchansk – a village Russians recently took on the border in Kharkiv region. pic.twitter.com/tAVcD5LJM5
— Igor Sushko (@igorsushko) May 18, 2024
Die Angreifer halten an der Grenze einen wenige Kilometer breiten Streifen, den sie momentan kaum mehr vergrössern. Ganz zurückdrängen können die Ukrainer die Russen allerdings nicht, weil deren Luftwaffe und Artillerie vom eigenen Staatsgebiet fast ungestört feuern kann. Ihre Truppen können sich auch jederzeit vorübergehend zurückziehen, wenn sie unter zu grossen Druck geraten.
Kiew hatte den Aufmarsch vor dem Angriff auf Charkiw zwar verfolgt und warnt nun vor weiteren Truppenkonzentrationen in anderen Grenzgebieten. Die Verteidiger dürfen dort aber keine modernen westlichen Waffen einsetzen: Das Weisse Haus bestätigte am Freitag, «dass wir den Einsatz von US-Waffensystemen innerhalb Russlands weder ermutigen noch ermöglichen».
Russlands tödliche Angriffe gegen Charkiw
Verwenden dürfen sie diese immerhin gegen Ziele in den besetzten Gebieten, auf der Halbinsel Krim und im Donbass. Nach einer Reihe von Schlägen, denen ein modernes S-400-Luftverteidigungssystem und vier Kampfjets zum Opfer gefallen waren, meldete Kiew am Wochenende auch einen erfolgreichen Atacms-Angriff auf ein Kriegsschiff. Eine Bestätigung liegt bis anhin nicht vor. Mit selbstentwickelten Drohnen attackiert die Ukraine gleichzeitig regelmässig Raffinerien in Russland – sehr zum Missfallen der amerikanischen Regierung, die in einem Wahljahr keine höheren Benzinpreise wünscht.
Für Kiew manifestiert sich in solcher Kritik die ganze Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit der westlichen Kriegsziele. Die Attacken gegen Russlands Energiesektor sind für die Ukrainer aber eine Möglichkeit, den Preis des Krieges für den Gegner in die Höhe zu treiben. Sie selbst zahlen ihn seit bald 27 Monaten, besonders in Charkiw und der Umgebung der zweitgrössten Stadt des Landes. Russische Raketen- und Luftangriffe töteten allein am Wochenende elf Menschen.
Unter den mehr als drei Dutzend Verwundeten waren auch mehrere Rettungskräfte: Moskau setzte erneut die in Syrien perfektionierte und besonders perfide Strategie des «double tap» ein, bei dem eine zweite Rakete auf ein Ziel abgeschossen wird, sobald Polizisten und Feuerwehrleute vor Ort sind; dies mit dem Ziel, die Opferzahl zu maximieren. Die Regionalbehörden erklärten den Montag deshalb zum Tag der Trauer.
Die Grenznähe der Oblast Charkiw verunmöglicht praktisch einen vollständigen Schutz, da die Raketen innert Sekunden einschlagen. Dennoch forderte Selenski erneut zusätzliche Patriot-Systeme zur Luftverteidigung. Diese funktionieren in der Hauptstadt Kiew sehr gut, sind aber in so geringer Zahl vorhanden, dass viele andere Teile des ukrainischen Luftraums wenig geschützt sind.
Seit Frühlingsanfang haben Putins Generäle ihre Kampagne zur Zerbombung der zivilen Infrastruktur mit neuer Entschlossenheit wieder aufgenommen. Der CEO des ukrainischen Stromnetzbetreibers Dtek beklagte in einer Telefonkonferenz mit Journalisten Schäden von umgerechnet einer Milliarde Dollar allein durch die Angriffe der letzten drei Wochen. «Statt der Übertragungsnetze nehmen sie nun vor allem unsere Wärmekraftwerke ins Visier», erklärte Maxim Timtschenko. Die Stromproduktion von Dtek sei von 5000 auf 600 Megawatt gesunken.
Zu wenig Strom für die Ukraine
Diese dramatische Situation bedeutet für die Ukraine, dass sie viel vergleichsweise teuren Strom aus europäischen Ländern importieren muss. Da die Übertragungskapazitäten begrenzt sind, werden die Menschen im Land dennoch über Monate mit einem erheblichen Strommangel leben müssen.
Die Behörden müssen nun Teile ihres Netzes regelmässig abschalten, da nicht genug Energie vorhanden ist. Dass nach dem Ende der Heizsaison niemand mehr erfrieren wird, ist ein schwacher Trost, zumal nichts darauf hindeutet, dass die Russen ihre Angriffe gegen die Infrastruktur bald einstellen. Mit den neuen Waffenlieferungen aus dem Westen rückt ein russischer Sieg an der Front in noch weitere Ferne. Das motiviert Moskau umso mehr, die Ukrainer durch die Zerstörung der Wirtschaftsbasis und die Demoralisierung der Bevölkerung zu zermürben.